Durch die "Klima-Kleber" gibt es wieder Kontroversen zum zivilen Ungehorsam. Dabei handelt es sich aber nicht nur um ein Empörungsthema, gibt es doch bei dieser Protestform ein gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat bestehendes reales Spannungsverhältnis. Zu Betrachtungen darüber laden ein Sammelband und eine Studie ein.
Die "Klima-Kleber" machen ein altes politikethisches und rechtsphilosophisches Problem wieder aktuell: Sie rechtfertigen ihre Straßenblockaden häufig mit einem angeblich notwendigen zivilen Ungehorsam. Handelt es sich dabei um einen Angriff auf die Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates oder um legitime Protestformen im Rahmen eines demokratischen Rechtstaates? Über diese Frage könnte man eigentlich eine anspruchsvolle politikwissenschaftliche und rechtsphilosophische Kontroverse führen. Indessen findet dazu eher eine Auseinandersetzung in Form von Gesinnungsbekundungen und Schlagworten statt. Wer sich tiefgründiger mit Problemstellungen zum Thema beschäftigen möchte, der kann zu einer von Samira Akbarian vorgelegten Studie mit dem Titel "Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation" greifen. Diese ging aus der Dissertation der studierten Juristin und Politikwissenschaftlerin hervor. Erkenntnisleitend ist darin die Fragestellung, "wie verschiedene Konzeptionen des Ungehorsams mit Demokratie und Rechtstaat als Prinzipien und mit der Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates vereinbar sind …" (S. 3)
Der Blick auf eben dieses Spannungsverhältnis ist das genauere Thema. Indessen begründet die Autorin dieses Erkenntnisinteresse nicht näher, denn für eine Dissertation ist ihre Einleitung etwas knapp geraten. Gleichwohl liegt mit dem Buch eine interessante Erörterung zu den entsprechenden Theorien des zivilen Ungehorsams vor. Akbarian beginnt auch beim eigentlichen Anfang, nämlich der Frage, warum man sich als Bürger an das Gesetz halten soll. Auch der alte Sokrates wird bemüht, benannte er doch dafür drei heute als "klassisch" geltenden Gründe. Der antike Denker entwickelte aber auch schon die Grundstruktur einer Philosophie des zivilen Ungehorsams, welche in der erwähnten Erörterung aber doch kein näheres Thema ist. Dafür geht die Autorin dem folgend auf andere Deutungen ein, indessen mit einem auf die eigentliche Deutung bezogenen speziellen Ziel. Es ist bereits erkennbar in dem Titel "Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation". Demnach soll ein Konzept gegen einen Legalismus, aber in einem radikaldemokratischen Sinne entwickelt werden.
Dieses Ansinnen führt auch dazu, dass konstitutionell-liberale Positionen verworfen werden. Ausführlich geht die Autorin gleichwohl auf Ronald Dworkin, John Rawls und Jürgen Habermas ein, wobei hier von "Rechtsstaatliche Dimension. Ziviler Ungehorsam als Integration" die Rede ist. Die Genannten plädierten für eine Auffassung, welche den bestehenden Rechtsstaat akzeptiert und nicht verwirft. Demnach sollte es um einen Gesetzesbruch im Rahmen einer Rechtsordnung gehen, denn die Aktivisten hätten auch die rechtlichen Folgen ihrer Proteste zu akzeptieren. Diese Auffassung schöpft aber für die Autorin die Emanzipationspotentiale nicht aus, was sie für die "Politische Dimension. Ziviler Ungehorsam als Disruption" plädieren lässt. Auch wenn Akbarian das Gemeinte an entsprechenden Theorien veranschaulichen will, so fehlt es ihren Ausführungen doch an einem entsprechenden Problembewusstsein mit inhaltlicher Präzision. Das Dilemma derartiger Interpretationen wird nämlich bereits daran deutlich, dass die gemeinten "radikaldemokratischen Ansätze" lediglich für einen Minimalkonsens stehen.
Und gerade hinsichtlich der Aufmerksamkeit für das Spannungsverhältnis von demokratischem Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam ist das wichtig. Es heißt dazu etwa: "Radikaldemokratischer Protest will … nicht an die geltende Ordnung appellieren, sondern sie radikal infrage stellen und sich damit sogleich nicht nur gegen einzelne Maßnahmen, sondern grundsätzlicher gegen ein gesellschaftliches, politisches oder ökonomisches System wenden" (S. 233). Offenbar ist Akbarian durchaus die Gefahr bewusst, dass das Ergebnis nicht nur progressive Folgen haben muss. Gleichwohl neigt sie leichtfertig zum Abschied von der konstitutionellen Auffassung des zivilen Ungehorsams, die durch "radikaldemokratische" Erweiterungen emanzipatorische Potenziale freisetzen könne. Dies muss aber kein Automatismus für eine zukünftige Entwicklung sein, wenn man die Orientierung am bestehenden demokratischen Rechtsstaat aufgibt. Angesichts des Fehlens klarer Konzepte hätte dies möglicherweise fatale Wirkungen. Aus guten Absichten entstehen nicht immer gute Folgen, gerade nicht in einer von problematischen Umbrüchen geprägten Welt.
