Erste Professur für Religionskritik in Leipzig

Religionskritik mit "heiterer Gelassenheit"?

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Karlheinz Deschner
Karlheinz Deschner

In Leipzig gibt es seit Beginn dieses Jahres – neben der an vielen anderen hiesigen Universitäten etablierten Religionswissenschaft – erstmals im deutschsprachigen Raum eine Professur für Religionskritik. Der Stifter Adolf Holl, namhafter "innerkirchlicher" Kirchenkritiker, habe, so Horst Junginger, Inhaber dieser Stiftungsprofessur, "ein sehr entspanntes Verhältnis" zur Kirche, das "auch anderen an(zu)raten" sei. Junginger versteht Religionskritik als eine "systematische Wissenschaft": Vor dem "Richterstuhl der menschlichen Vernunft" im Sinne Kants könnten "weltanschauliche" Religionskritiker, zumal mit dem "Aggressionspotential" des "wohl profiliertesten deutschen Kirchenkritiker(s)" Karlheinz Deschner, nicht bestehen. Kritische Anmerkungen von Gabriele Röwer zu einem Beitrag von Christian Röther für "Tag für Tag – aus Religion und Gesellschaft" im Deutschlandfunk (DLF) am 22. Januar 2018.

"Jenseits des Kirchenhasses": Unter dieser bezeichnenden Überschrift wurde im DLF die Horst Junginger durch den Stifter Adolf Holl anvertraute Professur für Religionskritik in Leipzig angekündigt. Das weist tendenziös voraus auf den im Beitrag des Religionswissenschaftlers Christian Röther für die Religionskritik im 20. Jahrhundert allein genannten Autor der Kriminalgeschichte des Christentums (Abk. KdC), Karlheinz Deschner (1924-2014). Dessen – angeblich! – biographisch fundierter ("Verarbeitung der eigenen Lebenserfahrungen") – angeblicher! – "Hass" gegenüber der katholischen Kirche (wieder und wieder von seinen Gegnern kolportierte Vorurteile!) habe, wie auch die "weltanschauliche Religionskritik" von der Antike (etwa Xenophanes) bis in die Neuzeit (genannt werden pars pro toto Marx, Feuerbach, Nietzsche), in der von Junginger angestrebten "systematischen Auseinandersetzung mit der Religion" keinen Platz. Denn "diese Art von Kritik" greife "Religionen scharf an", wolle "sie teils sogar abschaffen". "Systematische Religionskritik" hingegen solle sich wie bei Adolf Holl (wegen innerkirchlicher Kritik vom Priesteramt suspendierter Theologe) "mit einer heiteren Mine (sic!) ihren Gegenständen nähern".

Ein Lehrstuhl für Religionskritik erstmals in Deutschland? Anfängliche Spannung weicht leider bald – wegen fehlender bis allzu verengender Definitionen sowie Verfälschungen des Impetus von Karlheinz Deschners Lebenswerk – Enttäuschung und Skepsis, das vermissend, was ich sonst an dieser Magazinsendung des DLF zumeist schätze: "… dass Themenkomplexe intensiv aufbereitet und Hintergründe dargestellt werden" (zitiert nach Rundfunk evangelisch.de; Katholische Hörfunkarbeit). Wer von Karlheinz Deschner kaum belegbare Kenntnis hat, sollte dessen Leistung nicht in einem wenige Zeilen umfassenden Rundumschlag desavouieren, noch dazu in einem so prominenten Rahmen wie dem des DLF. Der Klarstellung gravierender Fehlbehauptungen über Deschner ist der zweite Hauptteil (Abschnitt 4) der folgenden kritischen Anmerkungen zu diesem DLF-Beitrag gewidmet.

