Rezension

Rassismus zwischen individueller Betroffenheitswahrnehmung und struktureller Dominanz

Die Kommunikationssoziologin Natasha A. Kelly plädiert in ihrer "Rassismus"-Monographie dafür, den Rassismus mehr als strukturelles Problem "weißer Subjekte" zu betrachten. Die Autorin macht dabei auf unterschiedliche Benachteiligungsformen aufmerksam, erhebt aber die Betroffenenwahrnehmung zu einem zentralen Erkenntnisinstrument.

Die Kommunikationssoziologin Natasha A. Kelly wurde durch ein Fernsehinterview einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, worin sie sich dagegen aussprach, dass der Historiker Helmut Bley im Rathaus von Hannover über die Wahrnehmung des Kolonialismus in der afrikanischen Welt referieren konnte. Er gehört in Deutschland zu den renommierten Forschern auf diesem Gebiet – und ist ein Weißer. Gerade dies motivierte Kelly dazu, sich gegen seinen öffentlichen Auftritt zum Thema auszusprechen. Er könne nur aus einer weißen Perspektive und nicht "für uns" sprechen. Mit "uns" meinte Kelly allgemein die Schwarzen. Ein weißer Mann, so äußerte sie weiter, sei nicht in der Lage, die Perspektive schwarzer Menschen einzunehmen. Dabei gehe es nicht um Bley, sondern um das Machtsystem. Gemeint war ein "struktureller Rassismus" (vgl. "Schweig alter Mann! Wie Identität spaltet", frontal 21, ZDF, 3. Mai 2021). Doch was meint Kelly mit "Rassismus"? Eine Antwort gibt ihr Buch "Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen".

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Darin fällt zunächst auf, dass der zentrale Begriff inhaltlich gar nicht definiert wird. Die Autorin schreibt über die Funktionen und Kontexte von Rassismus, aber das Gemeinte wird aufgrund seiner inhaltlichen Spezifika eben nicht thematisiert. Sie konzentriert sich auch hauptsächlich auf die Ablehnung von Schwarzen. Antisemitismus als Rassismus ist demgegenüber kein relevantes Thema. Mit dem Ausgangsgedanken, dass es sich hier nicht nur um individuelle Einstellungen, sondern ein strukturelles Problem handele, liegt Kelly indessen richtig. Dies machen Benachteiligungen bei Job- und Wohnungssuche deutlich. Die Autorin bemerkt hier: "Weiße Vorherrschaft wirkt nämlich auch, ohne dass ein konkreter Fall von rassistischer Zuschreibung erfolgt, z. B. indem sie Zugänge für die privilegierten Gruppen produziert, die wiederum Ausschlüsse für die diskriminierten Gruppen mit sich bringen" (S. 40). Genau so etwas meint Kelly mit "strukturellem Rassismus", wobei sie dazu aber eben keine entwickelte Definition präsentiert, welche einen Maßstab liefern könnte.

Sie stellt immer darauf ab, dass es um ein Machtverhältnis geht. Genau dieser Kontext sollte tatsächlich stärker Thema sein. Die Autorin bemerkt aber auch: "Rassismus gegen weiße Menschen gibt es jedoch nicht und hat es auch noch nie gegeben …" (S. 10). Selbst wenn man der Auffassung ist, dass die Dominanzkultur eine der Weißen ist, schließt das nicht Situationen aus, wo die Dominanzkultur von Nicht-Weißen geprägt ist. Dies kann in einer Alltagssituation in Europa sein, dies kann aber auch in Ghana oder Südafrika sein. Angesichts der Fixierung von Kelly auf eine Schwarze-Weiße-Unterscheidung problematisiert sie nicht die fehlende Verallgemeinerbarkeit, die ein schlüssiges und stringentes Begriffsverständnis von Rassismus eben aufweisen sollte. Ihr geht es hauptsächlich um einen "Schwarzen Standpunkt" (S. 16), den es auch, aber nicht nur, geben muss. Hier hätte die Autorin eine klarere Gewichtung vornehmen können, würde doch ansonsten die eine Einseitigkeit durch die andere Einseitigkeit auf Kosten der Wissenschaftlichkeit ersetzt.

Beachtenswert sind auch die Ausführungen zur Entwicklung weg von einem biologischen und hin zu einem sozialen "Rasse"-Verständnis, ging es doch bei der rassistischen Diskriminierung primär um einen sozialen Status. Aber hier verliert sich Kelly dann in Reflexionen darüber, ob im Grundgesetz noch von "Rasse" die Rede sein sollte. Sie spricht sich gegen eine diskutierte Änderung aus, sei dies doch primär Symbolpolitik. Dann finden sich auch noch beachtenswerte Abschnitte darüber, wie sich Rassismus etwa bei der Polizei oder in der Sprache artikulieren kann. Indessen wird das Gemeinte eher angerissen, eine systematische Untersuchung gibt es nicht. Dies hätte bei dem einführenden Band aber womöglich auch den inhaltlichen Rahmen gesprengt. Beachtens- und begrüßenswert ist sicherlich die Forderung, stärker die Betroffenenperspektive von Rassismus zu berücksichtigen. Jedoch kann bloßes Empfinden kein alleiniges Kriterium für wissenschaftliche Studien sein. Diese Auffassung stünde für einen Rückschritt.

Natasha A. Kelly, Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen, Zürich 2021, Atrium Verlag, 127 Seiten, 9 Euro

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