BERLIN. (hpd) "Mit Frauen und Untertan umzugehen ist äußerst schwierig", diesen Satz von Konfuzius stellte Karen Duve ihrem neuen Roman voran. Am 18. Februar 2016 erschien das Buch und sozusagen zeitgleich Rezensionen. Der Bogen spannt sich dabei von witzig, böse, prophetisch, aktuell, komisch, finster bis zum Wortspiel einer "Poetologie der Hoffnungslosigkeit" – man stritt und debattierte.
Klar, es geht erst einmal um die Macht von Frau an Mann und umgekehrt. Umwelt, Tierrechte, das optische Altern nach Lust und Laune zu manipulieren. Dafür stieg die Autorin als Ich-Erzähler in das Jahr 2031 und in die Rolle von Sebastian Bürger, ein "frauenhassender Psychopath" oder ein armes Würstchen. Nach der Lektüre des Buches war klar, ein durchgängiges Thema blieb bisher scheinbar unberührt und ohne Nachfrage: Die Religion.
Wir konnten Karen Duve dazu befragen.
hpd: Gehen wir gleich ins Thema?
Karen Duve: Ja.
Wie waren die ersten Lese-Termine?
Ja, schön, es geht jetzt weiter. Nach der Lesung ist vor der Lesung.
Womit beginnst Du eine Lesung?
Was ich lese? Bisher waren alle Lesungen moderiert und mit den Moderatoren abgesprochen. Die ganz heftigen Stellen hätte ich mir aber auch selber nicht ausgesucht. Also einmal habe ich mit dem 2. Kapitel angefangen, das sehr viel übers Setting sagt, über die Zeit, was da so los ist, dann habe ich mit dem 3. Kapitel weitergemacht, das ist die erste Szene im Keller, die nicht ganz so heftig ist, bei der man aber schon einen Eindruck kriegt, worum es da eigentlich im Konkreten geht.
Du schreibst sehr dicht, bietest dem Leser mit Worten konsequent Bilder an, so dass man Dir folgt, ist es Deine Absicht?
Nein, ich finde immer noch, dass Bücher im Kopf der Leserin, des Lesers entstehen dürfen. Nur wenn es um heikle Themen wie Macht, Männer und Frauen, Klimaerwärmung geht, bei denen die Leser sowieso schon vorgefasste Meinungen haben, da möchte ich den Deutungsspielraum nicht ganz so groß lassen.
Die Thematik Mann und Frau steht im Vordergrund, Macht an sich – auch Religion ist Begleiter durch das Buch hindurch. Besprochen wurde dieser Strang bisher nicht. Ist Religion gar nicht so sehr das Thema unserer Zeit?
Das hat bisher tatsächlich noch niemanden so richtig interessiert. Am Ende eines Interviews wird manchmal gesagt: "Haben wir alle Themen abgehakt?" Und da habe ich schon mal gefragt, ob derjenige denn gar nichts zu den Religionen wissen will. "Nein, danke", kam dann, "das ist jetzt O.K. so." (lacht)
Ich habe aber nicht den Eindruck, dass da vielleicht ein Thema vermieden wird, weil es besonders brisant wäre, sondern ich vermute eher, dass diese unangenehmen Szenen im Buch zwischen dem Mann und seiner Frau und dem Machtverhältnis zwischen ihnen, so erdrückend sind, dass daneben kein anderes ‚Pflänzlein’ hochkommen kann.
Das kann ich mir vorstellen. Dennoch ist es für mich interessant gewesen, wie die Menschen sich in deinem Roman drehen und wenden. Von der Kutte des Motorradfahrers zur Kutte der Schächter auf dem Schlachtplatz, da ist doch eine Spur gelegt?
Ja, aber der Motorradfahrer ist nicht der Schächter, der Motorradfahrer gehört zu den Tierschützern.
Genau, aber trägt eben auch eine Kutte. Es sind viele Worte in dem Buch, die durchaus religionsgeprägt sind, weltanschaulich geprägt sind.
