67. Berlinale

Religionskritik, Rassismus und politische Debatte im Kinosaal

Unsere Top-5-Filme zum Themenkomplex POLITIK/WIRTSCHAFT

Combat au bout de la nuit von Sylvain L'Espérance

Griechenland – die Schlagzeile von gestern – ist aus den aktuellen Meldungen verschwunden. Doch die Situation der Menschen dort ist so real wie zuvor, das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps, und die Sparpolitik friert jede Bewegung ein. Poetisch-kämpferisch beobachtet Sylvain L’Espérance in dieser Langzeitstudie den Aufstand ohnmächtiger Putzkräfte oder Werftarbeiter, die den neuen Faschismus analysieren, den Einsatz selbstloser Ärzte in einer durch Spenden finanzierten Sozialklinik und nicht zuletzt die Verzweiflung Geflüchteter, die sich oft in prekäreren Situationen wiederfinden als jenen, aus denen sie geflüchtet sind. Die extremen Bedingungen wecken Solidarität in der krisengebeutelten Unter- und Mittelschicht, die antritt, der Entmenschlichung und Perspektivlosigkeit zu trotzen. Sylvain L'Espérance gewährt Einblicke von einer Einfühlsamkeit und Tiefe, wie sie in der Medienöffentlichkeit schon lange keinen Platz mehr haben. Er interessiert sich für die Außenseiter, die Marginalisierten und für deren Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Nach mehreren Filmen, die er in Mali drehte, wendet er sich nun dem Herzen Europas zu.

Política, manual de instrucciones / Politics, instructions manual von Fernando León de Aranoa

Als Reaktion auf die Bankenkrise und Protest gegen den ungezügelten Neoliberalismus formierte sich 2011 in Spanien die Bürgerbewegung Movimiento 15M (Bewegung 15. Mai), aus der im Frühjahr 2014 die Partei Podemos hervorging, die bereits 2015 als drittstärkste Kraft ins Parlament einziehen konnte. Fernando León de Aranoa, als Spielfilmregisseur bereits mehrfach zu Gast im Panorama, begleitete den Weg der Partei als einer neuen Kraft in Spaniens traditionellem Zweiparteiensystem – bei uneingeschränktem Zugang zu den Anführern der Bewegung Pablo Iglesias, Íñigo Errejón und ihren Mitstreiter*innen. 500 Stunden Filmmaterial verdichtet Aranoa zu genauen Einblicken in interne Krisen, die Bemühungen um Auflösung einer erstarrten Links-Rechts-Dichotomie und den offenen Umgang mit sinkenden Umfragewerten, Korruptions- und Populismusvorwürfen. Einer Gebrauchsanweisung ähnlich zeigt der Film auf beeindruckend gradlinige Art, mit welchen Strategien und medialen Mitteln innerhalb von nur einem Jahr eine neue Wählerschaft mobilisiert und die Kraft der Straße dazu genutzt werden konnte, zeitgemäßere Wege der politischen Mitbestimmung zu gestalten.

Ceux qui font les révolutions à moitié n'ont fait que se creuser un tombeau / Those Who Make Revolution Halfway Only Dig Their Own Graves von Mathieu Denis, Simon Lavoie

Those Who Make Revolution...

"Nach zwölf Wochen Streik, Versammlungen, Solidarität, Verhaftungen, Protest, was haben wir erreicht? Nichts." Nach dem Verebben der studentischen Protestbewegung des "Ahorn-Frühlings" in Quebec, braut sich ein dunkler Sturm der Gewalt zusammen. In frustrierender Ohnmacht und Sehnsüchten nach einem anderen Leben formen Klas Batalo, Ordine Nuovo, Tumulto und Giutizia eine avantgardistische Splittergruppe. Ihre tief sitzende Ablehnung der herrschenden Verhältnisse findet in Aktionen zwischen Spaßguerilla und Molotowcocktails einen ambivalenten politischen Ausdruck. In einer bildgewaltigen, an einem Jahrhundert politischer Ästhetik geschulten Collage aus Szenen und dokumentarischen Fragmenten wird die Isolation der vier spürbar. Auf ihrem von Idealen und Zweifeln geprägten Weg richtet sich der Gestus des Radikalen zunehmend nach innen.

the bomb von Kevin Ford, Smriti Keshari, Eric Schlosser

Unter Verwendung von historischen und aktuellen Aufnahmen, bewusst unchronologisch montiert, wird die Geschichte der Atombombe assoziativ erzählt. Die Dokumente belegen, dass die Bombe bis heute nichts von ihrer Macht und perversen Faszination verloren hat: In bombastischen Militäraufmärschen der Atommächte wird die nukleare Todesmaschine zelebriert. Inder, Nordkoreaner und Engländer marschieren erhobenen Hauptes im Gleichschritt in ihrer jeweiligen Landesuniform. Immer wieder steigen pilzförmige Feuerbälle in den Himmel, erstrahlen grelle Blitze bei Atomtests mit Schweinen, Schafen und Affen, in der Wüste Nevadas oder über dem offenen Meer. Auf einen Kommentar wird verzichtet, vielmehr soll die experimentelle Montage Zusammenhänge schaffen und Reflexionsräume öffnen. Dafür greift "The Bomb" auch auf Archivmaterial zurück, das an die Zeit erinnert, als im US-amerikanischen Fernsehen die "Duck and Cover"-Filme liefen – und an die naive Vorstellung, dass sich radioaktive Strahlung mit Reinigungsmitteln entfernen lasse. Gezielte Irritation und Verstörung sollen die Zuschauer aufrütteln. Ein Appell, den Traum von einer Welt ohne diese Waffe nicht aufzugeben.

Shkola nomer 3 / School Number 3 von Yelizaveta Smith, Georg Genoux

"Vor einem Jahr habe ich gelernt, dass das Leben nicht fair ist. Das denke ich noch immer." In den vertrauten Räumen ihres Alltags erzählen sie von Dingen, die ihnen viel bedeuten, von Erlebnissen, die sie bewegen, von erster Liebe und Verlusten, von Hoffnungen und Ängsten: 13 Jugendliche einer Schule im Donbass, die während des Ukraine-Konflikts zerstört und wiedererrichtet wurde. 13 Leben in einem emotionalen und sozialen Zwischenraum. Den Krieg erwähnen sie nur am Rande, und doch bildet er das Gravitationszentrum der puristischen und zugleich eindringlichen Erzählung. Zwar ruhen in der Kleinstadt die Waffen, aber Frieden herrscht dennoch nicht. Der Dokumentarfilm entstand als Fortführung des Theaterprojekts "My Mykolaivka", das sich einer Wahrheitssuche mit ästhetischen Mitteln verschrieben hat.