Erstaunlicherweise blieben juristische und rechtssystematische Aspekte bei der Diskussion um das BVerfG-Urteil zum § 217 StGB seligen Angedenkens und eine Neuregelung zwar nicht unbeachtet, aber zumindest womöglich doch wenig mit Bedacht. Dabei ist es elementar für die rechtsstaatliche Gesetzgebung, dass sie sich auch "ungeschriebenen" Rechtsgrundsätzen verpflichtet fühlt, die Kernbestand einer Rechtsstaatlichkeit sind. Nicht umsonst spricht man ja von "Recht und Gesetz" – das wäre nicht erforderlich, gäbe es zwischen den beiden Begriffen keine Differenzierung.
Beihilfe im Sinne des Strafrechts ist die Unterstützung einer von anderen begangenen vorsätzlichen rechtswidrigen Straftat. In dieser Rechtsetzung verwirklicht sich der Rechtsgrundsatz der Akzessorietät: Ohne strafbare Haupttat keine Strafbarkeit der Behilfehandlung.1 Da der Suizid straffrei ist, kann es nicht in Betracht kommen, Beihilfehandlungen dazu mit Strafe zu bewehren. Schließlich gibt es ja ausreichend strafrechtliche Regelungen jenseits der Grenze zur indirekten Sterbehilfe (aktiv wie passiv), der Tötung auf Verlangen oder aus Mitleid. Befürchtete "Missbräuche" einer Suizidassistenz würden in den allermeisten Fällen nicht mehr als solche qualifiziert sein, sondern den genannten Regelungen unterfallen, womit ein recht umfassender Schutz bereits gegeben ist. Leider wird hier nach wie vor zu wenig – und zu wenig sachkundig – differenziert.
Schon die für verfassungswidrig befundene gesetzliche Regelung des "alten" § 217 StGB setzte sich massiv über den Rechtsgrundsatz der Akzessorietät hinweg, der ein Element rechtlicher Logik und der Einheit des Rechts ist und die Strafbarkeit von Beihilfehandlungen überhaupt erst rechtfertigt. Die Akzessorietät ist zwar kein geschriebenes Recht, gehört aber – und so wird es an den juristischen Fakultäten auch gelehrt – zu den Prinzipien, die Strafbewehrungen von Handlungen erst rechtfertigen. Strafrechtsregelungen sind die Regeln, die im Gesamtsystems des Rechts wegen ihrer Eingriffstiefe der höchsten Rechtfertigung bedürfen. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass "Recht" mehr ist als das geschriebene Gesetz, aber vielfach ebenso, ja manchmal mehr konstituierend für Rechtsstaatlichkeit als letzteres. Das Prinzip, dass die Gesetzgebung nur an die Verfassung gebunden ist, hebelt dies keineswegs aus. Wo sind die Zeiten, wo an den juristischen Fakultäten Gesetzgebungslehre noch ein beinahe selbstverständlicher Lehrinhalt war …?
In der Rechtslehre wird die Auffassung vertreten, dass der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) allein deshalb eine Koppelung von Beihilfehandlung und Haupttat erfordere, weil sonst Reichweite und Grenzen des "Teilnahmeunrechts" in Unbestimmtheit verschwimmen würden.2 Somit bindet das Akzessorietätsprinzip ganz unmittelbar an die Verfassung an und ist damit auch für den Gesetzgeber verpflichtend. Man kann durchaus hierin bereits eine grundsätzliche Barriere dafür sehen, Beihilfehandlungen zum straffreien Suizid in irgendeiner Form mit Strafandrohungen zu belegen. Die vielfach zu spürende Intention einer sozusagen indirekten Pönalisierung des Suizids selbst (z. B. durch die Schranke der staatlichen Pflichtberatung, zudem als Inhalt einer strafrechtlichen Norm), wie er im Entwurf Castellucci nach Ansicht des Autors durchscheint, dürfte ebenso wegen des Bestimmtheitsgrundsatzes hochproblematisch sein. "Ein bisschen (moralisch) strafbar" geht nicht.
