Arye Sharuz Schalicar, der es von der Berliner Graffiti-Szene bis zum Direktor in einem israelischen Ministerium gebracht hat, kritisiert in seinem Buch "Der neu-deutsche Antisemit. Gehören Juden heute zu Deutschland?" insbesondere einen israelfeindlichen Antisemitismus. Man hat es mit einem sehr persönlichen Buch mit rhetorischer Wucht zu tun, nicht selten fehlt ein nötiges Differenzierungsvermögen, gleichwohl werden reale Gefahrenpotentiale des Antisemitismus thematisiert – wobei insbesondere die autobiographischen Ausführungen beeindrucken.
Allein schon die Biographie ist interessant: Arye Sharuz Shalicar wurde 1977 in Göttingen als Sohn iranischer Juden geboren. Seine Kindheit und Jugend erlebte er in Berlin und bewegte sich dort im Gang-, Graffiti- und Rapper-Milieu. Nach seinem Grundwehrdienst begann Shalicar ein Studium der Politikwissenschaft, ging dann aber 2001 nach Israel, wo er dieses Studium fortsetzte. Auch dort leistete Shalicar seinen Wehrdienst. Außerdem arbeitete er als Journalist, auch beim ARD-Studio in Tel Aviv. Von 2009 bis 2017 war Shalicar einer der Pressesprecher der israelischen Armee. Und seit 2017 ist er Direktor für Auswärtige Angelegenheiten im Ministerium für Nachrichtendienste. Außerdem schreibt Shalicar einen Blog mit Kommentaren zu aktuellen Themen, wobei Antisemitismus und der Nahost-Konflikt immer wieder im Zentrum stehen. Darum geht es auch in seinem Buch "Der neu-deutsche Antisemit. Gehören Juden heute zu Deutschland? Eine persönliche Analyse". Um es einordnen zu können, muss man den letzten Untertitel beachten.
Gleich auf der allerersten Druckseite kann man dann lesen "Das folgende Buch musste ich schreiben, musste ich veröffentlichen. Denn es brennt in mir! Und das seit geraumer Zeit". Man darf insofern keine differenzierte Abhandlung erwarten, sondern bekommt ein persönliches Statement präsentiert. Dabei berichtet der Autor sowohl von seiner Schulzeit in Deutschland wie von seinem Eindruck von der Medienberichterstattung der Gegenwart. "Der neue deutsche Antisemit", so heißt es mit Bezug zum Titel, "basiert seinen Hass den Juden gegenüber fast ausschließlich auf den Geschehnissen im Nahen Osten bzw. dem 'Nahostkonflikt'. Radikale Muslime, Linksextreme, Juden, die sich selbst hassen und nicht wenige deutsche Leitmedien heizen die Anti-Stimmung kräftig an" (S. 14). Gleich im ersten Kapitel "Aggressiver muslimischer Judenhass erobert deutsche Straßen" berichtet Shalicar aus seiner Schulzeit, musste er doch immer wieder erleben, dass der Antisemitismus von arabisch-muslimischstämmigen Mitschülern sich gegen ihn direkt als Person richtete.
Dann behandelt er verbreitete Hassbilder, die Israel als "Kindermörder", "Landdiebe" oder "Terrorstaat" hinstellen. Auch die Berichterstattung der Medien kommentiert Shalicar überaus kritisch. Zu Berichten über das Vorgehen der Armee heißt es: "Immer wieder wurde … Israels Reaktion zuerst erwähnt und nur im zweiten Satz, oftmals kleingedruckt, kurz angegeben, was die Gegenseite 'mutmaßlich' zuvor getan hatte" (S. 54). Scharf wendet sich der Autor auch gegen den "Intellektuellen linksradikalen Israelhass" und den "rechtsradikalen Antisemitismus". Für ihn ist der christliche Antisemitismus darüber hinaus keineswegs überwunden. Und dann weist Shalicar auch noch auf das Phänomen der "Alibi-Juden" hin, wobei er mit dieser Formulierung die Juden meint, welche israelfeindliche Auffassungen vertreten und damit ihren "Selbsthass" zum Beruf gemacht hätten. Auch wenn die ganzen Ausführungen von Empörung und Wut geprägt sind, endet das Buch doch mit der Feststellung, "dass Juden heute, mehr als je zuvor, zu Deutschland gehören" (S. 160).
