Interview zum religiösen Extremismus

"Vielfalt ist wichtig, aber nicht um den Preis von errungenen Freiheitsrechten"

Was fördert Religiosität Ihrer Erfahrung nach eher: die Neigung zum Extremismus oder die Abneigung gegenüber extremistischen Ideologien?  

FM: Die Praxis zeigt uns, dass nahezu alle "Fälle" in unseren Beratungen eher aus liberalen oder nichtreligiösen Familien kommen. Durch ihr Nicht- beziehungsweise Halbwissen sind diese jungen Menschen besonders anfällig für rigide ausgelegte Auszüge aus dem Koran und Missionierungsversuche von Hasspredigern. Religiosität verbindet sich für viele Muslime mit dem Gefühl von kultureller Identität und Sicherheit und liefert Jugendlichen häufig auch eine Orientierung an gemeinsamen Werten und Normen, die durch die Eltern weitergegeben werden.

Götz Nordbruch | BAG Religiöser Extremismus
Götz Nordbruch | BAG Religiöser Extremismus

GN: Religion ist letztlich das, was Menschen daraus machen. Das gilt für den Islam genauso wie für das Christentum oder das Judentum. Religionen können das Zusammenleben fördern und dem Einzelnen Halt geben, sie lassen sich aber auch in einer Weise deuten, dass mit dem Glauben ein Anspruch auf Wahrheit und Dominanz einhergeht. Die Herausforderung besteht darin, Jugendlichen eigene Wege aufzuzeigen und sie darin zu bestärken, dass Religiös-sein nicht im Widerspruch zur Zugehörigkeit in der Gesellschaft zu sehen. Für die allermeisten Muslime ist es selbstverständlich, dass sie deutsch und muslimisch sind – im öffentlichen Bewusstsein ist dies aber oft nicht präsent. Die Sarrazin-Debatte hat dies sehr deutlich gemacht. Umfragen unter Muslimen zeigen, dass solche Debatten das Gefühl von Zugehörigkeit unter Muslimen stark beeinträchtigen. Salafisten greifen diese Debatten auf und bestärken das Gefühl der Ausgrenzung und Nichtzugehörigkeit: "Muslime haben in einer nichtmuslimischen Gesellschaft nichts zu suchen." Mit ihrer Ideologie geben sie jenen eine Stimme, die ansonsten den Eindruck haben, nicht zu Wort kommen.

Worin genau besteht die Arbeit der BAG? Ist sie als übergeordnete Struktur gedacht, um bestehende Projekte zu koordinieren, oder arbeiten die Träger eigenständig unter einem Logo?

GN: Die BAG bietet ein Forum für den Austausch von Erfahrungen, die von zivilgesellschaftlichen Trägern in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern und mit verschiedenen Zielgruppen gemacht werden. Diese reichen von der Online-Seelsorge, politischer Bildung, Straßensozialarbeit bis hin zu familientherapeutischer Arbeit mit Angehörigen von Dschihadisten. Diese Vielfalt der Akteure und Ansätze ist eine Stärke der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit in Deutschland – gerade auch im Vergleich mit anderen Ländern. Nur so kann man den zahlreichen Faktoren, die die Hinwendung zu religiös extremistischen Szenen begünstigen, vernünftig entgegenwirken.

Dabei kommt der Zivilgesellschaft eine besondere Rolle zu. Anders als staatliche Stellen ist sie dichter dran, genießt größeres Vertrauen und kann schneller reagieren. Und sie steht nicht im Verdacht, allein sicherheitspolitischen Interessen zu folgen. Daher geht es in der BAG nicht um eine "Vereinheitlichung", sondern gerade darum, die verschiedenen Facetten und Handlungsmöglichkeiten sichtbar zu machen. Die Aufgabe der BAG besteht auch darin, die Erfahrungen der Zivilgesellschaft in der öffentlichen Diskussion sichtbar zu machen. In Ländern wie Frankreich beschränken sich die Ansätze noch immer weitgehend auf staatliche Programme – was mit erheblichen Problemen verbunden ist, weil die Angebote nicht glaubwürdig sind und kaum da ankommen, wo sie benötigt werden. Und es fällt dort deutlich schwerer, sich von den sicherheitspolitischen Prioritäten zu lösen. Die BAG will die zivilgesellschaftlichen Ansätze daher stärken und auch gegenüber der Politik vertreten. Dabei lässt sich viel aus den Erfahrungen aus dem Bereich des Rechtsextremismus lernen.

FM: Alle Mitglieder sind völlig autonom in ihrer Arbeit. Wir verstehen uns als Interessenvertretung und Arbeitsgemeinschaft. Die Weiterentwicklung und Qualitätssicherung unserer Arbeit sind unser Anliegen.