Vermutlich wurde eine Erörterung hierzu vom Bundesverfassungsgericht in seinem Verdikt gegen den § 217 StGB nicht näher betrachtet, weil dies überlagert wurde von der massiven Problematik der Beschränkung elementarer Persönlichkeitsrechte. Gleichwohl ist es auch unter dem Aspekt der Akzessorietät völlig unverständlich, dass überhaupt erneut eine Regelung der Suizidbeihilfe in der Strafrechtssphäre angestrebt wird. Abgesehen davon, dass darin sicher erneut ein Keim zu einer verfassungsrechtlichen Prüfung einer solchen Neuregelung liegen dürfte.
Regelungen, die Missbräuche von Suizidhilfehandlungen einhegen wie auch eine gewisse Schutzgarantie für nicht Einwilligungsfähige vorsehen, wären auch nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts legitim. Aber nicht im Strafrecht. Geht man von einer Abwägung zwischen dem Schutzgedanken einerseits und dem praktisch uneingeschränkt vom BVerfG bejahten Recht zu einem selbstbestimmten Lebensende aus, müsste sich dies nicht in einer wie auch immer installierten Pönalisierung der Suizidbeihilfe, sondern in einer allgemeinen Schutzregelung wiederfinden, deren Hauptintention – außer im Falle offensichtlicher Nichteinwilligungsfähigkeit – nicht die Beschränkung, sondern die möglichst "barrierefreie" Ermöglichung des mit hohem Verfassungsrang ausgestatteten Rechts auf eigenverantwortlichen Suizid sein müsste.
Einen richtigen Weg weist ja die DGHS mit ihrem Vorschlag, die Suizidhelfer nicht zu pönalisieren, sondern zu qualifizieren und nichtdiskriminierende Rahmenregelungen (wie eine Beratungspflicht der Helfer gegenüber den Suizidwilligen) vorzusehen. Dies würde auch dem Gebot des geringstmöglichen gesetzgeberischen Eingriffs entsprechen. Das insofern zu beachten ist, als dass die Grenze zu einer wiederum gegen die Freiheitsrechte zur Selbstbestimmung am Lebensende gerichteten Regelung schmal ist, wenn man überhaupt Regelungen für notwendig hält.
Zumal "notwendig" keineswegs gleichzusetzen ist mit Begriffen wie "sinnvoll", "angebracht" oder gar "wünschenswert". Vor allem nicht im Strafrecht. Dort bedeutet "notwendig" so viel wie "begründet unumgänglich". Was wiederum den Bogen schlägt zum Hinterfragen der Motivation insbesondere des derzeit favorisierten Entwurfs Castellucci.
Religiös-moralische Motive fallen nach dem Spruch des BVerfG von 2020 ersichtlich aus, sie wären von vornherein eine Garantie dafür, dass auch eine Neuregelung wiederum das Verdikt der Verfassungswidrigkeit treffen würde. Darüber hinausgehende vorgebliche Regelungsbedarfe sind schon seinerzeit bei der Beschlussfassung der als verfassungswidrig erkannten Neuregelung vorgebracht worden. Vor allem die Vorstellung, es sei generell eine "Geschäftsmäßigkeit" von Suizidbeihilfe abzulehnen (ein Begriff, der in seiner Tragweite und seinem Regelungsgehalt schon damals vielfach missverstanden wurde), es dürfe nicht zu einem "Drängen in den Suizid" vor allem bei älteren Menschen kommen und es werde eine unabsehbare Steigerung von Suiziden geben, waren seinerzeit stark im Vordergrund.
Man kann nur davor warnen, auch diese Aspekte heute wieder, vielleicht in etwas anderer Beleuchtung, aber inhaltsgleich, wieder pro Strafrechtsregelung heranzuziehen. Der Punkt der "Geschäftsmäßigkeit" scheiterte nicht nur daran, dass damit jede Suizidhilfe durch Ärzte zumindest wieder in eine rechtliche Grauzone gerückt würde (wobei ja gerade das Gegenteil, nämlich Rechtssicherheit angebracht wäre), sondern auch an der Absurdität, dass damit fachlich in aller Regel unzulängliche und nur Leid schaffende "Beihilfen" durch im Einzelfall tätig werdende Angehörige auch noch "privilegiert" wurden (wer wollte bestreiten, dass dieses Argument im Wesentlichen ein "Strohmann" für den offenbar dringenden Wunsch war, Suizidhilfeorganisationen "das Handwerk zu legen"). Zudem fehlte es damals – und fehlt es bis heute – an empirischen Belegen für das "Drängen zum Suizid" bei älteren Menschen und damit an der Rechtfertigung eines grundrechtsbeschränkenden Regelungseingriffs.
