Die Mär vom sozialen Kahlschlag durch Kirchenaustritte

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Die Kirchen in Deutschland und Österreich befürchten für die Zukunft einen Rückgang bei den Einnahmen aus Kirchensteuer (Deutschland) oder Kirchenbeitrag (Österreich) – auch wenn diese bis zuletzt in beiden Ländern gestiegen sind. Dies wiederum veranlasst sie und ihre unterinformierten Sprachrohre in den Medien, mit dem Entfall von sozialen Leistungen an die Allgemeinheit zu drohen. Dies ist falsch. Die Öffentlichkeit profitiert auch finanziell von Kirchenaustritten, und es ist eine politische Aufgabe, die frei werdenden Mittel in bessere, weil von den Kirchen unabhängige soziale Einrichtungen zu stecken.

Die rasche Säkularisierung der Gesellschaft führt in Deutschland und Österreich zu Rekorden bei den Kirchenaustrittszahlen. Dies wirft einen Schatten voraus: Irgendwann in den nächsten Jahren werden auch die Einnahmen aus Kirchenbeitrag und -steuer nicht mehr wachsen. Bisher sind die Einnahmen trotz vieler Austritte noch nicht zurückgegangen: Es treten vor allem junge Menschen aus, die weniger verdienen; durch ältere Besserverdienende wurde das bisher kompensiert, von denen nicht so viele austreten.

Die Diözesen und Landeskirchen machen sich natürlich Gedanken über die Zukunft mit weniger Mitteln. Sie erklären, dass sie erst einmal ihre Kernaufgaben (Pfarren, "Seelsorge", Gebäude usw.) finanzieren müssen, und deswegen gezwungen sein werden, bei den "vielen" sozialen Aufgaben, die sie für die Gesellschaft übernehmen, zu sparen: Bei Kindergärten, Schulen, Altersheimen und anderen Einrichtungen, denen sie gerne ihren Stempel aufdrücken, ohne den größeren Teil der Kosten zu tragen.

Kirchensteuer-Steuer

Bei viel zu einfacher Betrachtung (also wenn man nicht weiß, wie Steuern funktionieren) wäre das ein plausibles Szenario. Die Kirche, die einen gewissen Betrag zum Betrieb einer Einrichtung zugeschossen hat, um dort die Mitarbeitenden diskriminieren und zum Beispiel Kinder indoktrinieren zu können, "müsste" damit aufhören. Die Gemeinde oder der Staat, die den Großteil der Kosten getragen haben, müssten in Zukunft noch mehr zahlen. Und wir wissen ja alle, wie angespannt die Budgets der öffentlichen Hand sind, das geht ja gar nicht. Soweit die viel zu simple Rechnung.

In der Realität haben die Kirchensteuerzahlungen drei Beteiligte: Die zahlende Person, die Kirche und den Staat.

Beim Austritt erspart sich die zahlende Person Kirchensteuer oder -beitrag. Dieses Geld kann sie so ausgeben, wie sie möchte – etwa auch für Spenden oder andere soziale Zwecke, also beispielsweise den Kindergarten. Dahinter steht aber keine bekannte Systematik, daher betrachten wir es hier nicht.

Die Beträge, die die Kirche erhält, sind verringert um die Kosten zur Eintreibung: In Deutschland um einen gewissen Anteil der Steuerzahlung, der an den Staat geht; in Österreich um die Kosten des Betriebs der Kirchenbeitragsstellen.

Beim Staat wird es interessant. Sowohl Deutschland als auch Österreich ermöglichen das Absetzen der gezahlten Kirchensteuer oder -beiträge von der Einkommenssteuer (in Österreich nur bei Pflichtbeiträgen, eine klare Diskriminierung jener Religionsgesellschaften, die keine Pflichtbeiträge erheben). Das ist eine mögliche Steuereinnahme, die dem Staat entgeht. Der Austritt bewirkt also, dass nicht nur die austretende Person, sondern auch der Staat mehr Geld hat. Die Frage ist also nur, ob das reicht, um die vielbeschworenen "sozialen Leistungen" der Kirchen zu kompensieren.

Deutschland

Die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) weist die Kirchensteuereinnahmen und unter Subventionierung der Kirchensteuer auch die Mindereinnahmen des Staates genau aus.