Die einleitend erwähnten "Klima-Kleber" kommen nur am Rande in der vorgenannten Studie vor. Dafür liegt zu deren Aktivitäten im genannten Kontext jetzt ein ganzer Sammelband vor:
"Kleben und Haften. Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise", herausgegeben von Maxim Bönnemann, einem Redakteur des Verfassungsblogs. Darin enthalten sind 26 kürzere Beiträge zum Thema, die unterschiedliche juristische Fragen zu den gemeinten Protesten des zivilen Ungehorsams thematisieren. Dabei geht es weniger um die angesprochenen Grundsatzfragen oder Konzeptionen von einzelnen Theoretikern. Eher thematisieren die Beiträge die Frage, inwieweit etwa Blockadeaktionen juristische Konsequenzen haben sollten. Zwar ist der Abschnitt mit "Grundlagen: Ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat" überschrieben. Aber die erwähnte Problematik ist dort nur am Rande ein Thema. Dafür gibt es etwa von Katrin Höffler auch Reflexionen darüber, inwieweit man etwa von den "Klima-Klebern" als "krimineller Vereinigung" sprechen könne. Akbarian ist ebenfalls als Autorin vertreten, behandelt sie doch Diskreditierungen der genannten Protestform.
Im zweiten Block werden "Strafverfolgung und Strafverfahren" thematisiert, ebenfalls mit zwei Beiträgen zur Frage nach der "kriminellen Vereinigung", hier von Klaus Ferdinand Gärditz und Fynn Wenglarczyk vorgelegt. Dabei wird berechtigt auf die fehlende Angemessenheit dieser Kategorie verwiesen, auch im Kontext von deren sonstiger Verwendung. Das dritte Kapitel geht auf "Notwehr und Notstand" ein, wobei es auch um die erfolgende Berufung auf einen durch die Klimaentwicklung beschworenen Notstand die Rede geht. Ein in Flensburg erfolgendes Gerichtsurteil wird dabei ausführlicher sowohl von Jan-Louis Wiedmann und dann von Jana Wolf kommentiert. Und schließlich findet sich noch ein Teil zu "Verwaltungsrechtliche und vergleichende Perspektiven", wo so ein wenig eine Sammlung der übriggebliebenen Texte erfolgt. Dazu gehört etwa ein Beitrag über "Blockierende Beamte", also Aktivsten mit Beamtenstatus bei der "Letzten Generation", hier von Andreas Nitschke. Ganz am Ende stehen noch zwei englischsprachige Texte, die Australien und Großbritannien zum Thema machen.
Bilanzierend betrachtet hat man es mit einem auf tagesaktuelle Problemstellungen bezogenen informativen Sammelband mit kurzen, aber prägnanten Texten zu tun. Leider spielen dabei grundsätzliche Analysen zur Protestform nur eine randständige Rolle, wodurch bestimmte Annahmen bei der Deutung doch etwas unreflektiert und unverständlich wirken. Die meisten Beiträge positionieren sich darüber hinaus zugunsten der "Klima-Kleber", was eine verständliche Auffassung sein mag, aber auch durch anderslautende Kommentare noch bereichert hätte werden können. Denn die Aktionen der "Letzten Generation" sind nicht nur juristisch problematisch, widersprechen sie doch auch bezogen auf die Kommunikation konzeptionell einem zivilen Ungehorsam. Darüber hinaus findet folgender Gesichtspunkt wenig Interesse: Es geht immer um Straftatbestände beim zivilen Ungehorsam, dies ist ein konstitutives Merkmal dieser Protestform. Die Aktivisten wollen auch ihre persönliche Glaubwürdigkeit durch die Hinnahme juristischer Konsequenzen dokumentieren. Fehlende Ahndungen sind demnach nicht in deren objektivem Interesse.
Samira Akbarian, Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation, Studien und Beiträge zum Öffentlichen Recht, Band 62, Tübingen 2023 (Mohr Siebeck), 315 S., 84,00 Euro
Maxim Bönnemann, