Künftig wollen sie auch "andere Formen religiös begründeter Extremismen" in den Blick nehmen, heißt es in Ihrer Erklärung. Woran denken Sie da beispielsweise? Spielen religiöse Sekten beispielsweise noch eine bedeutende Rolle in diesen Zeiten?
FM: Wer in dem Themenfeld Radikalisierung arbeitet, sollte sich immer mit den Arbeitsfeldern vernetzen, die ähnliche Phänomene bearbeiten. Denn die Ursachen einer Radikalisierung im Sinne eines "Aussteigen aus der Gesellschaft" sind oftmals die gleichen. Ob andere religiöse Sekten, Neofaschismus oder ein Abdriften in die Kriminalität – in allen Fällen handelt es sich um demokratiefeindliche Haltungen, von Menschen, die sich "abgehängt" und ausgegrenzt fühlen. Wir möchten voneinander lernen und denen ein Netzwerk bieten, die über keine Vernetzungsstrukturen verfügen.
Den Erfahrungen nach herrscht auf Regierungsseite eine große Skepsis gegenüber Untersuchungen von christlich-religiösem Extremismus. Da Sie öffentlich finanziert sind frage ich mich, ob Sie entsprechende Vorbehalte bei der Behandlung ihres Förderantrags feststellen können?
GN: Die Auseinandersetzung mit christlich-extremistischen Strömungen ist tatsächlich schwierig, auch aus politischen Gründen. Positionen, wie sie beispielsweise von einigen evangelikalen Akteuren vertreten werden, werden in der öffentlichen Wahrnehmung nicht in gleicher Weise als Problem gesehen. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, auch diese Formen des religiösen Extremismus zu thematisieren. Zugleich gibt es bisher nur wenige Träger, die sich diesem Thema widmen. Wir hoffen, dass sich dies zukünftig ändert.
FM: Christlicher Extremismus oder auch die Scientologen wurden öffentlich kritisch diskutiert. Extremistischer, menschenfeindlicher Umgang und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen – zum Beispiel auch in religiösen Internaten und Klöstern sorgen immer wieder für Skandale. Derartigen Themen darf sich Politik und Gesellschaft nicht verschließen, auch wenn die Kirchen staatlich subventioniert werden und ihr "Eigenleben" führen. Es darf keine Nischen für Kindesmissbrauch und religiös begründeter Menschenfeindlichkeit geben.
Sie stellen hier stark auf Missbrauch ab. Wie verhält es sich etwa mit den so genannten Lebensschützern, die mit ihren erzreligiösen Ansichten Frauen und Familien in Gewissenskonflikten unter Druck setzen und Frauenärzte, die Abtreibungen vornehmen, bedrohen.
GN: Das Problem geht natürlich über das Problem von Missbrauch hinaus. Für alle religiösen Extremismen gilt, dass sie sehr restriktive Vorstellungen von Geschlechterrollen, sexueller Orientierung oder auch Familienbilder haben. Gesellschaftlicher Pluralismus steht aus dieser Sicht im Widerspruch zur gottgewollten Ordnung. Deswegen treffen sich islamistische und evangelikale Strömungen zum Beispiel in ihrer Ablehnung von Homosexualität. In Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, spiegelt sich das zum Beispiel in Kampagnen gegen eine diversitätsbewusste Gestaltung von Lehrplänen. In der pädagogischen Arbeit wird ein solches Denken nicht erst dann problematisch, wenn es in Gewalt umschlägt, sondern bereits dann, wenn es mit Abwertungen und sozialem Druck einhergeht. Hier ist es zweitrangig, welche ideologische Motivation dahintersteht, problematisch ist das Handeln.
Anfang Januar hat sich der BAG-Vorstand das erste Mal getroffen, um Arbeitsschwerpunkte festzulegen. Auf welche Ziele hat man sich für 2017 verständigt?
GN: In diesem Jahr werden wir die Grundlagen für den Fachaustausch unter den Mitgliedern legen. Die Mitglieder kämpfen alle mit sehr vielen Baustellen, von Fragen nach der Finanzierung der Träger, Problemen bei der tariflichen Eingruppierung der Mitarbeiter*innen, Fragen des Datenschutzes bis hin zu Fragen der Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden, Standards der jeweiligen Arbeit oder der notwendigen Qualifikation der Mitarbeiter. Wir sind gerade dabei, die wichtigsten Baustellen auszumachen und dazu Arbeitsgruppen einzurichten, in denen die Mitglieder gemeinsame Positionen entwickeln können.
Zugleich werden wir schon in diesem Jahr im Rahmen eines Fachtages Erfahrungen aus der praktischen Arbeit vorstellen und dabei auch eine breitere Öffentlichkeit einbinden, die nicht direkt aus der Prävention und Deradikalisierung kommt. Hier geht es zum Beispiel darum, den Wissenstransfer in Regelangebote in der Jugendhilfe und Schule zu fördern.