In der Gründungserklärung heißt es, dass die BAG die Arbeit der Träger in politischen und fachwissenschaftlichen Diskussionen sichtbar machen möchte. Was für Projekte und Initiativen sind das und wie funktionieren diese? 

GN: Bisher gibt es nur wenige Studien, die etwas über die Wirkung von Ansätzen der Prävention und Deradikalisierung aussagen. Dies ist eine große Lücke, die erst in den nächsten Jahren geschlossen werden wird. Die BAG soll solche Forschungen erleichtern und vor allem auch dabei helfen, diese Ergebnisse in der praktischen Arbeit umzusetzen. Gleichzeitig sind die Erfahrungen der Projekte eine gute Grundlage, um Hintergründe, Ausdrucksformen und Strukturen religiös-extremistischer Szenen zu erforschen. Unsere Mitglieder werden immer wieder mit ihrer Expertise für Forschungsprojekte angefragt, weil es sonst für Wissenschaftler oft sehr schwierig ist, an solche Daten und Einschätzungen zu kommen.

FM: Mittlerweile gibt es einige Projekte in der BAG die auch wissenschaftlich begleitet oder evaluiert werden. Auch haben einige Mitglieder eine langjährige Expertise in dem Arbeitsfeld. Häufig sind wir "Berater*innen" für politische Gremien oder Teilnehmer*innen in medialen Diskursen. Unsere vielfältige Expertise ist gefragt. Durch gemeinsam organisierte Fachtage und Diskussionsveranstaltungen sowie öffentliche Präsenz möchten wir unsere Positionen und Erfahrungen in den gesellschaftlichen und öffentlichen Fachdiskurs einbringen. Die BAG möchte Praxis und Theorie beziehungsweise Wissenschaft miteinander verzahnen, sodass sinnvolle Synergien entstehen können. Wir verstehen uns als eine "voneinander lernende" Arbeitsgemeinschaft.

Beispielbild

Steht dabei eher die Stärkung der Praxis oder der Theorie im Vordergrund?  

FM: Vorrangig geht es um die Stärkung der Praxis. Die Theorie bahnt sich, wie die Erfahrung lehrt, immer ihren eigenen Weg. Wie werden natürlich versuchen unsere praktischen Erkenntnisse auch in wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse einzubringen. Da die meisten Träger aus der Jugendhilfe kommen, muss man unsere Arbeit auch im engen Zusammenhang mit der Weiterentwicklung, Sicherung und Förderung der Jugendhilfe respektive Jugendsozialarbeit sehen. Aber auch die Sensibilisierung und Weiterentwicklung des Bildungs-/Weiterbildungssektors findet in der BAG durch ihre Mitglieder Berücksichtigung. Da die meisten Mitglieder der BAG einen gesellschaftlichen, am Gemeinwesen orientierten Auftrag haben, steht auch die gesellschaftliche und öffentliche Sensibilisierung als ein Aspekt unserer Arbeit im Fokus.

Braucht es Sensibilisierung noch in dieser Zeit, in der es derart viele Vorbehalte gegenüber nicht-westlichen Lebenseinstellungen gibt?

GN: Die aktuelle Debatte konzentriert sich immer noch auf sicherheitspolitische Fragen – und ist nicht selten auch von islamfeindlichen Positionen geprägt. Sensibilisierung bedeutet, die verschiedenen Ursachen von Radikalisierungen zu erkennen und dabei auch ein Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es hier eben nicht um "den" Islam und "die Muslime" geht. Das Problem ist in vielerlei Hinsicht hausgemacht, weshalb Prävention und Deradikalisierung immer auch bedeutet, dass sich die Gesellschaft selbst verändern muss.  

FM: Wir müssen sehr genau hinschauen, um die Rassismusdebatte nicht mit einer Wertedebatte zu vermischen, Menschenrechte sind nicht verhandelbar, Menschenrechtsverstöße sind nicht tolerierbar. Vielfalt ist wichtig, aber nicht um den Preis von errungenen Freiheitsrechten. Das muss sowohl für die Migrationsgesellschaft als auch für die Mehrheitsgesellschaft gelten. Sensibilisierung für Minderheiten und vielfältige Lebensformen sind wechselseitig notwendig. Interkulturelle und diversitätsbewusster Umgang miteinander sollte schon im Kindergarten vermittelt werden und von allen gesellschaftlichen Akteuren gelebt und eingefordert werden. Prävention und Deradikalisierungsarbeit kann nicht losgelöst von Sensibilisierungsarbeit und der Förderung von interkultureller Kompetenz aller Beteiligten gesehen werden.