Der Philosoph Omri Boehm plädiert in seinem Buch "Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität" gegen die kursierende Identitätspolitik und für einen neuen Universalismus, wobei er sich hauptsächlich auf Kant als philosophische Leitfigur bezieht. So nachvollziehbar sein Anliegen ist und so reflexionswürdig seine Betrachtungen sind, so gelingt es ihm dann doch nicht, die philosophische Legitimationsgrundlage für einen solchen radikalen Universalismus zu entwickeln.
Sollen für die gesellschaftliche und politische Entwicklung eher partikulare oder universelle Prinzipien von konstitutiver Wichtigkeit sein? Um diese Frage drehen sich indirekt viele gegenwärtige Kontroversen, die etwa auf die Bedeutung von Gruppenidentitäten fixiert sind. Eine linke Ausrichtung stellt dabei Gender und Race, eine rechte Ausrichtung die Nation und das Volk ins Zentrum. Beide Ausrichtungen wenden sich direkt oder indirekt gegen den Universalismus. Damit ist hier eine Auffassung unabhängig von Identitäten gemeint, wonach alle Menschen eine gleiche Wertigkeit haben sollten. Diese Denkweise steht indessen unter Druck, eben von den gemeinten partikularen Identitätsfixierungen. Omri Boehm, Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York, will demgegenüber den Universalismus, aber in seiner radikalen Version, neu begründen und verteidigen. Dazu entstand das Buch "Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität" des deutschen wie israelischen Staatsbürgers.
Darin wendet sich Boehm auch gegen den dominanten Liberalismus, der sich gegen die philosophischen Angriffe der letzten Jahrzehnte nicht gewehrt habe, "sodass heute nur noch die leere Hülse des Begriffs geblieben ist" (S. 14). Mit dieser Ausrichtung gegen unterschiedliche Positionen hat sich der Verfasser viel vorgenommen. Und man kann bereits zu Beginn hier konstatieren, dass ihm die Kritik auf knapp 180 Seiten nicht vollständig gelingt. Er arbeitet durch die ganze Abhandlung hindurch mit historisch-politischen Beispielen, sei dies Abrahams Auseinandersetzung mit Gottes vorgetragenen Wünschen, die Botschaft im Text der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung oder der von John Brown initiierte gewalttätige Kampf gegen die Sklaverei. So macht Boehm seine Gedankenführung an konkreten Kontexten deutlich, was aber mitunter wie eine Konstruktion in nicht überzeugender Weise wirkt. Dies gilt insbesondere für die Abraham-Geschichte, die als Universalismus und nicht als Unterwerfung gedeutet wird.
Darüber hinaus nimmt Boehm zunächst an den Identitätsauffassungen keine dezidierte Kritik vor, vermerkt aber am Ende hinsichtlich der Konsequenzen anhand des Nahost-Konflikts treffend: Dies führe "jeweils zur Auslöschung der anderen" (S. 153). Boehm will auch den "falschen" zugunsten des "wahren" Universalismus überwinden. Dabei verwirft er pauschal Denker von Dewey über Rawls bis Rorty. Sie seien mehr der Demokratie als der Wahrheit verpflichtet gewesen. Dabei legt Boehm immer wieder nahe, dass er eben die Wahrheit kennt. Die damit einhergehende Auffassung leitet er von Kant ab, wobei ihm durchaus dessen mitunter problematische Positionen bewusst sind. Berechtigt lässt sich indessen angesichts rassistischer Einstellungen bei dem Philosophen sagen, dass man hier mit Kant gegen Kant argumentieren kann. Bei Boehm läuft dies aber in der Konsequenz auf Setzungen hinaus. Er beruft sich auf "Gerechtigkeit" und "Wahrheit", indessen fehlen dazu die entsprechenden Begründungen und Konkretisierungen in einem überzeugenden Sinn.
So erodieren letztendlich auch die Argumente, die als Eigenschaften einem radikalen Universalismus eigen sein sollen. Gleichwohl präsentiert der Autor mit dem Bezug auf Kant das, was die Grundlage eines neuen Universalismus sein könnte. Er betont darüber hinaus, dass auch von Pflichten und nicht nur von Rechten gesprochen werden sollte. Denn: "Da die Pflicht gegenüber der Menschheit universell ist, steht sie über der Autorität eines jeden Befehls, einschließlich eines Befehls der Gottheit" (S. 22). Diese Aussage macht entgegen mancher Kritik deutlich, dass religiöse Beispiele bei Boehm nicht zu einem universalistischen Glauben führen sollen. Er sucht in seinen Analysen von religiösen Narrativen immer nach den säkularen Prägungen. So begründet auch nicht eine Gottesfigur, sondern eben Kant seinen "radikalen Universalismus". Gleichwohl fehlen ihm doch überzeugende Begründungen und klare Merkmale. Die Betrachtungen von Boehm laden aber zu einer notwendigen Debatte um die Neufassung eines normativen Universalismus für die Zukunft ein.
Omri Boehm, Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität, Berlin 2022 (Propyläen-Verlag), 175 S., 22,00 Euro