Im Jahr 2022 betrug das Kirchensteueraufkommen in Deutschland 13,09 Milliarden Euro, ein neuer Rekord. 6,8 Milliarden gingen an die römisch-katholischen Bistümer, 6,2 Milliarden an die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Davon kassiert der Staat zwischen 2 und 4 Prozent für die Administrationskosten der Steuereintreibung für die Kirchen – ein weltweites Unikat, dass das ein Staat übernimmt, und in Deutschland sehr unbeliebt. fowid führt im Subventionierungs-Beitrag aus, dass das im Vergleich mit anderen Ländern für die deutschen Großkirchen ein enorm günstiges Verfahren ist, aber das soll uns hier nicht beschäftigen.

Interessant ist der Einnahmen-Entgang durch die steuerliche Absetzbarkeit der Kirchensteuer. Dieser betrug im Jahr 2022 4,06 Milliarden Euro. Das entspricht 31 Prozent der Kirchensteuereinnahmen. (Die ca. 3 Prozent für die Administration fallen auf beiden Seiten der Division an, sie spielen hier also keine Rolle.)

Die Frage ist also, ob die Kirchen mehr oder weniger als 31 Prozent ihrer Einnahmen aus der Kirchensteuer (ihrer mit Abstand größten Einnahmequelle) für soziale Zwecke ausgeben oder nicht. Wenn es weniger ist, dann hat die Gesellschaft mit jedem Kirchenaustritt mehr Mittel für ebendiese Zwecke.

Die Kirchen müssen im Gegensatz zu vergleichbar großen Organisationen keine Bilanzen oder Einnahmen-Ausgaben-Rechnungen veröffentlichen. Was von ihnen kommt, ist also meistens nur ein Überblick, aufgeteilt in große Kategorien, die nicht genau zwischen den Zwecken der Kirche (Eigennutz und Missionierung) und den tatsächlichen Leistungen für die Gesamtgesellschaft trennen.

EKD

Bei der EKD gibt es eine FAQ-Seite, die eine Broschüre "Werte mit Wirkung – Einblicke in die Finanzstatistik der evangelischen Kirche" aus dem Jahr 2017 – mit Zahlen aus 2014 – verlinkt. Darin finden sich folgende Positionen, die zumindest teilweise als säkulare Leistungen an die Gesellschaft gewertet werden können, also nicht nur der Kirche selbst und ihren Mitgliedern zugute kommen: Kindertagesstätten, Bildungsarbeit, Unterstützung diakonischer Arbeit.

Für Kindertagesstätten wurden 2,8 Milliarden Euro (oder laut FAQ-Seite 3 Mrd.) ausgegeben, die öffentliche Hand zahlt davon 2,2 Milliarden. Die Elternbeiträge sind in der Broschüre nicht gesondert ausgewiesen, aber die FAQ-Seite erklärt, dass sie 481 Millionen Euro betrugen, insgesamt hätten die Kirchen also selbst circa 300 Millionen Euro für die Kindertagesstätten aufgewendet. Das entspricht 11,9 Prozent der damaligen Kirchensteuereinnahmen.

Die "Bildungsarbeit" könnte Ausgaben für säkulare Bildung beinhalten, aber die Erwartung bei einer Kirche ist, dass sie damit bevorzugt ihre Art von religiöser "Bildung" verbreitet, zum Beispiel konfessionellen Religionsunterricht betreibt. Setzen wir hier großzügig die Hälfte an – das entspräche 288 Millionen Euro (Ausgaben: 746 Millionen, Einnahmen: 171 Millionen €), also 5,4 Prozent der Kirchensteuereinnahmen.

Die "Unterstützung diakonischer Arbeit" kostet 419 Millionen Euro. Dies beinhaltet wohl auch die Mitfinanzierung von Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Setzen wir das auch zur Hälfte an, weil wir keine weiteren Details kennen (die Kirche kann sie gerne liefern), und weil die öffentliche Hand insgesamt 824 Millionen "weitere Mittel" und "übrige Fördermittel" zuschießt, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für die Unterstützung dieser Aufgaben. Damit kommen wir auf 209,5 Millionen Euro, das entspricht 4 Prozent der Kirchensteuereinnahmen.

Bei sehr zu Gunsten der EKD wohlwollender Betrachtung sehen wir also, dass maximal 21,3 Prozent der Kirchenbeitragseinnahmen für die genannten Zwecke – Dienste für die Öffentlichkeit – aufgewendet werden. Also deutlich unter den 31 Prozent, die die steuerliche Absetzung des Kirchenbeitrags die Allgemeinheit kostet. Für die EKD lautet die Antwort: Wer austritt, macht damit fast um die Hälfte mehr Mittel für öffentliche Aufgaben frei.

