Interview

"Das ist nur noch Traditionspflege"

Abschied_Freunde.jpg

Er war über 40 Jahre Teil der Humanistischen Union (HU) – in den Jahren 1984 bis 1996 als Vorstandsmitglied und danach als Mitglied im Beirat. Jetzt hat Jürgen Roth seinen Rücktritt von allen Ämtern und seinen Austritt aus der Bürgerrechtsorganisation erklärt. Dem hpd erklärt er in einem Interview seine Beweggründe für diesen drastischen Schritt.

hpd: Du verlässt nach 42 Jahren die Humanistische Union. Ist Dir dieser Schritt schwergefallen?

Jürgen Roth: Ja, ich bin am 1. Oktober 1979 der HU beigetreten. Zwölf Jahre war ich im Bundesvorstand – aber die Zeit ist vorbei. Ich engagiere mich bundespolitisch seit langem schwerpunktmäßig in der Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne.

Du begründest den Austritt mit der Stellungnahme der HU zur Ukraine. War vorher alles in Ordnung oder war das nur der letzte Schritt?

Ich war schon länger mit vielen Positionen der HU nicht mehr einverstanden. Dort hat sich ein unreflektierter Grundrechtsabsolutismus breitgemacht, der nicht mehr an die Folgen und die gesellschaftliche Verantwortung denkt.

Ist das jetzt ein Angriff auf die hervorgehobene Stellung der Grundrechte?

Nein, natürlich nicht. Die Freiheit des Glaubens und die Freiheit, den alten Glauben abzulegen und die Freiheit, sich einer Weltanschauung zuzuwenden oder im Sinne Epikurs ein Leben in Freude und Gesundheit führen zu wollen, steht doch außer Frage. Wenn aber der HU-Vorstand das Problem des politischen Islamismus systematisch ignoriert, um religiöse Symbole einzelner Personen nicht anzutasten …

Du meinst das Kopftuch?

Ja, zum Beispiel. Ein langjähriges Vorstandsmitglied hat sogar über die Sinnhaftigkeit dieser religiösen Bekleidung ihre Doktorarbeit geschrieben. Die Wirkung dieser Symbole auf Kinder in dem staatlichen Zwangs- und Schutzraum Schule wird dabei völlig ausgeblendet.

Mein Eindruck ist, dass seit dem Zusammenschluss mit der siechen Gustav-Heinemann-Initiative in der HU die Trennung von Staat und Kirchen nur noch Thema für besonders verdienstvolle Einzelpersönlichkeiten wie Johannes Haupt ist, der im Bündnis BAStA zur Abschaffung der historischen Staatsleistungen eine ganz hervorragende Arbeit leistet. Ausdrücklich anerkennen will ich auch die Gespräche beispielsweise zum kirchlichen Arbeitsrecht von Prof. Will.

Aber es sind eben Johannes Haupt und Rosemarie Will und nicht die HU. Neue Gedanken über eine säkulare Gesellschaft kommen schon viele Jahre nicht mehr. Das ist nur noch Traditionspflege.

Müssen aber die Grundrechte gerade in Krisenzeiten nicht doch Vorrang genießen, um die Macht des Staates nicht ausufern zu lassen?

Grundrechte gelten immer, auch in Krisenzeiten. Die Rechte der Einzelnen müssen aber auch in Einklang gebracht werden mit der Bewältigung aktueller Krisenlagen. Beispiel Corona: Da lamentiert die HU lang und breit über sämtliche Beschränkungen. Vieles lässt sich sicher vor allem im Rückblick hinterfragen. Aber verliert nicht der Staat jede Glaubwürdigkeit, wenn er mit Rücksicht auf jedes noch so aufgeblähte Individuum besonders schutzwürdige Gruppen einfach sich selbst überlässt? Das freie Virus für freie Bürger kann doch keine Antwort sein.

Der Anlass für den Austritt war aber eine Stellungnahme zum Ukraine-Konflikt. Warum hast Du darauf vielleicht doch überzogen reagiert?

Das war nicht überzogen – diese Stellungnahme war vielmehr hochgradig ungezogen. Ich hätte nicht in dieser Härte geantwortet, wenn die HU Kritik an bestimmten Punkten wie zum Beispiel dem Sondervermögen zur Aufstockung der Bundeswehr geübt hätte. Kritik daran halte ich zwar für falsch, sie sollte aber in der Sache diskutiert werden.

