Hehre Lichtgestalt und mutiger Reformator oder skrupelloser Antisemit und Menschenverächter?

Luthers "Von den Juden und ihren Lügen"

BERLIN. (hpd) Vor fast 500 Jahren, am 31. Oktober 1517 schlug Luther der Legende nach seine 95 Thesen gegen den Missbrauch des Ablasshandels an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg und leitete damit letztlich die Spaltung der Kirche ein. Im Jahr 2017 feiert die Lutherstadt Wittenberg das Reformationsjubiläum mit vielen vorauseilenden kirchlichen und kulturellen Veranstaltungen. Die Feierlichkeiten gelten der theologischen, kulturgeschichtlichen und politischen Würdigung ihres großen Sohnes. Ob Luthers dunkle Seiten anlässlich der geplanten Jubelfeierlichkeiten zur Sprache kommen werden?

Sicherlich wird zu Recht Luthers kulturgeschichtliche Bedeutung, die durch Bibelübersetzung und große innerkirchliche Veränderung gekennzeichnet wird, gewürdigt. Seine antijüdischen Schriften und die frauenfeindlichen und sonstigen menschenverachtenden Äußerungen der letzten fünfzehn Jahre seines Lebens wurden aber bisher in Rundfunk, Fernsehen, Film und Zeitungen geradezu systematisch verschwiegen. Bezeichnend für diese einseitige Sicht war der von kirchlichen Kreisen initiierte und geförderte Film "Luther". Es handelte sich dabei schlicht um einen Propagandafilm. Luthers dezidierter Antisemitismus, seine Frauenfeindlichkeit, sein Abscheu gegenüber missgebildeten Kindern, die er zu töten empfahl, seine Menschenverachtung, wie sie sich zum Beispiel gegenüber den damals aufständischen Bauern äußerte, wurden mit keiner Silbe erwähnt.

Ob Luthers dunkle Seiten anlässlich der geplanten Jubelfeierlichkeiten zur Sprache kommen werden? Seine judenfeindliche Haltung jedenfalls bildet eine schwere Hypothek. In interessierten Kreisen ist Luthers Antisemitismus nicht unbekannt, breiten Kreisen der Bevölkerung, die hier in großer Ahnungslosigkeit einem Mann huldigt, fehlt es an diesen Informationen.

Luthers Antisemitismus kommt ausführlich und besonders deutlich in seinem etwa 150-seitigen Buch "Von den Jüden und iren Lügen", um das es hier geht, zum Ausdruck. Man wird diese Schrift in öffentlichen Bibliotheken kaum finden. Sie wäre aufgrund Luthers Sprache für uns auch schwer verständlich. Von daher ist die Arbeit der Herausgeber Büchner, Kammermeier, Schlotz und Zwilling sehr anzuerkennen, die eine Übertragung in heutiges Deutsch vorgenommen haben. Der Aufbau des Buches und die Anordnung der Texte erfolgten sehr überlegt und leserfreundlich, indem dem linksseitig angeordneten Originaltext die Übersetzung in verständlichem Deutsch rechtsseitig gegenübergestellt wurde. Sehr hilfreich zum Verständnis sind das Glossar und die erklärenden Anmerkungen. Diese helfen, den Luther-Text auch in seinen theologischen Zusammenhängen zu verstehen und zu deuten.

Wer diesen Text zum ersten Mal liest, dem wird der Atem stocken. Luther empfiehlt hier u.a. detailliert, was das nationalsozialistische Regime fünfhundert Jahre später tatsächlich ausführte. Luther will seinen "treuen Rath" geben und schlägt gegen die "verbösten" und "vergifteten" Juden vor, "daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke", "daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre", "daß man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten", "daß man ihren Rabbinen bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren", "daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe", "daß man ihnen den Wucher verbiete, … und nehme ihnen alle Baarschaft und Kleinod an Silber und Gold", schließlich "daß man den jungen starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brod verdienen im Schweiß der Nasen".

Kann man heute noch einen Menschen feiern und verehren, der die hier zitierten – neben vielen anderen, höchst fragwürdigen – Äußerungen von sich gab? Nicht ohne Grund stand Luther bei Hitler in hohem Ansehen. Nach unserem heutigen Verständnis würde Luther heute als Theologe und Politiker gesellschaftlich geächtet und als Volksverhetzer angeklagt werden.

Aus dem Buchtext wird deutlich, wie eng sich Luther an den Bibeltexten orientierte, heute würde man seine Interpretationen wohl als kreationistisch bezeichnen. Auch spricht er immer wieder ohne den geringsten Zweifel von den vielen Wundern, die Jesus vollbracht habe. Sein ganzes gottergebenes, bibeltreues Denken offenbart sich hier. Ich denke, dass es für die interessierte Öffentlichkeit, die ja nicht nur aus Theologen besteht, wichtig ist zu erfahren, was und wie dieser Mann wirklich gedacht hat. Seine Verachtung und sein Hass auf die Juden ist geradezu krankhaft zu nennen. Um seinen Abscheu diesen Menschen gegenüber noch zusätzlich zum Ausdruck zu bringen, lässt er keine noch so verächtliche Bezeichnung aus.