1. Was bedeutet "systematische" (=wissenschaftliche) im Kontrast zu "weltanschaulicher" Religionskritik?

Diese Kontrastierung bleibt leider ohne jede Konkretion (ist doch alles Schreiben, auch das "wissenschaftliche", von der "Weltanschauung" der Autoren mitbestimmt, zumal das von kirchenfreundlichen Religionskritikern) – Jungingers Berufung auf Kants Kritizismus ausgenommen. Für Kant jedoch, dessen Schriften, neben jenen Schopenhauers und Nietzsches, bereits in den Schul- und Studienjahren zur geistigen Loslösung Deschners vom Christentum führten und auf den sich auch Jungingers "systematische" Kritik beruft, gibt es in der Kritik der theoretischen Vernunft (1781) Erkenntnis nur "innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" – ein Fanal für die geistige Revolution im Vorfeld von 1789 mit Absage an alle metaphysischen Glaubenssätze. Erst die Kritik der praktischen Vernunft (1788) öffnete diesen mit ihren Postulaten von "Gott, Freiheit, Unsterblichkeit" die Pforten (vgl. hierzu – "Glaubensbedürfnis des alten Lampe" – unübertroffen decouvrierend Heinrich Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie, 3. Buch).

Vor dem Hintergrund von Kants erster Kritik ist indes, gelinde gesagt, zu bezweifeln, dass nur – und ausgerechnet – Menschen mit einem von Junginger angeratenen "sehr entspannten Verhältnis zur Kirche" einer "systematischen" = wissenschaftlichen Religionskritik fähig sind. Andere nicht? Etwa die säkulare GBS (Giordano-Bruno-Stiftung zur Förderung eines evolutionären Humanismus)? Ihre Anfänge vor etwa 25 Jahren gehen laut Aussage ihres Stifters Herbert Steffen auf Karlheinz Deschners historisch-kritische Analyse der Glaubensgrundlagen des Christentums von 1962 in Abermals krähte der Hahn zurück, eine Auswertung der wissenschaftlichen Ergebnisse der modernen Theologie beider Konfessionen. Der wissenschaftliche Beirat der GBS versammelt etliche der (im Sinne von Kants Kritik 1781) besten Köpfe nicht nur unseres Landes. Mit Beiräten wie dem in Ägypten verfolgten islamkritischen Historiker und Autor Hamed Abdel-Samad und durch Mitinitiierung des Zentralrates der Ex-Muslime sowie der "säkularen Flüchtlingshilfe" bezieht die GBS in ihr wissenschaftliches und ethisches Engagement die Förderung von Aufklärung und Humanismus auch in nichtchristlichen Kulturkreisen ein. Die von der GBS mitbegründete fowid (Forschungsgruppe Weltanschauung in Deutschland) trägt durch wissenschaftlich erfassbare Informationen wesentlich zu einer von Junginger geforderten seriösen Kritik auch von Religion und Kirche hierzulande bei, indes durchaus nicht in einem von ihm dafür angeratenen "entspannten Verhältnis" zu jener.

2. Kritik der "Religion": Welche der vielen Bedeutungen von "Religion" ist gemeint?

Der Sammelbegriff "Religion" umfasst bekanntlich, was im DLF-Beitrag nicht einmal angedeutet wird, eine Unzahl von Fragen nach dem, "was die Welt im Innersten zusammenhält", ebenso eine Unzahl von Versuchen einer Antwort, mit jeweils unterschiedlichen ethischen Konsequenzen. Am Beispiel Karlheinz Deschners wird zudem deutlich, was in dessen (wie zu zeigen ist: fälschlicher!) Herabwürdigung als "Kirchenhasser" ebenfalls übersehen wird, dass auch Agnostiker, welche institutionalisierte (zumal Offenbarungs-)Religionen wie das Christentum scharf kritisieren, sich ohne jedes metaphysische Hintertürchen "religiös" nennen können: mit Goethe das Erforschliche zu erforschen trachtend und über das Unerforschliche schweigend. Und zwar im Sinne von "religio", dem Bewusstsein einer Verbundenheit "mit allem, was ist, einbezogen … in den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen." (Beiheft zu Band 9 der KdC, S. 19). In seinem großen Essay von 1977 Warum ich Agnostiker bin (S. 135) heißt es dazu: "Wer nicht an Gott glaubt – einst ein scheiterhaufenreifes Verbrechen – kann dennoch 'religiös' sein, nennt man so das Bewußtsein schon der Abhängigkeit von oder der Zugehörigkeit zu Gesellschaft, Natur, Kosmos…." (Neuauflage dieser und anderer Schriften Deschners zur Philosophie und Religion – z.B. Ich brauche kein Gottesbild oder Was ich denke – demnächst in der verdienstvollen Alibri-Reihe "Deschner-Edition"). So bewegt denn diesen Autor, mit Richard Dawkins, britischer Evolutionstheoretiker und Religionskritiker, 2007 erster Träger des 2004 durch die GBS gestifteten Deschner-Preises, "wie fast nichts sonst" dessen Bekenntnis, "dieser so traurig anrührende, in das Weltall hinausgestreute Zweifel: 'Kann sein, dass wir die Musik des Universums nie verstehen werden.'" Agnostiker, eine Variante des "homo religiosus"? Von den Herren Junginger und Röther kein Wort auch hierzu – es passt nicht in ihr tendenziös gefärbtes Bild Deschners.