Und was die Steigerung von Suizidfällen durch die Nicht-Strafbarkeit von Beihilfehandlungen angeht, so sei dazu die Frage aufgeworfen, ob denn in den Jahren der Geltung des nun obsoleten § 217 etwa die Zahl der Suizide zurückgegangen sei? Zumal aus dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts zwar die Bedeutung einer Suizidprävention durchaus deutlich wird, aber kein Zusammenhang mit dem expliziten Thema einer Strafbarkeit von Suizidbeihilfe. Und genau dies, das auch hier beim hpd schon thematisierte "Junktim" zwischen einer neuen strafrechtlichen Regelung und der Notwendigkeit von Suizidprävention, ist im Zusammenhang mit dem Entwurf Castellucci eine Unredlichkeit ersten Ranges. Der Autor kann sich bei einer Betrachtung der Diskussion zur Suizidbeihilfe tatsächlich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, dass bestimmte Kreise am liebsten den Suizid selbst strafbar stellen möchten.
6 Kommentare
Kommentare
Angelika Wedekind am Permanenter Link
In der islamischen Welt ist Suizid tatsächlich strafbar. Wer gerettet wird, kommt nach dem Krankenhaus gleich ins Gefängnis.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Es ist unbestreitbar, dass die moralische Verurteilung des Suizids religiös konnotiert ist, und zwar nicht nur im Islam.
Von gewaltigem Einfluss war die Verurteilung des Suizids durch Thomas von Aquin in seiner "Summa theologica" (13. Jh.), gegen die dann - mit unvergleichbar geringerem Einfluss - Thomas Morus' Aufgreifen des antiken Stoizismus in seiner "Utopia" stand (16. Jh.), flankiert von seinem Zeitgenossen Francis Bacon, der als erster die Selbstbestimmung als entscheidendes Kriterium für die Beurteilung des Suizids klar benannte. Nicht umsonst konnte Morus dies nur in Form einer "Science Fiction" erscheinen lassen. Und seit der Renaissance und den Anfängen des Humanismus gelingt es nicht wirklich, die religiös-moralische Konnotation aus den Köpfen zu bekommen - erstaunlicherweise ersichtlich weit weniger aus den Köpfen von Politikern als aus denen der allgemeinen Bevölkerung.
Der Hintergrund in den monotheistischen Religionen ist immer der gleiche: es gelte, die Infragestellung göttlicher Allmacht um jeden Preis zu verhindern. Dafür ist man bereit, auch hier und heute menschliche Selbstbestimmung im humanistischen Sinne zu verhindern, zumindest zu beschneiden.
Der große Mediziner Hufeland sah sich in einem Konflikt zwischen ärztlicher Sichtweise (die ihm eigentlich nahelegte, Sterbenden eine hilfreiche Hand zu reichen) und dem Absolutheitsanspruch religiöser Gebote - gegen seine persönliche Auffassung wurde er zum Begründer des Postulats, der Arzt habe allein Leben zu erhalten und forderte gar vom Staat, dies zu garantieren. Diese scharfe Ausprägung wirkt bis heute in die ärztliche Profession hinein, wobei die wenigsten wissen dürften, dass sie auf eine einzelne Person - Hufeland - zurückzuführen ist.
Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 sowie das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 (das dann später zum Reichsstrafgesetzbuch wurde) ließen dann sang- und klanglos die Vorschriften zur Pönalisierung von Suzid fallen. Der Einfluss der Kirchen schwand - und humanistisches Gedankengut begann sich durchzusetzen. Nicht zuletzt durch David Humes Schrift "On suicide".