Es handelt sich, dies sei hier noch einmal betont, um ein sehr persönliches Buch. Dass dem Autor auch selbst problematische Pauschalisierungen eigen sind, macht folgender Satz deutlich: "Bei Palästinensern ist mir mittlerweile bekannt, dass sie absolut keine Selbstreflexion, geschweige denn Selbstkritik haben" (S. 92). Das richtet sich so formuliert gegen alle Palästinenser. Shalicar schreibt aus Empörung, und das ist von der ersten Seite an überdeutlich. Er macht es sich auch an vielen Stellen zu einfach. Geht es etwa den Juden, die Israel kritisieren, nur um Geld und Selbsthass? Und auch ansonsten hat man es weniger mit Analysen und mehr mit Bekundungen zu tun. Mit einem Hau-drauf-Stil werden notwendige Unterscheidungen weggewischt. Und doch kann der Autor, auch mit den vielen Facebook-Zitaten, die Relevanz eines israelfeindlichen Antisemitismus anschaulich belegen. Gerade die autobiographischen Ausführungen, welche die Judenfeindschaft auf der Straße thematisieren, veranschaulichen eine ansonsten nicht genügend beachtete Gefahrendimension.
Arye Sharuz Shalicar, Der neu-deutsche Antisemit? Gehören Juden heute zu Deutschland? Eine persönliche Analyse, (Hentrich & Hentrich), Berlin 2018, 160 S., 16,90 Euro
5 Kommentare
Kommentare
Thomas Waschke am Permanenter Link
Danke für diese interessante Besprechung.
Scheint mir ein allgemeines Problem zu sein: Es gibt Menschen, von denen jeder, der kein glühender Philosemit ist, gleich als Antisemit n-ten Grades bezeichnet wird. Wenn irgendwas irgendwie in diese Richtung geht, tauchen in üblichen Foren sofort Menschen auf, die dort entweder neu sind oder kaum jemals etwas gepostet haben und machen Stimmung gegen den 'Antisemiten', stellen einschlägige Texte ein oder wiederholen die immer gleichen Argumente, die schon beim ersten Mal nicht trugen.
Mir ist schon klar, dass es in diesen Menschen 'brennt' und die haben vermutlich auch schon einschlägige Erfahrungen machen müssen. Ich frage mich nur, was es bringen soll, gleich die Antisemitismus-Keule auszupacken, nur wenn jemand wagt, anzudeuten, dass es sein könnte, dass sich der Staat Israel gegenüber Palästinensern nicht absolut korrekt verhalten habe. Wenn gleich jeder das Wapperl 'Antisemit' aufgepappt bekommt, ist Antisemitismus doch eigentlich kein Problem mehr für Otto Normalverbraucher.
Überlegen sich diese Menschen eigentlich, ob es Sinn macht, was sie treiben?
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Ich frage mich nur, was es bringen soll, gleich die Antisemitismus-Keule auszupacken, nur wenn jemand wagt, anzudeuten, dass es sein könnte, dass sich der Staat Israel gegenüber Palästinensern nicht absolut korr
Das fragte ich mich sofort exakt genauso, Thomas; hast mir die Formulierung abgenommen.
Für Andersdenkende empfehle ich (obwohl ich fürchte, das bringt nix):
Shlomo Sand (2012): Die Erfindung des Landes Israel. (Eine nüchterne Historie.)
Andreas Altmann (2014): Verdammtes Land. (Eine emotionale Reportage.)