3. Religionskritik: Welche ihrer vielen Varianten sind "wissenschaftlich" in Ergänzung der von Horst Junginger "mit einer heiteren Miene" vertretenen "systematischen" Religionskritik?

Den instruktiven Eintrag "Religionskritik" bei Wikipedia, worin auch die umfangreiche Phalanx namhafter agnostischer und atheistischer Religionskritiker von der Antike bis in die Gegenwart vorgestellt wird, Karlheinz Deschners KdC inbegriffen, eröffnet der Versuch einer Definition durch den Sozialphilosophen Günter Rohrmoser: "Religionskritik stellt Religiosität und Religionen, ihre Glaubensaussagen, Konzepte, Institutionen und Erscheinungsformen rational beziehungsweise moralisch-ethisch in Frage. Sie begleitet die Religionen durch ihre ganze Geschichte." Meine Kursivsetzungen verweisen auf die, im Folgenden nur ansatzweise konkretisierbare, Präsenz des Bezeichneten im gesamten kirchenkritischen Werk Deschners, das, so in diesem Eintrag von Wikipedia, "die inhumanen Wirkungen kirchlicher Machtpolitik und Heuchelei von Christen aller Epochen bis hin zum Klerikalfaschismus" aufdeckt.

Horst Junginger hingegen suggeriert, in Unkenntnis der Fakten, mit seinem Deschner-Bild einen aus der "eigenen Lebenserfahrung" resultierenden, angeblich von Deschner selbst "explizit" bestätigten "Hass gegenüber der katholischen Kirche", der seine aggressive Religionskritik leite. Dadurch sei er als "Vorbild für wissenschaftliche Religionskritik" nicht geeignet.

4. Einspruch gegen Horst Junginger

Deschners Religions- und Kirchenkritik: wissenschaftlich fundiert und ethisch motiviert

Schon Jahre vor der (trotz Georg Denzlers Infragestellung der nachweislichen) Exkommunikation Deschners wegen seiner 1951 zivilrechtlich geschlossenen Ehe mit einer geschiedenen Frau, löste er sich als Schüler und Student durch die gründliche Lektüre von Kant, Schopenhauer (dessen das Tier einbeziehende Mitleids-Ethik für Deschner wegweisend wurde) und Nietzsche geistig vom Christentum. Seine dort vertiefte Skepsis gegenüber jeglichen sakrosankten Setzungen spiegelt sich bereits in den frühen, vielbeachteten Romanen (vor allem Die Nacht steht um mein Haus, 1956) wie in der fulminanten literaturkritischen Streitschrift Kitsch, Konvention und Kunst von 1957, durch die "eine ganze Generation lesen lernte" (Günter Maschke).

Wer ein Werk wie das von Karlheinz Deschner pauschal auf erlittenen Groll über eine Exkommunikation zurückführt, "gipfelnd" gar in der KdC (35 Jahre später!), verkennt mit einer solchen Psychologisierung die Kraft des Denkens, den Drang zur möglichst illusionsfreien Wahrhaftigkeit in einem schon früh erstaunlich autonomen Menschen. Am Ende schreibt er: "Lieber möchte ich in tausend Zweifeln sterben als um den Preis der Lüge in der Euphorie."