Aus mindestens zwei Gründen ist die ins Hochdeutsche übersetzte Fassung sehr zu begrüßen:
1. Angesichts der bevorstehenden Lutherfeiern sollte der Öffentlichkeit noch viel mehr als bisher bekannt gemacht werden, wie massiv und detailliert ausgeführt Luthers Hass auf die Juden war.
2. Das Original, auch spätere, leichter lesbare Fassungen sind – die Kirche hat wohl dafür gesorgt – in den Bibliotheken praktisch nicht zu finden. Falls ausnahmsweise doch, dann in Luthers Sprache verfasst und in damaliger Schrift und Ausdrucksweise nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Die vorliegende Neuausgabe füllt erfreulicherweise diese Lücke und vervollständigt das Bild dieser Persönlichkeit um seine höchst fragwürdigen Seiten.

Die Herausgabe dieses Textes in umgangssprachlichem Deutsch, der das Denken Luthers besonders verständlich wiedergibt, kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Öffentlichkeit wird ein Mann vorgeführt in seinem eigentlich schlichten Denken, mit zwar imponierenden Bibelkenntnissen, die von ihm aber so naiv gedeutet und als geschichtliche Wahrheiten genommen werden, wie das kaum ein heutiger Theologe noch tun würde. Insofern erlebt man als Leser bei der Lektüre die Diskrepanz zwischen seiner bis heute anhaltenden Wertschätzung und seiner tatsächlichen Einstellung und Gesinnung. Liest man seine sich immer wiederholenden Tiraden gegen "die" oder "den" Juden, dann kann man sich gut vorstellen, wie er heute gegen andere Religionen, Humanisten, Konfessionsfreie oder gar Atheisten polemisieren, ja hetzen würde.

Rechtfertigt Luthers kultureller Beitrag zur deutschen Sprache und die Loslösung von einem korrupten Papstregime diese bisher so einseitige Sicht auf ihn? Bischöfin Käßmann bezeichnete Luthers Judenhass bagatellisierend als "überzogen". Bischof Huber sprach verharmlosend von Luthers "beschämenden Aussagen zu den Juden". Man fragt sich, wie können die Veranstalter dieses Luther-Jubiläums und die mitjubelnden Politiker eingedenk des Holocausts guten Gewissens diesen Mann so feiern? Müsste nicht, wie bei anderen historischen Größen auch, Luthers heutige Bedeutung für uns nach heutigen Maßstäben beurteilt werden? Muss man Luther nicht eigentlich als einen der geistigen Vorväter einer rassistischen Ideologie bezeichnen?

Es wird höchste Zeit, der Öffentlichkeit ein realistisches und ehrliches Bild von Martin Luther zu präsentieren. Zum Gesamtbild dieser historischen Figur gehören sein Antisemitismus, seine Frauenverachtung, sein Abscheu gegenüber den unterdrückten Bauern, sein absolutes Obrigkeitsdenken, seine oft polemischen Ausfälle gegen Menschen, die nicht seinen Erwartungen entsprachen. Ein Großteil der Gedanken Luthers widerspricht unserem heutigen, an den Menschenrechten orientierten normativen Konzept. Der "gute" Luther lässt sich nicht von dem »bösen« trennen. Luther muss als Gesamtpersönlichkeit gesehen werden. Das weiß die Evangelische Kirche, schließlich setzt man sich abseits der Öffentlichkeit mit Luthers dunklen Seiten sehr wohl auseinander. Würden die kirchlichen Repräsentanten redlich und konsequent handeln, desavouierten und demontierten sie allerdings ihren Religionsstifter.

Es ist das Verdienst der Übersetzer und Interpreten dieser Schrift, der Öffentlichkeit, den feiernden Politikern und der einseitig informierten Bevölkerung ein wichtiges Stück Aufklärung geliefert zu haben. Ob die Botschaft tatsächlich ankommt, ist bei der "Schwerhörigkeit" der Kirchen, der Politiker, auch des Großteils der Medien aber mehr als ungewiss. Käme eine solche Neubewertung Luthers doch einem religiösen Kulturbruch gleich.

Karl-Heinz Büchner/Bernd P. Kammermeier/Reinhold Schlotz/Robert Zwilling (Hrsg.), Martin Luther. Von den Juden und ihren Lügen. Erstmals in heutigem Deutsch mit Originaltext und Begriffserläuterungen, Aschaffenburg 2016 (Alibri-Verlag), 347 S., 20,00 Euro

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