Wenn aber die HU dem Mörder Putin ausdrücklich "geopolitische Bedürfnisse" zugesteht, liegen die Dinge anders. Schuld an der Entwicklung ist – wie bei Frau Wagenknecht oder der AfD – natürlich die NATO. Ein Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der Ukraine, Georgien, und vermutlich auch Finnland und Moldawien: Fehlanzeige. Die Länder wollen sich doch mit Hilfe der NATO vor dem aggressiven Russland schützen.

Ich jedenfalls will in keiner Organisation Mitglied sein, die einem Staat einen Hegemonieanspruch über ganze Weltregionen zugesteht.

Dass eine Bürgerrechtsorganisation wie die HU nichts von Demokratie und dem völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrecht wissen will, ist ein Kotau vor Putin. Dessen faschistisches Politikverständnis wird nicht einmal erkannt.

Gerade die jüdischen Mitgründer der HU wie Fritz Bauer, Hans Robinson oder Walter Fabian wären heute empört, wenn Putins Waffen KZ-Überlebende umbringen. Die HU hingegen schweigt. Was Putin mit Menschenrechtsorganisationen wie Memorial macht, ist der HU auch völlig egal. Hauptsache, die alten Feindbilder stimmen noch. Die sind im Schlamm der Hofgartenwiese 1981 stecken geblieben. Ich war damals auch da, habe aber inzwischen meine Schuhe geputzt oder entsorgt.

War nicht der Eingriff des Westens im früheren Jugoslawien völkerrechtswidrig und hat die HU nicht an diesem Punkt recht?

Nein, sie hat nach meiner tiefen Überzeugung Unrecht. Es war der heutige Aggressor Russland, der seinerzeit ein gemeinsames Vorgehen der UN blockierte und lieber dem Genozid zusehen wollte. Man wollte wohl für Syrien, Georgien, Tschetschenien und jetzt für die Ukraine lernen.

Nichts zu sagen hat die HU bis heute zum Massenmord in Srebrenica und anderen Gräueltaten des serbischen Milošević-Regimes. Gerade einer auf das Recht verpflichteten Organisation sollte jedoch zu denken geben, dass nur durch den damaligen militärischen Eingriff unter Führung von Präsident Clinton die Kriegsverbrecher verhaftet und vom Gericht der Vereinten Nationen verurteilt wurden. Hätten die Westmächte 1939 – nach viel zu langem Zögern – so gehandelt, wie von der HU gewünscht, wäre es mit der Freiheit in Europa – und nicht nur da – schon längst vorbei.

Was mich aber fassungslos gemacht hat, ist die Aussage der HU zu den Wirtschaftssanktionen. Da heißt es, "Sanktionen gegenüber Staaten dürfen kein immer wieder genutztes Schwert sein. Sie müssen, so sie verhängt werden, durch ein UNO-Mandat gestützt sein." Da der UN-Sicherheitsrat heute wie damals durch die Vetomacht Russlands blockiert ist, bedeutet diese HU-Forderung, dass Sanktionen gegen Putin nur mit Zustimmung Russlands möglich sein sollen. Wer einen solchen Aberwitz verbreitet, verliert jede Glaubwürdigkeit.

Dass sogar noch die russische Propaganda von der "Entnazifizierung" indirekt mit abgenickt wird, macht alles nur noch schlimmer. Da ist jedenfalls Schluss für mich.

Steht denn der Krieg gegen die Ukraine überhaupt in einem Zusammenhang mit säkularer Politik?

Ja, das tut er und es wäre die ureigene Aufgabe der HU, gerade diesen Kontext herauszuarbeiten. Denken wir nur an den Moskauer Patriarchen Kyrill, der Seite an Seite mit Putin den Kriegstreiber spielt. Seine Ableger in Deutschland haben sogar den öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus und könnten damit sogar Steuern eintreiben. Der Papst wiederum laviert sehr zum Unmut vieler Katholiken herum. Frau Käßmann von der EKD wiederum zelebriert sich mal wieder als Erzengel himmlischer Friedfertigkeit. Ihr Deutschlandfunk-Interview am 24. März ist an Selbstgerechtigkeit und Ignoranz kaum noch zu überbieten. Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit der evangelischen Christinnen und Christen nicht so denkt.