Emotionale Befreiung vom heimischen Traditionskatholizismus durch das epochale Werk Abermals krähte der Hahn (1962)

Emotional losgelöst vom Traditionskatholizismus seiner Steigerwälder Heimat, so Deschner, habe er sich erst durch sein 1962 erschienenes Werk mit dem bezeichnenden Titel "Abermals krähte der Hahn – Eine kritische Kirchengeschichte von den Anfängen bis zu Pius XII" (Abk. "Hahn"; vielfach, auch von Alibri 2015 in der Reihe "Deschner-Edition", neu aufgelegt, seit 1972 mit dem Untertitel Eine Demaskierung des Christentums von den Evangelisten bis zu den Faschisten). Dieses Werk, geschrieben, um sich selbst Klarheit zu schaffen, bewirkte weithin Aufklärung über bisher gut gehütetes theologisches Insider-Wissen, mit bahnbrechender Wirkung auch auf nachfolgende Kirchenkritiker wie etwa, einige Jahre später, Joachim Kahl, den damaligen geistigen Weggefährten. Es löste die erste große Welle von Kirchenaustritten in Deutschland aus, machte es doch erstmals, so der Göttinger Theologe Julius Groos, "die Masse der Gebildeten mit den Ergebnissen der modernen Forschung über das Christentum bekannt." Groos' Hoffnung: "Was unseren gelehrten Büchern versagt bleiben wird, Ihrem Werk dürfte es gelingen…"

Durch seine universitären Studien wissenschaftlich versiert, wertete Deschner die Ergebnisse der historisch-kritischen Entmythologisierungs-Forschung zumeist evangelischer, auch katholischer Theologen im Umkreis der Bultmann-Schule akribisch aus und widmete nahezu zwei Drittel seines umfangreichen Werks den vor- und außerchristlichen, zumal jüdischen und hellenistischen Ursprüngen des christlichen Glaubens sowie ihrer biblischen und, wie etwa im Trinitätsstreit des 4. Jahrhundertes, nicht selten gewaltsam herbeigezwungenen dogmatischen Verankerung. Damit ist der Hahn für viele sein wichtigstes, weil die frag-würdige Herkunft und Entstehung des Christentums aufzeigendes, kirchenkritisches Werk – von Junginger und Röther leider (warum?) ignoriert. Deschners gut untermauertes Fazit gibt ein Aphorismus der späteren Jahre wieder, dem Resümee Albert Schweitzers zu dessen Geschichte der Leben-Jesu-Forschung nicht fern: "Vom periphersten Brauch bis zum zentralsten Dogma, vom Weihnachtsfest zur Himmelfahrt: lauter Plagiate." Auch später verdeutlichte er, wie im Hahn, neben der ethischen immer auch die dogmatische Problematik des Christentums (ausführlich in Der gefälschte Glaube – Eine kritische Betrachtung kirchlicher Lehren und ihrer historischen Hintergründe, 1988/1992, und in Bd. III der KdC, 1990).

Im letzten Drittel des Hahn werden – unter dem seither Deschners gesamtes kirchenkritisches Schaffen bis zur zehnbändigen KdC leitenden Motto "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" – der urchristlich überlieferten Ethik einige der dunkelsten, nicht nur damals weithin verborgenen Seiten der Kirchengeschichte gegenübergestellt ("Die soziale Frage", "Das Verhältnis zur Toleranz" gegenüber Juden, Heiden, "Ketzern", Hexen und "Die Stellung zum Krieg" – von der Alten Kirche bis zur Kooperation kirchlicher Potentaten, zumal im Vatikan, mit dem europäischen Faschismus; ausführlich in Mit Gott und den Faschisten, 1965, Ein Jahrhundert Heilsgeschichte, 1982/83 – der inoffiziell 11. Band der Kriminalgeschichte des Christentums (1986-2013; durch ein Kapitel von Michael Schmidt-Salomon aktualisierte Neuauflage bei Alibri 2013 Die Politik der Päpste…).