Ja, und solche Worte sagen natürlich auch viel darüber aus, wie wichtig für Gruppen die Zeichen ihrer Zugehörigkeit sind. Das funktioniert in beide Richtungen. Für Religionen ist Gemeinschaft etwas sehr Wichtiges, und eine Gemeinschaft kann wiederum sich selbst eine Wichtigkeit geben, indem sie für ihre Erkennungsmerkmale religiöse Ausdrücke benutzt. Wie man dann eben sagt, "Die Jeansweste mit dem gestickten Namen meiner Motorradgruppe, das ist meine Kutte". Auch Fußballfans, sprechen von "ihrer Kutte", weil Fußball ihre Religion ist. Und damit sagt man einmal, wie wichtig einem der Fußball ist, aber es wird damit auch gleichzeitig zementiert, dass Religion die größtmögliche Zuwendung zu etwas ist, darüber geht dann nichts mehr. Wenn man sagen will, das man sich einer Sache mit Haut und Haaren verschrieben hat, dann sagt man: "Das ist meine Religion".
Was verstehst du unter "zivilen Sekten-Durchschnittsmitgliedern"? Du hast noch viele andere ungewöhnliche Worte geprägt.
Mein Buch spielt kurz vor dem Weltuntergang und da gibt es natürlich viele Sekten, zum Beispiel die Johannesjünger der sieben Posaunenplagen, und innerhalb dieser Sekte Hierarchien – Kadergruppen, in die man aufsteigen kann. In den Kader-Gruppen ist sehr streng festgelegt, was für Kleidung die Frauen oder die Männer tragen. Aber es gibt eben auch die unteren Ränge, wo die Leute noch entspannter sind und die Frauen Blümchenkleidern tragen. Natürlich konservative und konventionell weibliche Blümchenkleider, die aber immerhin noch so etwas wie Sinnlichkeit und Lebensfreude ausdrücken, während in den oberen Kreisen schwarz Pflicht ist, um den Endzeitaspekt der Sekte zu betonen.
In der Schlachthofszene sagt die Tierschützerin ja deutlich, es ist besser, Fachleute schächten, als dass sich beispielsweise ein laienhafter Mensch daran wagt.. Das ist eine deutliche Szene, wo Tiere gequält werden, und niemand dabei etwas empfindet. Der Polizist muss zwar kotzen, aber es geht eigentlich alles so weiter, bis die Motorradfahrer kommen und die Schächter sich plötzlich aus Angst vor diesen mit den Tieren verziehen...
Die Grundlage dieser Szene war, das ich einmal zwei Mitarbeiter und die Leiterin der "Animal Angels", Christa Blanke nach Ceuta begleitet habe. Diese spanische Exklave liegt auf dem nordafrikanischen Festland und die grauenhaften Bedingungen, unter denen dort einmal im Jahr das muslimische Opferfest gefeiert wird, sind wahrscheinlich nicht das allerwichtigste Thema der Welt, aber es ist ein Thema, bei dem besonders weggeguckt wird, das anscheinend niemanden interessiert.
Jede Familie, die es sich leisten kann, kauft ein Opfertier, einen Schaf- oder Ziegenbock, dem dann von irgendeinem Stümper – dem Familienvater, der von Beruf vielleicht Bankangestellter oder Optiker ist und mit Schlachten sonst nichts zu tun hat – der Hals durchgeschnitten wird. Da bin ich mitgefahren und habe mir das angeschaut und versucht, so neutral wie möglich darauf zu gucken. Was ich sah, waren total nette und sympathische Menschen, die am Feiern waren und die bloß null Mitgefühl mit den Tieren hatten, die da auf grauenhafte Weise getötet wurden. Die "Animal Angels" sind generell gegen das Töten von Tieren, aber sie sind auch Pragmatiker. Wenn man das Schlachten selber nicht verhindern kann, dann versucht man, soviel Leid wie möglich zu verhindern, etwa, dass die Tiere beim Transport einfach in den Kofferraum geworfen werden oder dass sie unnötig lange gequält werden. Sie versuchen, Öffentlichkeit dafür zu bekommen und arbeiten sogar mit dem spanischen Halal-Institut – einer Einrichtung, die unter anderem über religiös korrektes Schächten wacht – zusammen. Was in Ceuta passiert ist natürlich alles andere als halal. Dass dort jeder einfach schlachtet, wie er es gerade will, ist nicht mit dem Koran vereinbar. Aber die Animals Angels laufen mit ihren Verbesserungsvorschlägen gegen Wände, und dennoch fahren sie jedes Jahr wieder hin, um bei den Tieren zu sein und damit es jemanden gibt, der hinschaut.