Römisch-katholische Kirche

Die einzelnen Bistümer publizieren mehr oder weniger detaillierte Zahlen – alle nach einem anderen Schema. Das macht die Zuordnung der Beträge ziemlich aufwändig. Hier folgen beispielhaft Zahlen aus einigen Bistümern.

Aachen: 10 Prozent Kindertagesstätten, 10 Prozent "schulische Bildung und Hochschule", 7 Prozent Jugend- und Erwachsenenbildung, 7 Prozent Caritas. Mit der für die EKD angewendeten Methode (Kindertagesstätten voll, die anderen Bereiche zur Hälfte ansetzen) kommen wir auf maximal 22 Prozent der Einnahmen für öffentliche Zwecke.

Essen: Kindertageseinrichtungen 7 Prozent, Schule 20 Prozent, Karitative Aufgaben 5 Prozent, Bildung 3 Prozent, das ergibt maximal 21 Prozent.

Köln: Bildung 13 Prozent, Kindertagesstätten 6 Prozent, Caritas 10 Prozent. Das ergibt maximal 17,5 Prozent für öffentliche Zwecke.

München-Freising: Hier umfasst der Bereich Bildung sowohl die Schulen als auch die Kindertagesstätten, die übliche Korrektur (Hälfte der "Bildung") ist nicht einfach möglich. Dies entspricht insgesamt 18 Prozent der Kirchensteuereinnahmen. Dazu kommen 3 Prozent für Caritas (Seite 44). Auch hier ergibt die Rechnung also maximal 21 Prozent für öffentliche Zwecke.

Fazit für Deutschland

In keinem Bereich (EKD, verschiedene Bistümer) konnte ein Anteil von mehr als 22 Prozent der Kirchensteuereinnahmen für die viel diskutierten Leistungen an die Öffentlichkeit gefunden werden. Die Ausgaben der Kirchen für diese Zwecke bleiben also überall deutlich unter dem Anteil, den der Staat an Mehreinnahmen hat, wenn Kirchensteuerzahlungen durch Austritte entfallen.

Österreich

Für Österreich können wir nur die römisch-katholische Kirche betrachten. Zu ihr gehören noch für etwa anderthalb bis zwei Jahre mehr als die Hälfte der BewohnerInnen Österreichs – danach ist sie auch keine Kirche mit Bevölkerungsmehrheit mehr. Die evangelischen Kirchen, mit einem Bevölkerungsanteil unter 3 Prozent, publizieren keine finanziellen Informationen.

Die Einnahmen der römisch-katholischen Kirche aus dem vorgeschriebenen Kirchenbeitrag betrugen im Jahr 2021 etwa 498 Millionen Euro. Die entgangenen Steuereinnahmen durch die Absetzbarkeit des Kirchenbeitrags (bis 400 €) werden, anders als in Deutschland, nicht regelmäßig ausgewiesen. Aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung erhalten wir aber die Zahlen für 2018, als die im Jahr 2017 bezahlten Kirchenbeiträge von der Steuer abgesetzt wurden. Auf Kirchenbeitragseinnahmen von 459,8 Millionen Euro im Jahr 2017 entfallen 124,2 Millionen Euro Steuerentgang im folgenden Jahr, das entspricht 27 Prozent. Rechnen wir zur Sicherheit mit 25 Prozent, um auch die evangelischen Kirchen und andere kleinere Religionsgemeinschaften mit Pflichtbeiträgen zu berücksichtigen, die ja auch in der Summe der abgesetzten Beiträge enthalten sind.

Bei den Ausgaben erhalten wir aus öffentlichen Quellen sehr wenige Informationen. Am ehesten ist noch der Rechenschaftsbericht für die thematische Zuordnung der Ausgaben verwendbar.

