Welchen Wert haben Verfassungsgerichtsurteile, wenn sie selbst von der Justiz ignoriert werden? Diese Fundamentalfrage an den demokratischen Rechtsstaat markierte das nachdenkliche Ende einer Veranstaltung des AK der säkularen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Düsseldorf zum weltanschaulich neutralen Staat und seiner Justiz.
Ausgangspunkt des Vortrags von Dr. Ralf Feldmann, Richter i.R. aus Bochum, war die "Causa Heusch": Vor 28 Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht den sogenannten "Kruzifixbeschluss" gefasst. Und obwohl das höchste deutsche Gericht darin schon 1995 die Verfassungswidrigkeit von Kreuzen in öffentlichen Räumen des Staates festgestellt hatte, verstößt das Verwaltungsgericht Düsseldorf nunmehr seit 13 Jahren dagegen.
Zu Beginn seiner Amtszeit ließ der Präsident des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts Andreas Heusch im Jahre 2010 am Tag der deutschen Einheit im Haupttreppenhaus des Gebäudes ein Kreuz anbringen: Eine andauernde Missachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung, die bislang allerdings ohne Konsequenzen geblieben ist.
Neutralität des Staates gegenüber den unterschiedlichen Weltanschauungen und Religionen ist ein fundamentales Prinzip unseres Grundgesetzes. Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft stellt die Neutralität des Staates in religiösen und Weltanschauungsfragen eine wesentliche Grundlage für die friedliche Koexistenz aller Menschen dar.
Das Düsseldorfer Verwaltungsgericht beruft sich im Zusammenhang mit diesem Affront mittlerweile auf das Hausrecht des Behördenleiters, was als Rechtsgrundlage, so Feldmann, jedoch völlig ausscheide.
Der Widerstand in Justiz und Gesellschaft gegen das Urteil von 1995 blieb in Nordrhein-Westfalen aber nicht nur in Düsseldorf bestehen. Besonders in Gebieten mit überwiegend katholischer Bevölkerungsmehrheit wie im Sauerland und Münsterland, in Paderborn und am Niederrhein sind Gerichtssäle in Amts- und Landgerichten auch 28 Jahre nach dem Kruzifixbeschluss immer noch mit Kreuzen bestückt.
Die verfassungsrechtliche Entgleisung am Verwaltungsgericht Düsseldorf habe, so der Referent, im Vergleich mit dem Bayerischen Kreuzerlass zwar nur kleines Format, was aber häufig übersehen werde, so Feldmann, sei folgendes: Es handelt sich in diesen Fällen nicht nur um die Demonstration von "Glaubensdominanz von Staatsakteuren mit staatlichen Mitteln gegen Nichtgläubige und verletze deshalb Glaubensfreiheit und Gleichheitssatz", sondern mit der Werbung für die eigene Religion gehe "zugleich die Verletzung der politischen Chancengleichheit von Menschen anderer Weltanschauung im demokratischen Willensbildungsprozess" einher.
Das Kreuz als religiöses oder auch nur kulturelles Symbol werbe für die mit ihm verbundenen christlichen Ideologen mit Blick auf Staat und Gesellschaft, die allerdings nicht immer grundgesetzkonform seien. Das Kreuz, so Feldmann, repräsentiere eine Weltanschauung, die "historisch und aktuell die Probe auf die Grund- und Menschenrechte nicht besteht".
Über die Fragen "Wie kommt es, dass Teile der Politik über Parteigrenzen hinweg – aber auch Akteure der Justiz – die Letztentscheidungskompetenz des Verfassungsgerichts nicht anerkennen und sich damit über das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung hinwegsetzen?" und "Warum fiel und fällt es den Angehörigen der juristischen Berufe und ihren Organisationen so schwer, für weltanschauliche Neutralität im Erscheinungsbild der Gerichte und damit für unsere Verfassung aktiv einzutreten?" wurde in der Runde intensiv diskutiert, ohne jedoch zu einer abschließenden Beantwortung zu gelangen.
Die Missachtung des Grundgesetzes und des Verfassungsgerichts wurde bislang seitens der Landesregierung – egal welcher Couleur – nicht nur akzeptiert, sondern im Falle des Düsseldorfer Präsidenten des Verwaltungsgerichts sogar mit der Wahl zum Vizepräsidenten des Landesverfassungsgerichts belohnt. Die Wahl zum Präsidenten des OVG in Münster wurde vor zwei Jahren allerdings durch die SPD im Landtag von NRW verhindert. Dazu beigetragen hatte ganz maßgeblich eine Petition des Referenten.
An diesem Punkt lenkte der ehemalige Richter am Amtsgericht seinen Vortrag zu den tagesaktuellen Berichten über die jüngsten Geschehnisse rund um die Besetzung der Präsidentschaft des Oberverwaltungsgerichts von NRW in Münster (der hpd berichtete).
NRW-Justizminister Limbach favorisiert Katharina Jestaedt für die Rolle der neuen Präsidentin nach mittlerweile über zweijähriger Vakanz der Position. Ein Beschluss des Verwaltungsgerichts in Münster hatte dem Land NRW jedoch Ende September die Besetzung der Stelle mit Frau Jestaedt untersagt aufgrund gravierender Unregelmäßigkeiten im Bewerbungsverfahren.
Auch ein Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 17. Oktober hat nun entschieden, dass die Präsidentenstelle beim Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in Münster vorerst weiterhin nicht besetzt werden kann.
Frau Jestaedt habe, so führte der Referent weiter aus, zwar wenig richterliche Erfahrung am Oberverwaltungsgericht oder im Gerichtsmanagement, war aber von 2011 bis 2020 als Ministerialrätin des Landesjustizministeriums dem Katholischen Büro beim Kommissariat der Deutschen Bischöfe zugewiesen und führte als stellvertretende Leiterin neun Jahre das Katholische Büro in Berlin: Sie sei insofern eine erfahrene "Cheflobbyistin des deutschen Katholizismus".
Durch die beamtenrechtliche Zuweisung behielt sie auch als Angestellte der Kirchen ihren Beamtenstatus. Diese Zuweisung hätte aber nur erfolgen dürfen, wenn dafür ein dienstliches oder öffentliches Interesse bestanden hätte – dies sei die gesetzliche Voraussetzung.
Was aber spricht eigentlich dafür, fragte er in die Runde, dass der weltanschaulich neutrale Staat ein legitimes Interesse daran haben könnte, einer Kirche für ihre Lobbyarbeit mit einer Beamtin auszuhelfen?
Diese langjährige gemeinsame Umgehung des Beamtenrechts im Interesse der Kirche erwecke grundsätzliche Zweifel an der Qualifikation zur OVG-Präsidentin, so die Einschätzung des ehemaligen Richters.
Mit konfessionell bestimmter politischer Protektion – so Feldmann – solle eine mit der katholischen Kirche eng vernetzte Bewerberin das nicht zuletzt personalpolitisch einflussreiche Amt einer OVG-Präsidentin erobern, für das weltanschauliche Neutralität eine Grundvoraussetzung sei.
Doch zurück zur eingangs formulierten "Kardinalfrage". Die Antwort des Referenten ließ das Plenum nachdenklich zurück: Wenn wir nicht bereit seien, das hinzunehmen, was das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsrecht erkennt, so Feldmann, dann befänden wir uns auf dem Weg, den beispielsweise Polen oder Ungarn beschritten haben.
Ein verstörender Gedanke, der nicht nur den Juristen Feldmann weiterhin umtreibt.