Das war für mich eine bestürzende, schlimme Erfahrung. Aber noch schlimmer, als zu sehen, wie die Tiere gequält worden sind, war für mich, zu sehen, wie die Tierschützer darunter gelitten haben. Ihre Hilflosigkeit und ihre Ohnmacht. Auch weil keine Zeitung darüber berichten will.
Den Artikel, den ich dann geschrieben habe, bin ich auch tatsächlich nicht los geworden. Natürlich kann es sein, dass den Redakteuren der Text einfach nicht gefallen hat, es ist rein spekulativ, anzunehmen, dass sie den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit, der Hetze gegen Muslime gefürchtet haben. Zumal ich das Problem, mich mit solcher Kritik in die Nähe von Rechtsradikalen zu rücken, innerhalb des Artikels ja auch thematisiert hatte. Aber ich wollte eben auch zeigen, was ist. Und wenn ich Zensur wittere, werde ich stur. Das letzte Mal, als eine Zeitung einen bestellten Artikel aus inhaltlichen Gründen nicht drucken wollte, habe ich gleich ein ganzes Buch daraus gemacht. Ihr wollt nicht veröffentlichen, dass Tiere bei uns gequält werden – nehmt das! Diesmal hat es nur für ein Kapitel gelangt.
Du zitierst Rabbiner, Imame und natürlich die Johannisbischöfe, die in TV-Talkshows sitzen und sagen, "... ja, das machen wir schon seit Jahrhunderten so und dabei bleibt es". Auf welches Thema gehst du da ein?
Es geht ja in dem ganzen Buch immer wieder um Macht und Ohnmacht und ihre verschiedenen Ausprägungen. In diesem Fall geht es um die Ohnmacht liberaler und aufgeklärter Gesellschaften gegenüber großen Religionen, die einfach wissen, dass sie das Recht beugen können, und die sich deswegen auf Machtproben einlassen: Religion gegen Menschenrechte, Religion gegen humanitäre Auffassungen,...
Wenn also eine Gesellschaft sagt: "Beschneidung von kleinen Jungs, das geht nicht. Wir wollen nicht, dass Kinder verletzt werden, nur damit eine Gottheit damit irgendwie beschwichtigt wird, oder dass Tierquälerei erlaubt ist", dann könnten ihnen die Religionsvertreter ja auch entgegenkommen und sagen: "Stimmt eigentlich, das ist keine schöne Sache, vielleicht sollten wir mal an eine Reform denken."
Stattdessen loten sie die Grenzen aus: Wie weit lässt sich der Rechtsstaat strapazieren? Wenn es nur eine hinreichend große Zahl von Religionsanhängern gibt, die auf die Rechtsbeugung bestehen, ist es praktisch unmöglich ein Recht durchzusetzen. Zumal gerade streng religiöse Menschen häufig konservativ und gesellschaftlich gut eingegliedert sind – die machen brav, was sie sollen, solche Bürger möchte man ja eigentlich haben – und die würde man sonst auf einen Schlag kriminalisieren.
In diesem Punkt des Textes habe ich als Thema den Papst, der sagt, abrahamitische Opfer stehen nicht im Widerspruch zu den Lehren der katholischen Kirche.
