Ferdinand von Schirach: Feinde

Recht und Gerechtigkeit (2)

Der Humanistische Pressedienst (hpd) veröffentlichte am 6. Januar einen Artikel von Prof. Dr. Rolf Dietrich Herzberg, in dem dieser sich mit dem in der ARD ausgestrahlten "Krimidrama" von Ferdinand von Schirach auseinandersetzt. Mit einem weiteren Artikel reagiert er nun auf die Kommentare, die zu diesem Text verfasst wurden.

Zustimmung und Widerspruch, und dieser oft verbunden mit dem Versuch, ihn durch Grobheit stark zu machen. So pflegt es zu gehen, und darauf muss sich ein Autor einstellen, der landläufige Thesen hinterfragt und vielleicht sogar bestreitet. Darum überrascht es mich nicht, dass "P. M." mir im Kommentar vorwirft, "an Vorschriften so lange herumzuinterpretieren, bis das Gegenteil herauskommt"; dass mein Aufsatz ein "klassisches Beispiel" sei "für solcherart Rechtsverdreherei"; dass ich "mit hanebüchenen Vergleichen" arbeite, nämlich dem Vergleich des Waterboardings mit dem finalen Rettungsschuss; und dass ich "in die sprachliche Trickkiste" greife mit der Bejahung von Folter im Fall einer amtlichen Prüferentscheidung, die dem Prüfling so schweres seelisches Leid zufügt, dass er sich umbringt. Das Fazit: Wie "ausgerechnet Volljuristen das Folterverbot zu unterlaufen suchen, das gefährdet den Rechtsstaat".

Die Kritik ist nicht berechtigt. "Folter" ist nach der Definition in der UN-Antifolterkonvention "jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, ... wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes ... verursacht werden" und der Verursacher "in amtlicher Eigenschaft" handelt. In meinem Beispiel verletzt die Polizistin durch einen gezielten Schuss zur Vermeidung eines Blutbads den Terroristen schmerzhaft und tödlich. Man verdreht das Recht, wenn man bestreitet, dass das, was die Polizistin dem Terroristen notgedrungen antut, dem Begriff der Folter im Rechtssinne unterfällt. Und im Fall des Scheiterns im Staatsexamen mit Suizidfolge ist mir zwar klar, dass niemand den Kandidaten als Folteropfer betrachtet. Aber er erleidet "große seelische Schmerzen", die ihm mit der Verkündung ein "Angehöriger des öffentlichen Dienstes" zufügt. Das sind Tatsachen, die zu leugnen albern wäre und die die in Deutschland rechtsgültige Definition der Folter erfüllen. Ja, man darf den "klaren Folterbegriff" nicht "aufweichen". Aber das tut P. M., während ich den Folterbegriff und seine klare Definition strengstens beachte.

Was ich wollte, war dies: dem Leser klarmachen, dass es Folter im Rechtssinne gibt, die gerechtfertigt ist; wie es ja auch den Totschlag im Rechtsinne gibt, den das Recht erlaubt. Ob Nadlers Foltern durch Waterboarding gerechtfertigt war, ist damit noch nicht entschieden. Aber diese Beurteilung kommt in Frage, weil das Polizeirecht auch dem Polizisten das Recht einräumt, nach Maßgabe des Paragraphen 32 StGB Notwehr zu üben. Nun kommt alles darauf an, ob für Nadler die Voraussetzungen des Paragraphen 32 StGB erfüllt waren: Kelz als Angreifer, das noch Gegenwärtigsein seines rechtswidrigen Angriffs durch Unterlassen, Einsatz des "erforderlichen", das heißt geeigneten und mildesten Mittels zur Abwendung des Angriffs. Auf einem gedanklichen Fehler beruht die Betonung der (theoretischen) Ungewissheit, ob Kelz überhaupt der Entführer und Angreifer war. Er war es zumindest möglicherweise. Das muss zur Entlastung Nadlers genügen, weil es ja um die Beurteilung seiner Verletzungs- und Nötigungstat geht. "Im Zweifel für den Angeklagten" – wenn Nadler wegen Notwehr gegen Kelz vielleicht im Recht war, ist davon zu seinen Gunsten auszugehen.

Von Schirach will wahrhaben, dass Nadlers Handeln nicht gerechtfertigt war. Er schreibt das Misslingen der Lebensrettung ins Drehbuch, weil er weiß, dass der Zuschauer einer Rechtfertigung des Polizisten viel stärker zuneigen würde, wenn Nadler dank der erzwungenen Auskunft den Vergiftungstod in letzter Minute noch abgewendet hätte. Wie fragwürdig in diesem glücklichen Fall das Vorurteil, Folter sei immer Unrecht, erschienen wäre, spürt von Schirach selbst. Er zeigt es, indem er durch sein Sprachrohr Brandauer Nadlers hypothetische Tat in hohen Tönen lobt als edel, hilfreich und gut. Dass es so kommen werde, dass das Waterboarding Lisas Leben retten werde, davon durfte Nadler in realistischer Hoffnung ausgehen. Es ist ungerecht, ihm das Lob zu verweigern, weil der Rettungsversuch tragischerweise misslungen ist.