"Abermals krähte der Hahn?" Die permanente Pervertierung der jahrhundertelang propagierten Ideale einer Liebesreligion, voran Armut und Friedfertigkeit, von Anbeginn aufs Ungeheuerlichste ins krasse Gegenteil – schamloser Luxus und blutige Gewalt gegen Andersdenkende, gegen Konkurrenten um die Macht – durch selbsternannte Stellvertreter "Gottes" bzw. "Christi" auf Erden, ihre fast zwei Jahrtausende währende, auch von Goethe (mit dessen Gedanken über das Christentum Deschner den "Hahn" enden lässt) angeklagte "Heuchelei im Heiligenschein", ihr Verrat dessen, auf den sie sich stets feierlichst beriefen, gab diesem Buch, in Anspielung auf Mk 14, 39.72, den Titel.

Jene Theologen, aus deren reichem Fundus Deschner durchweg schöpfte (gewissenhaft im Umgang mit den Fakten, belegt im ausführlichen Anmerkungsteil mit Quellenangaben zu über 4000 Textstellen wie auch im über 700 Titel umfassenden Literaturverzeichnis), zollten Deschner, dem Außenseiter ohne Mitarbeiterstab und ohne finanzielle Sicherung, große Anerkennung für dieses Werk (siehe deschner.info), darunter Fritz Blanke, Richard Völkl, Martin Werner – der Göttinger Neutestamentler Hans Conzelmann steht für viele: "Deschner hat sich informiert und er wird sich auf nichts einlassen als Information."

Ethisch begründete Einseitigkeit von Deschner Kirchenkritik

Andere jedoch monierten wie für die kirchenkritischen Teile im Hahn, so vor allem für sein Hauptwerk KdC die einseitige, von Mit-Leid getragene Parteinahme Deschners für die Opfer klerikaler Potentaten, das widerspreche einer Wissenschaft "sine ira et studio". Wohl niemals aber wurde diese Einseitigkeit, gerichtet auf die Politik bestimmenden Leitlinien geistlicher und weltlicher Macht und ihre horrenden Auswirkungen, überzeugender legitimiert als durch Hans Wollschläger (Literat und Übersetzer, 1935-2007) in seiner mehrfach publizierten Besprechung des 5. Bandes der KdC am 10.8.1997 im Deutschlandfunk: "Deschner schreibt nicht einfach Kirchengeschichte, etwas Spezielles also, beliebig, sogar kulturgeschichtlich zu Sonderndes; er schreibt als Kirchengeschichte die ganze Geschichte neu – und gibt sie in eben dieser Identität als die Kriminalgeschichte zu erkennen, die sie war. Das geht der gesamten Vertuschungs-Historiographie mitten ins Gesicht, und nur folgerichtig geschieht es mit allen dort verpönten Mitteln: urteilend, wertend – nämlich 'moralisch' wertend, nämlich aus der Sicht der Opfer urteilend, die das alles erdulden mußten: eine Greuel-Chronik ohne Wenn und Aber. 'Differenzierung' verlangt da habituell die Zunft-Kritik, um aus dem Blutsumpf in irgend eine 'Idee' abheben zu können; nichtsda: sie brächte, aus der Nähe der Erduldenden gesehen, keine Differenz. Diese Nähe, an der er unerbittlich festhält, ist Deschners Prinzip – und seine ihm nicht entreißbare Legitimation."