Die Kategorie "Bildung, Kunst und Kultur" mit 74,4 Millionen Euro können wir hier wie üblich halb ansetzen, das entspricht 8,1 Prozent der Kirchenbeitragseinnahmen. "Soziale & Caritative Aufgaben" voll angesetzt ergeben 3,1 Prozent der Einnahmen. Das wären zusammen 11,2 Prozent, also deutlich weniger als in Deutschland. Nehmen wir weiter an, dass circa 10 Prozent der Ausgaben für "Pfarren" (der größte Posten) auch noch für soziale Zwecke wie den Kindergarten aufgewendet werden, dann kommen noch 6,1 Prozent der Kirchenbeitragseinnahmen dazu, insgesamt also 17,3 Prozent für soziale Zwecke. Das bewegt sich in einer ähnlichen Größenordnung wie bei der römisch-katholischen Kirche in Deutschland und wieder deutlich unter dem Steuerentgang der öffentlichen Hand durch die Kirchenbeiträge.

Austritte befreien Mittel

Unter zugunsten den Kirchen sehr großzügigen Annahmen wurde der Anteil der Kirchensteuer- oder Kirchenbeitragseinnahmen an sozialen Zwecken für die Öffentlichkeit in Deutschland und Österreich berechnet. In allen betrachteten Fällen war die Summe der Aufwendungen der Kirchen für diese Zwecke deutlich unter dem Betrag, der dem Staat durch die steuerliche Absetzung der Kirchensteuer entgeht.

Dies ist keine theoretische Berechnung. Das Geld kommt mit den etwas höheren Steuern, die die ausgetretenen Menschen bezahlen, beim Staat tatsächlich an, seit geraumer Zeit. Jeder Kirchenaustritt befreit Geld in der Geldbörse der ehemaligen Mitglieder, ein kleiner Teil davon geht als höhere Steuereinnahmen an den Staat. Alle, die den Kirchenaustritt wegen der "sozialen Leistungen" und der "Wohltätigkeit" aufgeschoben haben, können den Schritt beruhigt machen: Das Geld ist da, sogar mehr als vorher, komplett unabhängig von eigener Wohltätigkeit.

Den Kirchen steht es frei, in ihren Finanzberichten genauer zwischen säkularen Dienstleistungen an die Allgemeinheit und internen Zwecken zu unterscheiden. Sie hätten damit die Möglichkeit, diese Rechnung zu korrigieren – ob sich das Ergebnis dadurch erhöhte und die Summe der Steuerentgänge erreichte, ist stark zu bezweifeln. Aber mehr Transparenz ist immer gut.

Auftrag an die Politik

Wichtig ist, dass diese Mehreinnahmen tatsächlich auch dort ankommen, wo sie durch Umschichtungen der Kirchen künftig fehlen würden. Dies ist häufig in kleineren Städten und Dörfern der Fall. Die steuerlichen Mehreinnahmen, die durch Kirchenaustritte entstehen, sollten also zweckgebunden für genau solche Aufgaben in einen Fonds fließen. Damit könnten Gemeinden Kindergärten, Schulen und andere Einrichtungen, die die Kirchen aufzugeben drohen, übernehmen. Häufig kommen Steuermehreinnahmen nur zu einem kleinen Anteil in den Gemeinden an, es wäre also sinnvoll, hier bewusst mit den Mehreinnahmen umzugehen und sie auch tatsächlich diesem Zweck zu widmen, statt sie einfach im Staatsbudget aufgehen zu lassen.

Die zahlreichen Kirchenaustritte müssen politische Konsequenzen haben. Die Einrichtung eines wie oben beschriebenen Fonds, der ehemals kirchliche Einrichtungen in den säkularen Rahmen überführt, wäre ein starkes Zeichen.

Medien, die unkritisch die "Wir müssen Kindergärten schließen"-Drohung der Kirchen übernehmen, sollten darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie damit Unwahrheiten verbreiten und ihre Inkompetenz demonstrieren.

Aus der Sicht von Freiheit und Grundrechten sind staatlich oder von den Gemeinden betriebene säkulare Einrichtungen objektiv besser als kirchliche. Sie garantieren die Religions- und Meinungsfreiheit der dort Arbeitenden, bieten ihnen gleiche Rechte wie anderen ArbeitnehmerInnen (im Gegensatz zu den vom kirchlichen "Arbeitsrecht" Benachteiligten) und die Sicherheit, ihr Privatleben beliebig gestalten zu können. Auf der Seite der Leistungsempfangenden (Kinder, SchülerInnen, …) entfällt die Indoktrinierung und die Diskriminierung von Menschen, die etwas Anderes oder nichts glauben. Die Säkularisierung von kirchlich betriebenen sozialen Einrichtungen ist also für alle Beteiligten ein Schritt zu mehr Freiheit – und das Geld dafür ist da.

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