Das ist natürlich ein von mir erfundener Papst, ein Roman-Papst, dem ich das in den Mund gelegt habe. Da ist keiner dafür haftbar zu machen. Meine Überlegung dabei war, dass in einer Zeit, in der Sekten wie Pilze aus dem Boden schießen, die großen Kirchen unter Zugzwang kommen und versuchen würden, Splittergruppen oder abtrünnige Christen wieder zu einen, und dann auch anfangen, Zugeständnisse zu machen. Zugeständnisse, wie sie die liberale Gesellschaft an die großen Religionen machen muss und das geht dann weiter, indem die großen Religionen Zugeständnisse an kleine Splittergruppen machen, da es davon immer mehr gibt und die immer mehr an Macht gewinnen, so dass, sukzessive, über die großen Religionen als Einfallstor die abwegigen Meinungen von extremen, religiös fundamentalistischen Menschen in die Gesellschaft einsickern.
Nun doch noch zu den eigentlichen Hauptthemen Mann und Frau sowie voraussehbare Klima-Katastrophen. Die große Birke schlägt im Orkan 2031 der Nachbarin das Dach ein, schon immer war es ihre Forderung, die gefährliche Birke sei zu fällen, mit anderen Worten, die Menschen, wähnen sich weit von Katastrophen entfernt. Diese, würden wohl bei ihren Urenkeln eintreten aber nicht jetzt. Sebastian Bürger nimmt sich in dem Moment vor, "noch heute ein Birkenbäumchen zu pflanzen."
Es ist natürlich ein Roman und keine Prognose über die Wahrscheinlichkeit, wie das Wetter im Jahr 2031 sein wird. Ich habe die Schraube deswegen so eng angezogen, weil es mir für die Geschichte in den Kram gepasst hat. Ganz und gar unwahrscheinlich ist es aber auch nicht, dass es so kommen wird. In den letzten Jahre hieß es ja ständig: "Oh, dass ist jetzt doch viel schneller gegangen, als wir dachten!" Vor diesem Hintergrund ist es wohl vertretbar, anzunehmen, dass sich im Jahr 2031 die Klimaerwärmung schon sehr viel deutlicher ausgewirkt hat, als dass zur jetzigen Zeit erwartet wird.
Du hast das Wort, "Unumkehrbarkeitspunkt" benutzt. Was ist das?
Punkte, an denen es kein Zurück mehr gibt. Wenn man auf einem Zehnmeterbrett steht und es sich anders überlegt, dann kann man ja immer noch wieder herunterklettern, aber in dem Moment, wenn man abgesprungen ist, dann geht es nur noch abwärts – egal wie groß die Reue plötzlich ist. Und so gibt es beim Klimawandel auch einige Punkte, wo man zwar nicht genau weiß, was dann passiert, wo man aber weiß, das ist jetzt brandgefährlich – zum Beispiel das Auftauen der Permafrostböden, wo schlagartig sehr viel Kohlendioxyd und Methan frei wird, oder das komplette Abschmelzen des Grönlandeises, oder eine Veränderung der Meeresströmungen, oder, oder, oder. Es gibt diverse Tipping points, bei deren Erreichen sich das Klima innerhalb kürzester Zeit abrupt ändern würde, und wenn es soweit ist, dann ist das nicht mehr rückgängig zu machen. Das ist das Fatale an dieser ganzen Klimaerwärmung, dass alle aus dem Fenster gucken und sagen: "Och, geht doch noch!" und dabei das Wetter mit dem Klima verwechseln. Es ist ihnen nicht klar, dass in dem Moment, wo man merkt: "Nee, das geht jetzt echt nicht mehr!", es bereits zu spät sein wird. Es muss eingegriffen werden, bevor man es so deutlich merkt und das ist für die menschliche Natur anscheinend äußerst schwierig.