Deschners kirchenkritisches Movens: nicht "Hass", sondern sachlich begründete "Feindschaft"

Nirgends aber – und das bezeuge ich als freundschaftlich-kritische Begleiterin des Werks von Karlheinz Deschner über 40 Jahre hin – sagte dieser "explizit", wie Junginger gar ein Zitat suggeriert, er schreibe "aus Hass gegenüber der katholischen Kirche". Unterstellt wurde ihm "Hass" von Kritikern wie dem Theologen Manfred Lütz. Der Untertitel Die haßerfüllten Augen des Herrn Deschner des von Ricarda Hinz mit Unterstützung von Jacques Tilly 1998 erstellten Videofilmes Karlheinz Deschners "Kriminalgeschichte des Christentums" im Kreuzfeuer  verweist mit seiner ironischen Färbung auf den Kontrast der Interview-Aussage von Lütz zu dem im Foto gespiegelten Menschen Deschner "zwischen Melancholie und Revolte" (so sein Rowohlt-Lektor Hermann Gieselbusch) – nach Willi Winker in einem preisgekrönten Porträt Deschners zum Abschluss der KdC 2013 "der sanftmütigste Mensch, den sich eine Kinderbibel malen könnte".

In der ausführlichen Einleitung zu seinem Hauptwerk "Über die Methode, das Objektivitätsproblem und die Problematik aller Geschichtsschreibung" stellt er klar: "Ich schreibe aus Feindschaft. Die Geschichte derer, die ich beschreibe, hat mich zu ihrem Feind gemacht." Von Anfang an bis hin zur Kriminalgeschichte des Christentums – 1970, 20 Jahre nach (!) Deschners Exkommunikation, zusammen mit Hermann Gieselbusch (1937-2018) konzipiert und vom 1. bis zum 10. Band (1986-2013) unermüdlich vorangetrieben, von Herbert Steffen, Gründer der GBS, seit den 1990er Jahren dankenswert gefördert – leitet Deschners Schreiben also nicht "Hass" (ein von Junginger unterstellter biografisch bedingter Affekt), sondern, Ergebnis umfangreicher Studien, sachlich begründete "Feindschaft" gegenüber jenen, zumal klerikalen, zumeist kurialen Herren, die "im Namen des Herrn" prassten und mordeten – eine Blutspur ohnegleichen durch zwei Jahrtausende. Die vehemente und konsequente Parteinahme für die Millionen und Abermillionen Opfer, die dabei auf der Strecke blieben, leitet somit ein ethisches Motiv, das jeglicher Religionskritik, statt des von Junginger unterschiedslos empfohlenen "entspannten Verhältnisses zur Kirche", "anzuraten" wäre. Dieses Motiv kündigt sich, wie gezeigt, bereits im Titel seines kirchenkritischen Erstlings – "Abermals krähte der Hahn" – an.

Mit Blick auf Kritiker, die ihm Verengung seiner Perspektive oder Fehler vorwerfen werden, fügt er in der oben genannten Einleitung zum Hauptwerk hinzu: "Und nicht, weil ich nicht, was auch wahr ist, geschrieben habe, bin ich widerlegt. Widerlegt bin ich nur, wenn falsch ist, was ich schrieb." Zu widerlegen versuchte man 1992 während eines Symposiums "Karlheinz Deschners Kirchengeschichte auf dem Prüfstand" in der Katholischen Akademie Schwerte die Bände I und II der KdC – letztlich vergeblich, bis auf Ungenauigkeiten in Details (kaum je ganz vermeidbar). Ja, Professor Hans. R. Seeliger, Initiator der Tagung, würdigte den "ethischen Rigorismus" Deschners, allerdings konträr zu dessen Intention als "Partner der Kirchenreform": "Die Kritik Deschners weist auf ein Problem hin, das längst zum Fundamentalproblem der Kirche und Theologie geworden ist: auf das Glaubwürdigkeitsproblem."

Auch Adolf Holl, Stifter der ersten Professur für Religionskritik in Leipzig, merkte in seiner Autobiographie von 1992 an: "Wie furchtbar der Glaubenseifer sein kann, ist in der 'Kriminalgeschichte des Christentums' nachzulesen. Nach der Lektüre wirken all die Päpste, Kardinäle, Bischöfe und Äbte, Theologen, Nonnen, Mönche und Priester von den ersten Anfängen der Kirche bis in die katholische Gegenwart wie eine Bande von Gangstern, deren verbrecherische Machenschaften sich hinter Weihrauchwolken verbergen."