Roman Bichler am Permanenter Link
Die Rezension ist vielleicht doch etwas überambitioniert darin, dem Autor fehlende Differenzierung vorzuwerfen. Der Autor differenziert innerhalb des heterogenen Spektrums jüdischer Lebensentwürfe.
Kay Krause am Permanenter Link
Fragt man den einzelnen Bürger, wie er gerne leben möchte, so ist die häufigste Antwort:"In Frieden!" Befragt man aber Gruppen, so erhält man schon pauschalisierende Antworten, wobei die Gruppen-(Volks)-Seel
Und aus einem weiteren Grund heraus erfolgt die Gruppen-Distanzierung: Weltweit wird leider immer wieder bei der Benennung oder Beurteilung eines Menschen dessen Religion in den Vordergrund gestellt. Diese kommt fast noch VOR dem Familiennamen! Meine Güte (um nicht "mein Gott" zu sagen), laßt doch den Menschen ihren religiösen Glauben, egal, ob das vernünftig ist oder auch nicht, möchte ich jetzt gerne sagen, und in diesem Punkt mit Herrn Strohschein übereinstimmen.
Aber so einfach ist es eben nicht, denn (so bedauerlich das auch ist): gerade die Religionen und deren dazugehörige Institutionen schüren immer wieder erneut diese gegenseitigen Gruppen-Feindschaften/ Abgrenzungen! Und wenn sie ihr ungutes Tun für kurze Zeit unterbrechen, dann ist schon wieder irgendeine politische Partei da, die genau da weitermacht, wo die Kirche eben aufgehört hat.
Ich folgere daraus, dass die Menschheit (wer auch immer das ist), diese Gruppen- Eifersucht, -Hass, -Feindschaft einfach braucht, dass selbst gutgemeinte Aufklärung als Medizin und Langzeit-Therapie dagegen machtlos ist.Ich frage mich allerdings: Warum fehlt mir dieses (letztlich auch Kriege verursachende Gen) total?
Es mag wohl daran liegen, dass ich eine relativ gesunde Mischung aus Dänen, Hamburgern, Preußen und Pommeranzen bin und seit 7 Jahren in Polen lebe. Ich wüßte ja gar nicht, wen ich zuerst hassen, wessen Haus ich als erstes anzünden sollte
Mit friedlichem Gruß,
Kay Krause
rainerB. am Permanenter Link
Ich frag mich nach dem vernichtenden Abspann des Hpd-Chef-Rezensenten - "Und auch ansonsten hat man es weniger mit Analysen und mehr mit Bekundungen zu tun.", warum er solch ein flaches Buch überhaupt den Le
Wenn ich diesen - und ich sage das bewusst - Schwachsinn von sich "selbsthassenden Juden" lese, bleibt eigentlich nur der Papierkorb.
Moshe Zuckermann hat sich mit diesem abstrusen Konstrukt 'selbsthassender Jude' in "Der allgegenwärtige Antisemit" (2018) trefflich befasst. Zentral aber auch mit der politischen Sackgasse, in welcher Israel mit seiner Palestinenserpolitik feststeckt: Gibt es die Besetzung der Palestinensergebiete auf, würde dort der nichtgewollte Staat entstehen. Verleibt es sich die Gebiete für ein Großisrael ein, wäre es aufgrund der Bevölkerungsstruktur das Ende Israels als jüdischer Staat (wie kürzlich erst wieder festgeschrieben). Bleibt also nur Besetzung und Entrechtung als fortwährende Option. Keine gute Aussicht für ein sich als Demokratie bezeichnendes Staatswesen...
Zuckermann polemisiert auch, vergißt darüber aber nicht die Analyse, deren kritische Ergebnisse sich ein Shalicar u.a. dann damit erklären, dass Zuckermann wohl ein sich selbsthassender Jude sein muss. Das ist so flach wie durchsichtig, dass man sich langsam mal andere Rezensenten wünscht, die Interessanteres auf die Bühne heben als solche Plattheiten.