Das Birkenbäumchen ist für mich ein Punkt, mit dem klar gemacht wird, Sebastian Bürger möchte gut und wertvoll sein,
Na ja, er zitiert das angebliche Luther-Zitat, das nicht von Luther ist: "...wenn morgen die Welt unterginge, ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen." Aber, das ist Zynismus, da macht er sich über sich selber lustig. Wenn man weiß, man hat vielleicht noch fünf Jahre zu leben, vor diesem Hintergrund ist "Ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen" doch ein echtes Quatsch-Zitat. Wozu? Als wenn das eine Leistung wäre, für die Zukunft zu planen, wenn es keine gibt.
Gut, er geht ins Einkaufszentrum um eine der im Jahr 2031 seltenen Print-Ausgaben zu suchen. Damit will Sebastian Bürger seiner im Keller von ihm festgehaltene Frau Christine eine Freude machen. Sie reagiert mit einem einfachen Satz: "Ich möcht hier gerne raus." – "Seit ihr Frauen die gut bezahlten Jobs an euch gerissen habt, interessiert es euch nicht mehr, was in uns vorgeht", ist seine Antwort. Auch hätten die Frauen Programme zur Belobigung und Geldprämien aufgestellt, aber das wichtigste fehle: "In den Augen anderer bedeutend zu sein." Bedeutung, die sei den Männern weggenommen worden. Wie geht das? Bedeutung wegzunehmen, Bedeutung bekommen?
Dass Männer Bedeutung bekommen?
Dass Menschen Bedeutung haben, Bedeutung fühlen?
In diesem Fall geht es um den kleinen Bedeutungs-Vorsprung, den Männer Frauen gegenüber haben, einfach, weil sie eben Männer sind. Aber dieser Vorsprung wird – zumindest bei uns – immer kleiner. In den Familien der 50-er und 60-Jahren war das noch klar, dass Papa festgelegt hat, wohin verreist wird, welches Auto angeschafft wird und dass seine Frau sich die Erlaubnis von ihm holen muss, wenn sie arbeiten will. Das ist natürlich ein ganz anderer Status, als wenn man seinem Lebenspartner auf Augenhöhe begegnen muss. Es hat natürlich auch Vorteile, seinem Lebenspartner auf Augenhöhe zu begegnen, weil man dann eine echte Beziehung führen kann. Aber es ist eben auch ein Verlust dabei – Bedeutungsverlust. Es kommt halt darauf an, was einem wichtiger ist.
Ich denke, das es Menschen viel mehr Spaß machen würde, etwas zu arbeiten, was Sinn macht. Dass man selbst seinem Leben Bedeutung verleiht, indem man etwas macht, von dem man überzeugt ist, statt einen fürchterlich langweiligen Weltzerstörer-Job zu erledigen, bloß weil der mit sehr viel Geld und Ansehen verbunden ist. Ansehen, dass man auch noch irrtümlich bekommt. Was man eigentlich will, ist doch Wertschätzung. Das kriegt man aber nur, wenn man etwas wirklich Gutes schafft. Worauf soll man sonst stolz sein? Darauf, dass man bisher noch nicht erwischt worden ist?
Deinem Protagonisten hast Du es da einfacher gemacht: "Nichts hat im Leben mehr Bedeutung als die Person, von der man abhängig ist."
Ja, so funktioniert das – mit Lebenspartnern, mit Kindern, selbst mit Haustieren. Wenn man sein Pferd in eine Box sperrt oder ein Meerschweinchen in einem schrecklichen Käfig hält oder die eigene Ehefrau, die sich eigentlich für die Arbeit an Teilchenbeschleunigern interessiert, in einem Vorstadthaus isoliert und sagt: "Du wartest hier, bis ich später mal Zeit für Dich habe und bis dahin verbringst du den Tag damit, an mich zu denken und auf mich zu warten."
