Sarah Spiekermann ist Professorin für Wirtschaftsinformatik und hat ein Buch zu den individuellen, ökonomischen und technischen Bedingungen für einen menschengerechten Fortschritt im digitalen Zeitalter geschrieben.
"Es enthält eine Vision davon, wie wir die Kräfte der Digitalisierung nutzen könnten, um uns zu stärken, statt zu schwächen", sagt die 1973 geborene Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Wirtschaftsuniversität Wien, die zuvor Karriere in der Privatwirtschaft gemacht hatte, über ihr Werk. "Ob die Digitalisierung mit all ihrem exorbitanten Energie- und Ressourcenverbrauch dem Menschen und der Natur letztlich dient, ist offen", heißt es im Vorwort des Buches, das sich der Aufgabe stellt, "zu zeigen, wie wir auf allen Ebenen der Gesellschaft besser und weiser mit dem Digitalen umgehen sollten, um in eine wertvollere Zukunft einzutreten."
Anhand ihres Werdegangs beschreibt die Autorin persönlich und authentisch ihre Erlebnisse in IT-Unternehmen (z. B. auch im Silicon Valley). Ihren Erfahrungen nach steht dort meist das Geld, verbunden mit Effizienzdenken zur Gewinnmaximierung, und nicht der Mensch im Vordergrund aller Aktivitäten. Werte jenseits der Börsennotierung spielen kaum oder gar keine Rolle, sie werden den Produkten bestenfalls nachträglich angedichtet, um sie besser verkaufen zu können. Unternehmen sei es oftmals auch gar nicht wichtig, was für die User ihrer Produkte wirklich von Bedeutung ist. Der Zeitgeist der Gesellschaft habe sich einem permanenten "Höher, Schneller, Weiter" verschrieben, was zum Beispiel den Werten von Google entspricht und zum Teil katastrophale Folgen zeitigt. Die vom Philosophen Max Scheler bereits 1913 definierten fünf Merkmale einer materialen Wertethik (Dauerhaftigkeit, Fundamentalität, soziale Einheit, innere Befriedigung und Absolutheit von Werten, z. B. der Menschenwürde) finden dabei keine, oder nur eine sehr untergeordnete Beachtung.
Die gegenwärtige Form der Digitalisierung erleichtert das Arbeiten und lässt das tägliche Leben besser und effizienter gestalten. Sie schafft aber auch zahlreiche neue Probleme, beispielsweise durch ihre Fehleranfälligkeit, die hohe Gefährdungen in wirtschaftlichen Abläufen, aber auch im privaten Umfeld – Beispiel Flugzeugabstürze durch fehlerhafte Software – beinhalten. Digitale Technologien gaukeln in mannigfacher Weise Kompetenzen und Fähigkeiten vor, die sie nicht, oder nur eingeschränkt, besitzen – viele der damit verbundenen Versprechen können sie nicht einlösen. Dazu kommt, dass eine sorglose Preisgabe eigener, persönlicher Daten Unternehmen und Politikern große Macht einräumt: Mittels vielfach vernetzter Sensoren werden Manipulationen beziehungsweise Überwachungen möglich, die letztendlich zu Lebensbedingungen führen können, die der Gesetzgeber vorgibt. Zu erkennen, dass der digitale Wandel das Leben nicht nur zum Besseren verändert, bildet eine wichtige Voraussetzung, Abhängigkeiten zu vermeiden und Entscheidungsgewalt über das eigene Leben nicht abzugeben.
Nach Ansicht der Autorin bildet vor allem Wissen verbunden mit Freiheit die elementaren Grundlagen einer ethisch vertretbaren Digitalisierung. Trotz Wikipedia und Co. ist eigenes Wissen unverzichtbar; nicht zuletzt, um die Qualität der gelieferten Informationen (das Netz ist voll mit Fakes, Pseudowissenschaft, Faktenverdrehungen und Verschwörungsmythen) beurteilen und das eigene Leben kreativ und innovativ gestalten zu können.
Fortschritt entsteht durch ein tiefes Wertebewusstsein, verbunden mit Wissen und kritischem Denken. Für Sarah Spiekermann bildet die Idee eines "menschengerechten Fortschritts" die Lösung nahezu aller mit der Digitalisierung verbundenen Probleme, wobei sie als Minimum drei Schritte für erforderlich hält:
- Sich der eigenen persönlichen Werte bewusst werden. Dazu gehört, Fragen an sich selbst zu stellen, das Umfeld genau und kritisch zu beobachten, mehr in sich selbst hineinzuhorchen, mehr im Moment zu leben, weniger ständig erreichbar zu sein.
- Als weiteren Schritt rät die Autorin, sich intensiv mit den für sich selbst definierten Werten auseinanderzusetzen, um sie auch wirklich zu verstehen. Dazu kann es notwendig beziehungsweise hilfreich sein, sich entsprechendes Wissen anzueignen, gegebenenfalls externen Rat zu suchen und sich an Philosophien zu orientieren, die sich seit Generationen mit einschlägigen Fragen und Themen befassen.
- Der letzte Schritt liegt nach Sarah Spiekermann in der Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse: im Aufgeben bisheriger und in der Implementierung neuer Gewohnheiten. Dies bedeutet, "mehr gegenwärtig leben" und Unnötiges weglassen. Die Entwicklung neuer Rituale kann dabei sehr hilfreich sein (als eines von zahlreichen Beispielen empfiehlt die Autorin, das Smartphone nicht in der Hosentasche, sondern im Rucksack mit sich zu tragen).
Der Schlüssel zu einem gesunden Umgang mit der Digitalisierung ist Achtsamkeit und bewusstes Wahrnehmen, was diese Technologie mit einem macht und wie man sich mit ihr fühlt. Damit werde es auch leichter möglich, eigenes Verhalten zu hinterfragen beziehungsweise zu ändern. Die Zielfunktion dabei sei "ein gutes Leben, die Eudaimonia, bei der das Geld nur eine Randbedingung bildet".
Sarah Spiekermanns Buch bietet, stellenweise sehr weit ausholend, eine gut recherchierte, informative Zusammenschau aller Fragen zum Thema Werteentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung. Sehr umfangreiche Anmerkungen und Literaturangaben erleichtern das Verständnis auch schwieriger Themenbereiche. Mit dem Schlusssatz der Autorin: "… ich bin sicher, dass wir uns an einem Punkt unserer Zivilisationsgeschichte befinden, wo wir umdenken müssen. Eine gigantische Umorientierung unseres Handelns liegt vor uns, wenn wir den Weg einer digitalen Ethik gehen wollen – ja, überhaupt ethisch leben wollen …" kann es einschlägig Interessierten empfohlen werden.
Sarah Spiekermann, Digitale Ethik – Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert, 2019, Droemer Verlag, 304 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-426-27736-2