Anlässlich der Bundestagswahl ist es auch unser Ziel, erste Empfehlungen für eine zukünftige Präventions- und Deradikalisierungsarbeit zu formulieren. Der politische Rahmen ist für die Arbeit der meisten Träger ganz entscheidend. Dies betrifft die Finanzierung der Arbeit, aber auch den rechtlichen Rahmen, vor allem aber auch den politischen Diskurs über Fragen nach der Stellung des Islams in der Gesellschaft, das Selbstverständnis als Migrationsgesellschaft oder das Thema Flucht und Geflüchtete.
Können Sie sich auch einen atheistisch oder humanistisch geprägten Extremismus vorstellen? Wenn ja, wie sähe der aus?
FM: Humanismus und Extremismus? Wie soll das zusammenpassen? Wir müssen nichts konstruieren. Die bestehenden Formen des Extremismus reichen uns als Arbeitsfeld, alles andere wäre an den Haaren herbeigezogen.
Was genau kann die oder der Einzelne tun, wenn sie oder er das Gefühl hat, dass nahestehende Menschen in extremistische Bahnen geraten?
FM: Es gibt in allen Bundesländern Beratungsstellen. Auf unserer Homepage www.bag-relex.de, die noch im Aufbau ist, finden sie die meisten davon. Auch wenn die Seite noch nicht vollständig ist, geben diese Organisationen Auskunft darüber, wo es entsprechende Beratungsstellen in der Nähe gibt. Viele haben auch eine Hotline.
Wie bewahrt man sich selbst vor Extremismus? Gibt es so etwas wie drei goldene Regeln, die man beachten kann?
FM: Den gesunden Menschenverstand nutzen – unterschiedliche Informationsquellen, Medien und den Austausch mit Menschen nutzen. Offenen Umgang mit vielfältigen Menschen pflegen und selber neugierig bleiben. Gute familiäre und freundschaftliche Netzwerke aufbauen und soziales, kulturelles und sportliches Engagement.
Das Interview führte Thomas Hummitzsch für den hpd.
3 Kommentare
Kommentare
Walter Otte am Permanenter Link
• Der Artikel von Thomas Hummitzsch hinterlässt zwiespältige Gefühle.
• Auch an den hpd stellen sich Fragen: Warum wird ein solcher unkritischer Artikel veröffentlicht? Sieht der hpd den ZMR als Verbündeten im Kampf für eine offene Gesellschaft? Ist der hpd neuerdings auf dem islamistischen Auge blind? Oder wurde lediglich oberflächlich recherchiert?
angelika richter am Permanenter Link
"Religiös extremistische Positionen sind heute deutlich sichtbarer als noch vor einigen Jahren.
Es deutet auch einiges darauf hin, dass durch die offensiv proislamische Haltung bzw Propaganda der hiesigen Regierung islamfeindliche Diskurse bestärkt bzw eigentlich lediglich islamkritische oder -skeptische Diskurse erst in diese umgedeutet wurden.
Thomas Baader am Permanenter Link
Zwei Anmerkungen:
Erstens: "Können Sie sich auch einen atheistisch oder humanistisch geprägten Extremismus vorstellen? Wenn ja, wie sähe der aus? FM: Humanismus und Extremismus? Wie soll das zusammenpassen?"
Auch meiner Ansicht nach gibt es derzeit kein Phänomen "atheistischer/humanistischer Extremismus" (auch wenn bisweilen von religiöser Seite so getan wird, als gäbe es das). Dennoch bin ich mit der Antwort nicht ganz einverstanden, denn die Frage ja, ob man sich das vorstellen könnte. JEDE Philosophie/Ideologie/Weltanschauung kann sich theoretisch zum Extremismus steigern, wenn sie an die Schaltstellen der Macht gelangt und dann alle Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen, nicht mehr zulässt. In dem Sinne sind sehr viele Extremismen vorstellbar (atheistisch, humanistisch, feministisch, Vegetarier, Präastronautik etc.), auch wenn sie gegenwärtig nicht existieren und ihre Entstehung eher unwahrscheinlich ist.
Zweitens: "Die Sarrazin-Debatte hat dies sehr deutlich gemacht. Umfragen unter Muslimen zeigen, dass solche Debatten das Gefühl von Zugehörigkeit unter Muslimen stark beeinträchtigen."
Kann nicht sein. Ich habe die Sarrazin-Debatte damals sehr aufmerksam verfolgt und erinnere mich, dass eine Untersuchung festgestellt hatte, dass die meisten Muslime die Debatte gar nicht mitgekriegt hatten und der Namen Sarrazin ihnen gar nichts sagte (die meisten Muslime konsumieren nur Medien ihrer Herkunfstländer, dort war nicht über Sarrazin berichtet worden).