Religiöser Monotheismus neigt bei aller gebotenen Differenzierung immer auch dazu, Menschen auseinanderzutreiben und nicht zusammenzuführen. Der Staat sollte das nicht auch noch alimentieren und den Jüngern des Moskauer Patriarchen hierzulande wenigstens bis auf weiteres den Körperschaftsstatus entziehen.

Wie sollte denn eine deutsche Bürgerrechtsorganisation die aktuelle Kriegslage überhaupt begleiten?

Ich möchte hier keine Beratung für die HU mehr machen. Das ist vorbei. Wer aber auf den aktuellen Diskurs Einfluss nehmen will, sollte erst mal die Lage politisch, militärisch, ökonomisch und vor allem humanitär analysieren und daraus schlussfolgern, wie Rechtsstaat und Demokratie mit diesen gewaltigen Herausforderungen fertig werden können, ohne bleibenden Schaden zu nehmen. Die HU aber kriecht lieber bei Putin ins Bett, als sich zu fragen, wie die deutsche Demokratie gemeinsam mit den anderen westlichen Demokratien die akute militärische Bedrohung aufhalten kann. Wir stehen nur noch Tage vor einem umfassenden Wirtschaftsboykott, dessen Folgen eben auch sozial gerecht verteilt werden müssen. Steht im nächsten Winter zu wenig Gas zur Verfügung, darf die Verteilung nicht (nur) über den Preis reguliert werden nach dem Motto: Die Wohlhabenden klagen und zahlen und die Armen schweigen und frieren.

Die Stärkung der Bundeswehr ist unverzichtbar, darf aber nicht der Renaissance einer Knobelbecherkultur der Kaiserzeit mit dem Leutnant der Reserve als Leitfigur verkommen. Es stellt sich beispielsweise die Frage, wie Deutschland bei einer zu erwartenden weiteren Zuspitzung der Krise die öffentlich völlig unbekannten "kleinen Notstandsgesetze" handhaben soll, die Arbeitseinsätze und vor allem die Ernährung der Bevölkerung sichern. Das alles müsste jetzt intellektuell und mental vorbereitet werden. Aber da kommt von der HU gar nichts. Die Dinge vom Ende her zu denken, ist keine Stärke in der deutschen Politik; sie stößt nicht an, sondern lässt sich lieber treiben. Mit dieser nervigen Zögerlichkeit hat Deutschland seinen internationalen Ruf ramponiert und innenpolitisch seine Handlungsfähigkeit beschädigt, ob bei der Digitalisierung von Schulen und Verwaltungen oder der Handlungsfähigkeit der Bundeswehr, um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen. Krisen legen solche Schwächen schonungslos offen. Viel Arbeit für die Ampel-Regierung.

Hat die Humanistische Union überhaupt noch eine Zukunft?

Da bin ich sehr skeptisch – aber vielleicht ziehen vernünftige Leute doch noch einmal die Karre aus dem Dreck. Die HU hat gegenwärtig keinen Vorsitz und nur einen kleinen Rumpfvorstand. Sie verschickt Schreiben auf schlecht kopierten Briefköpfen und mit den Namen von Vorständen und Beiräten, die längst nicht mehr im Amt sind oder sogar schon verstorben sind. Das sieht nach einem sterbenden Schwan aus – der sein Ende aber nicht in Schönheit findet.

Dabei ist der ursprüngliche Auftrag der HU seit ihrer Gründung Anfang der 60er Jahre durch Gerhard Szczesny, Fritz Bauer und andere längst noch nicht erfüllt, genauso wenig wie der Kampf gegen totalitäres Denken, ob in religiösem oder pseudo-religiösem Gewand. Das Ziel, in Freiheit zu leben und dabei religiöse sowie weltanschauliche Bevormundung zu überwinden, ist bei weitem nicht erreicht. Die säkularen Stimmen in unserer Gesellschaft sind angesichts eines Anteils von 40 Prozent Konfessionsfreien bis heute viel zu schwach. Eine gut aufgestellte und innovative Humanistische Union könnte da wichtige Dienste leisten – aber ich glaube eher nicht, dass sie den Kahn noch vor den Klippen retten kann.

Das Interview führte Frank Nicolai für den hpd.

Unterstützen Sie uns bei Steady!