Ob sich die eifrigen Betreiber einer de facto-Kriminalisierung des Suzids wohl einmal über diese Dinge informiert haben und wissen, auf was für einem Boden sie stehen?
Christian Meißner am Permanenter Link
Kleine Übung in Sachen "Factfulness": In Ägypten, Albanien, Aserbaidschan, Eritrea, Indonesien, Iran, Irak, Jordanien, Katar, Kosovo, Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten ist Suizid legal, obwohl d
Ob der letze Satz des Kommentars stimmt, sei einmal dahingestellt. Areligiosität ist jedoch mitnichten eine Voraussetzung für die Achtung von Menschenrechten - dies zeigt deren eigene Entstehungsgeschichte.
Wer religiösen Geboten folgend den Suizid als Ausweg für sich selbst ablehnt, darf das selbstverständlich tun. Er darf aber nicht anderen seine Gebote vorschreiben.
Für Nichtreligiöse gilt umgekehrt: Wer andere mit scheinbar "vernünftigen" Argumenten zu ihrem vermeintlichen Glück zwingen möchte, setzt sich selbst gegen die Menschenrechte ins Unrecht.
Roland Weber am Permanenter Link
Der letzte Satz dürfte absolut richtig und die ungebrochene Motivation für diese "übergriffige Regelungswut" sein:
Haben diese Bestrafungsfanatiker und Würdeverachter immer noch nichts aus der Geschichte gelernt? Gelernt und begriffen, dass gerade Schmerzen, Not und Elend die bestimmenden Faktoren waren, die die Menschen in die Gläubigkeit an eine jenseitige Erlösung trieben und genug Raum für „gewinnbringende Tröstungen“ lieferten?
Was geht es die Gesellschaft oder gar denjenigen konkret an, der meint, hier seine eigenen Vorstellungen an erster Stelle für maßgeblich zu erachten, wenn jemand schmerzfrei sterben möchte, weil er letztendlich in seinem Leben keinen Sinn, keine Hoffnung oder keine Würde mehr sieht?
Wie widerlich abstoßend ist denn dieses Setzen eigener Interessen und Vorstellungen über die Eigenbestimmung eines anderen? Woher rührt denn die Legitimation für derartige Anmaßungen, Quälerei und Terrorausübung? Wer oder noch besser: was legitimiert denn dazu, einem anderen weiterhin körperliche, geistige oder mentale Schmerzen zuzumuten, die der Betroffene selbst als unerträglich empfindet?
Zum Aspekt "Akzessorietätsprinzip" ist ergänzend anzumerken, dass diese Kreise die Täterschaft eben nicht beim Sterbewilligen sehen, sondern eben klammheimlich und manipulativ beim "Ausführenden". Sie wollen das Geschehen eben nicht als Beihilfe zu einer an sich straflosen Tat sehen, die sie insgeheim für sittenwidrig halten, sondern als Haupttat des Helfenden/des Arztes/Vertrauensperson gewürdigt sehen. Der Wille des Sterbewilligen wird von diesen Kreisen als rechtlich unbeachtlich eingestuft, weil er als "naturwidrig/gotteswidrig" oder mit ähnlich rechtsausschließender Begründung gesehen werden soll.
Ich kann jedem nur empfehlen, sich einmal zu entspannen und sich vorzustellen, dass egal, was das Schicksal ihm noch bringen wird, ihm für den Fall der „Unerträglichkeit“, aus welchen Gründen auch immer, es allein und einzig in seiner Macht liegt, seinem Leben mit seiner Entscheidung ein dennoch schmerzfreies, selbstbestimmtes und würdiges Ende setzen können.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Das alte Lied der Einmischung in persönliche Entscheidungen eines Sterbewilligen Menschen, befeuert durch die Kirchen und Besserwissern, welche noch gesund und munter
xxx am Permanenter Link
ich bin bei der dhgs und hoffe das noch möglichst viel zeit ins land geht bis der freitod gesetzlich verhindert wird, dann versuche ich mit hilfe der dghs eine ftb