Im zweiten Absatz seines Kommentars verkennt P. M., dass es Nadler keineswegs "nurmehr um das Aufklären der schon vollendeten Tat" geht. Es geht ihm, sogar vorrangig, um die Abwendung des Todes und damit zugleich "um das Verhindern einer bevorstehenden Tat", nämlich der Tötungstat, für die Kelz verantwortlich wäre. Es stimmt nicht einmal, dass Kelz die "Entführung ... ja beendet" habe. Paragraph 239a StGB ("erpresserischer Menschenraub") ist ein sogenanntes Dauerdelikt. Der Täter begeht es nach der Gefangensetzung des Opfers andauernd, und beendet ist es erst mit dessen Befreiung. Nadler zielt also auch insoweit auf das Verhindern einer weiterhin "bevorstehenden Tat".

Was (in Nadlers Sicht) die Notwehrvoraussetzungen angeht, so habe ich geglaubt, sie bei aller Problematik als erfüllt ansehen zu dürfen. Das ist besonders für das Merkmal "erforderlich" zu betonen. Nadler hat den Dauerangriff des Kelz zunächst mit dem milderen Mittel des bloßen Androhens von Misshandlung abzuwenden versucht und damit Kelz – man beachte die Definition – noch nicht gefoltert. Als das nicht reichte, hat er Lisa durch das Waterboarding zu retten versucht, eine schrecklich anzuschauende Zufügung von körperlich-seelischem Leid, das den Zuschauer, wie beabsichtigt, stark mitleiden lässt (allein mit Kelz, weil ihm Lisas Leiden und das ihrer Eltern nicht gezeigt werden). Aber es gibt wohl kaum ein Misshandeln, das nach der Beendigung so schnell und folgenlos abklingt. Darum hat Elisa Hoven nach meiner Einschätzung recht mit ihrer etlichenorts vorgetragenen These, dass Nadler sich subjektiv in den Grenzen des Paragraphen 32 StGB bewegt habe und straffrei bleiben müsse: "Die Tat wird nicht deshalb zu einem Nötigungs- und Körperverletzungsunrecht, weil der Täter als Amtsträger handelte."

Nadler hat, das ist unser gemeinsames Ergebnis, kein deliktisches Unrecht begangen. Hovens überraschende Lösung ist im Ganzen strafrechtlich gerechtfertigt, aber dienstrechtlich im Unrecht wegen Verstoßes gegen das "absolute Folterverbot". Diese Lösung sucht ersichtlich einen Kompromiss mit der herrschenden Lehre (Folter ist immer Unrecht) zu schließen. Ich sehe die dienstrechtliche Norm nicht, die eine so problematische Regelung träfe: Für Amtsträger die Einschränkung eines jedermann zustehenden Rechtes, nämlich der straf-, zivil- und polizeirechtlichen Erlaubnis, in den Grenzen der Notwehrbestimmungen (Paragraphen 32 StGB und 227 BGB) durch Angriffsabwehr das eigene Leben und das Leben anderer Menschen zu retten.

Mein hauptsächlicher Einwand ist aber, dass die herrschende Prämisse, von der Hoven ausgeht, nicht stimmt. Es gibt kein "absolutes Folterverbot". "Große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden" (Artikel 1 UN-Antifolterkonvention) dürfen Amtsträger, auch wenn in amtlicher Eigenschaft handelnd, anderen Menschen in vielen Situationen vorsätzlich zufügen. Das Quälen eines Menschen durch einen gezielten Schuss, das heftige Einschlagen auf Demonstranten mit dem Schlagstock, die Misshandlung menschlicher Augen mit Tränengas, das brutale Fixieren eines sich verzweifelt wehrenden Patienten in der Klinik, die richterliche Trennung von Mutter und Kind, die beiden grausames seelisches Leid zufügt, das alles ist nach gültiger Definition Folter und kann doch zweifellos erlaubt sein.

In einer aufwändigen Internet-Debatte am 5. Januar hat Thomas Weigend viele überzeugt mit seinem Hinweis auf Paragraph 136a StPO und die dort verhängten Verbote: Dem Polizisten sei seine "Vernehmungsmethode" wegen des Einsatzes von "Misshandlung" verboten gewesen (Absatz 1 Satz 1) und aus der Verbotsmissachtung folge, dass es dem Gericht verboten war, die erzwungenen Aussagen des Angeklagten zu verwerten (Absatz 3 Satz 2). Ich sehe mich nicht überzeugt. Von Schirach lässt Brandauer die triviale Sentenz in den Raum stellen, dass es "keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis" gebe. Klar, aber genauso selbstverständlich ist, dass es bei Verboten keine Ausnahmeverneinung um jeden Preis gibt. Nicht einmal das Verbot, einen Menschen zu töten, gilt ausnahmslos.

Angenommen, die Rettung eines Menschenlebens hängt davon ab, dass der Beschuldigte das Verließ offenbart, worin er sein kindliches Opfer versteckt hält. Angenommen ferner, der vernehmende Polizist bemerkt, dass der Beschuldigte nach langer Befragung wegen beginnender Ermüdung drauf und dran ist, zu gestehen und die rettende Auskunft zu geben. Welch eine absurde Forderung, der Polizist müsse jetzt die Vernehmung abbrechen und das Kind dem Tode ausliefern, weil eine ermüdungsbedingte "Willensentschließung" des Beschuldigten bevorstehe! Ich verstehe Paragraph 136a StPO mit Blick auf unseren Fall wie folgt: Dem Polizisten Nadler war eine Vernehmung mit Einsatz des Druckmittels "Misshandlung" grundsätzlich verboten. Weil hier aber die Misshandlung als ein Akt der Notwehr erlaubt war, das Verbot also ausnahmsweise zurücktrat, sind Kelz' Aussagen nicht "unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen". Darum durften sie verwertet werden, was von Schirach verkannt hat.

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