Die werden sich dann natürlich wahnsinnig freuen, wenn man endlich nach Hause kommt. Weil sie keine andere Wahl haben. Weil sie kein eigenes Leben führen. Man kann dadurch Bedeutung in den Augen anderer erlangen, dass man wichtige, sinnvolle Dinge tut oder dadurch, dass man sie vollkommen von sich abhängig macht und ihnen die Möglichkeit nimmt, sich anderweitig zu amüsieren.
Ein Angriff auf männliche Werte, darüber führt der Protagonist Beschwerde.
Sebastian ist natürlich ein extremer Typ, kein Durchschnittsmann. Und doch gibt es auch jetzt schon ein kleines, ständig zunehmendes Vor-sich-hin-Gegrolle und -Gegrummel, ein Unzufriedensein damit, dass es diese Abhängigkeit der Frau von dem Mann nicht mehr gibt und dass damit auch die Männlichkeit an sich ihren alten Nimbus verloren hat.
Schließlich entscheidet sich der Mann zu verschwinden. Paraguay ist sein Ziel auf dem Weg dahin kann er einer Maskulo-Demonstration nicht entgehen. Es geht um den "radikal feminisierten Angriff auf unsere Werte", patriarchalische Werte wieder herzustellen, männliche Überlegenheit fortzuschreiben. Dort sind es Männer aus allen bürgerlichen Schichten und da kommt sein persönliches Drama. Er schafft es nicht, an einer Polizistin vorbei seinen Brief in den Kasten zu werfen...
... ja, der kann nicht einmal den Brief einwerfen, so schüchtern ist er in Wirklichkeit. Ja, da hat er Probleme und die muss er für sich kompensieren.
Was hat er für Probleme?
Na, er ist ein zutiefst verunsicherter Mensch, der sich wünscht, dass die Gesellschaft schon so gestaltet wäre, dass er von vornherein die besseren Karten hätte. Wenn sich Menschen auf Augenhöhe begegnen, dann muss man sich bewähren. Und davor hat er Angst. Er will keine Gleichheit, er möchte die besseren Karten haben.
Auf der Demonstration hat die Ansprache nur ein Wort und das löst Jubel aus: "Männer!"
In dem Moment, als das Wort "Männer!" fällt, gibt der Redner seinen Zuhörern ihre Bedeutung wieder. Er sagt nichts weiter, nur dieses eine Wort und sie begreifen, dieses eine Wort hat doch eigentlich mal ganz viel beinhaltet, war so positiv aufgeladen, dass wir uns gleich super gefühlt haben, wenn es fiel, und das ist es heutzutage irgendwie nicht mehr. Das versucht uns derjenige jetzt zurückzuholen, das steht uns zu, das war doch immer so. Warum soll das jetzt nicht mehr so sein? In anderen Ländern ist es auch so, bei meinen Eltern war es auch so und ich bin der erste, der darauf verzichten muss. Alle anderen ja, ich nein – wieso eigentlich?
Du schreibst den Roman in der Ich-Form und bist in die Rolle des Sebastian Bürger gestiegen. Ist Dir das schwer gefallen?
Nein, das ist mein Job. Ich kann auch in die Rolle steigen von jemanden, der wahnsinnig reich ist oder in einem Krisengebiet lebt. Solange ich mich gut genug informiere, ist das nicht besonders schwierig. Außerdem halte ich diese Männlichkeits- und Weiblichkeits-Unterscheidung in der Gesellschaft größtenteils für ein Konstrukt und selbst da, wo die Geschlechterunterschiede determiniert sein mögen, lassen sie sich gesellschaftlich überschreiben. Ich weiß doch selber gar nicht genau, mag ich nun Rosa, weil ich weiblich bin oder mag ich Rosa deshalb so gerne, weil alle anderen Mädchen in der ersten Klasse auch Rosa tragen und ich eine Außenseiterin wäre, wenn ich nicht mitmachen würde.
Hast Du Wünsche, die Dein Buch begleiten?
Ja, ich wünsche mir, dass es klug gelesen wird. Ich wünsche mir kluge Leser.
Das Gespräch führte Evelin Frerk.
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