Deschners Haltung gegenüber den "guten Christen"

Doch im selben Buch von 1992 beklagt Holl: "Ausgeblendet ist dabei die lange Geschichte der christlichen Güte, die aus derselben Wurzel sich nährt wie der christliche Eifer."

Holl aber wie auch jenen Christen, die Deschner schrieben, er könne "noch so viele kirchliche Verbrechen zusammentragen", das erschüttere ihren Glauben an Christentum und Christus nicht, wäre mit Deschner zu erwidern, dass seine historisch-kritischen Arbeiten über die durchweg dem Synkretismus des Mittelmeerraumes entwachsenen geistigen und ethischen Grundlagen des Christentums zum einen die Berufung auf den christlichen Glauben ad absurdum führen – und damit jeglichen "Wort-Gottes"-Anspruch biblischer Schriften, zum andern die Berufung auf die Nächstenliebe als eines etwa durch die "Bergpredigt" des Matthäus ausgewiesenen christlichen Propriums verwehre. Voraus ging zum Beispiel, ohne Beeinträchtigung durch den vermessenen Anspruch monotheistischer Offenbarungsreligionen, die von Sokrates inspirierte Ethik der griechischen Stoa und Akademie (siehe etwa Theodor Birt, Von Homer bis Sokrates 2013, Seite 396), gründlich auch dies nachgewiesen schon 1962 in Deschners Hahn, Jahrzehnte später aphoristisch resümiert: "Es gäbe wenige Gläubige auf der Welt, kennten sie ihre Glaubensgeschichte so gut wie ihr Glaubensbekenntnis." Selbst wenn also, so Deschner in der Politik der Päpste (Neuauflage 2013, S. 866), "dies Institut fast zweitausendjähriger Verbrechen eines Tages, aus welchen Gründen immer, Frieden nicht nur predigen, sondern praktizieren, wenn es dafür leiden, schrumpfen, machtlos würde – es bliebe verächtlich, weil es dogmatisch unwahr ist."

Fazit

Welches Werk könnte das von Horst Junginger erstrebte, Deschner abgesprochene "Vorbild" für "wissenschaftliche Religionskritik" sein (umfassend definiert wie etwa von Rohrmoser, siehe oben, nicht verengend wie von Junginger) wenn nicht die Kritik des Agnostikers Deschner an Glaube und Klerus der institutionalisierten Religion des Christentums von den Anfängen bis in die Gegenwart. Sie zeichnet sich aus durch einen hohen ethischen Anspruch (Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeitsempfinden, das Partei ergreift für die Verlierer der Geschichte) und dessen gründliche, von zahlreichen namhaften Fachgelehrten (!) (siehe Anhang) geschätzte, zudem sprachmächtige Realisierung in seinem gesamten kirchenhistorischen Werk. Damit wurde dieses ein wünschenswertes Pendant zur Fülle theologischer ("wissenschaftlicher"?) Apologien der von Deschner aufgedeckten "Kriminalgeschichte" der christlichen Kirche, ein Pendant nicht zuletzt auch zu den Kritiken jener, die ihr, "in einem entspannten Verhältnis", "mit einer heiteren Gelassenheit", nahestehen.

Deschner – kein "Vorbild für wissenschaftliche Religionskritik"? Wohl kaum!

Vom Inhaber des ersten Lehrstuhls für Religionskritik in Deutschland hingegen ist wissenschaftlich Fundierteres zu erhoffen als die vagen, auch desavouierend-verfälschenden Verlautbarungen im DLF/Tag-für-Tag-Interview vom 22. Januar 2018 – über Religionskritik im Allgemeinen und über Karlheinz Deschner insbesondere, den Anspruch dieses Magazins im Deutschlandfunk verfehlend, "dass Themenkomplexe intensiv aufbereitet und Hintergründe dargestellt werden".


Zum Ganzen vgl. auch "Tatsachen gegen Behauptungen: Argumente gegen häufig kolportierte Falschmeldungen über Karlheinz Deschner und sein Werk"