Unsere Top-5-Filme zum Themenkomplex GESELLSCHAFT
Colo von Teresa Villaverde
Ein Vater, eine Mutter und eine Tochter in Portugal werden im Alltag von den Folgen der Wirtschaftskrise eingeholt. Es ist ein schleichender Prozess, der das Zusammensein der Familie zunehmend bestimmt, während die schön eingerichtete Hochhauswohnung noch beharrlich von anderen, vergangenen Zeiten erzählt. Der arbeitslose Vater verbringt seine Tage auf dem Dach und blickt auf den Horizont, der ihm keine Zukunft mehr bietet. Die Mutter kommt erschöpft von ihren Doppelschichten nach Hause. Die heranwachsende Tochter hütet ihre Geheimnisse und fragt sich, ob noch Geld für die Busfahrt zur Schule übrig ist. Stets tritt die Kamera einen Schritt zurück, die bevorzugte Einstellung ist die Totale, um Stimmungen nachzuspüren. Doch das Objektiv registriert keinen Stillstand, sondern zaghafte Vorwärtsbewegungen. Die Familienmitglieder lassen ihre bisherigen Rollen hinter sich, das Verhältnis untereinander verändert sich und unerwartete Wege tun sich auf. Vielleicht sind sich Vater, Mutter und Tochter noch gar nicht darüber im Klaren, aber sie sind längst dabei, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und neu zu gestalten.
Mr. Long von Sabu
Profikiller Long aus Taiwan übernimmt einen Auftrag in Japan. Als die Sache schiefläuft, muss er fliehen und findet schwer verletzt Unterschlupf in einem verlassenen Viertel einer Kleinstadt. Ein kleiner Junge bringt ihm Wasser und Kleidung. Long richtet sich in einem der heruntergekommenen Häuser ein und bereitet für sich und den achtjährigen Jun, dessen Mutter Lily drogensüchtig ist und wie Long ebenfalls aus Taiwan stammt, einfache Gerichte zu. Schnell spricht sich in der Nachbarschaft herum, wie schmackhaft Long kochen kann, und die Nachbarn besorgen ihm eine fahrbare Suppenküche. Bald stehen die Leute Schlange für Longs Nudelsuppe. Mit seiner Hilfe schafft Lily den Drogenentzug, und für kurze Zeit sieht es so aus, als könnte für die unkonventionelle Schicksalsgemeinschaft ein neues Leben beginnen. Die Suche nach einem Weg aus der Spirale der Gewalt, nach Ruhe und Geborgenheit durchzieht das Werk des japanischen Regisseurs Sabu. Nahtlos reihen sich dabei raue Szenen eines Gangsterfilms an zarte Momente einer sich anbahnenden Liebesgeschichte, und perfekt choreografierte Gewaltausbrüche werden mit kontemplativen Koch-Szenen oder überraschenden Slapstick-Einlagen kombiniert.
Acht Stunden sind kein Tag von Rainer Werner Fassbinder
Private Zerwürfnisse und Familienstreitigkeiten sind Dreh- und Angelpunkt früher deutscher Serien. Auch Rainer Werner Fassbinder stellt eine Familie ins Zentrum seines Mehrteilers, verlagert die Probleme jedoch in die Gesellschaft hinein: Es geht um Tarifverhandlungen, Gewerkschaftssitzungen, Streiks und das Ringen um Mitbestimmung am Arbeitsplatz, vorgeführt anhand des Arbeitsalltags und Privatlebens einer Familie von Werkzeugmachern. "Acht Stunden sind kein Tag" gehört zum Genre des sogenannten Arbeiterfilms, das vom WDR Ende der 1960er-Jahre entwickelt wurde und für einen kurzen Zeitraum die Auseinandersetzung mit der sozialen Realität und den ökonomischen Zwängen in der Bundesrepublik ermöglichte. Die Hauptfiguren kommen aus drei Generationen, deren jeweiliges Lebensgefühl zwischen progressiven Ideen und konservativen Werten skizziert wird. In seiner typischen, am Melodram orientierten Tonlage demontiert Fassbinder die Heile-Welt-Stimmung deutscher Nachkriegsproduktionen und nimmt Motive seiner späteren Frauenfilme vorweg. Luise Ullrich, Kinostar der 1950er-Jahre, spielt die Oma, Hanna Schygulla eine kleine Angestellte. Zwei Frauen, die um Glück und Solidarität kämpfen.
Belinda von Marie Dumora
Die Kamera ist immer dabei. Über Jahre hinweg begleitet sie Belinda, die in extrem prekären Verhältnissen aufwächst. Man lernt das Mädchen im Alter von neun Jahren kennen: ein trotziges Energiebündel, das es sich und den anderen nicht leicht macht. Mit ihrer Schwester lebt sie im Kinderheim, doch ihre gesetzlichen Vormünder wollen die beiden trennen. Die Mädchen hauen ab, ziehen durch die Wälder. Sie wollen nicht ohne einander sein, erklären sie einem Betreuer, der meistens nur telefonisch präsent ist. Als 15-Jährige teilt Belinda ihm mit, dass sie sich eine Zukunft als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft nicht vorstellen kann. Viel lieber möchte sie als Mechanikerin arbeiten. Ihre Schwester hat inzwischen ein Kind bekommen. Gestylt und auf High Heels geht Belinda als Patin zur Taufe. Ohne sich jemals einzumischen, macht der Film den Hintergrund der Jenischen sichtbar, die in keinem EU-Staat als nationale Minderheit oder Volksgruppe anerkannt sind. Als Belinda 23 Jahre alt ist, will sie heiraten, doch ihr Freund sitzt im Gefängnis. Sie schickt ihm Liebesbriefe und wartet auf seine Rückkehr. Belinda wird zu einer anrührenden Liebesgeschichte, geschrieben vom wahren Leben.
Bayang Ina Mo / Motherland von Ramona S. Diaz
Ein öffentliches Krankenhaus in Manila beherbergt eine der größten Geburtsstationen der Welt. Sie ist Rettungsanker für werdende Mütter, die ihr Leben am äußersten sozialen Rand fristen. Täglich werden hier bis zu 100 Babys geboren. "Motherland" folgt drei Protagonistinnen während ihres Aufenthalts inmitten hunderter Frauen. In der Tradition des Cinéma vérité verzichtet Regisseurin Ramona S. Diaz auf jegliche Interviews, beobachtet das bloße Geschehen: überfüllte Flure und Doppelbelegungen von Betten zur Bewältigung des Geburtenansturms, Informationsvermittlung durch Mikrofonansagen, Besuchszeiten als logistisches Großunterfangen. Ein Baby geht verloren, taucht wieder auf. Geburtsvorgänge, wie beiläufig eingefangen. Dazwischen preisen Sozialarbeiterinnen unermüdlich die Vorzüge von Familienplanung. "Motherland" ist mehr als ein Institutionsporträt, liefert ebenso vielschichtige Einblicke in die philippinische Gesellschaft, die geprägt ist von tief verankertem Katholizismus, Ohnmacht der Armen – und Geburtenexplosion. Doch über allem schweben Humor und menschliche Wärme. Mütter gebären Leben, und Leben gebärt Geschichten. Selten ist man beidem zugleich so nah gewesen.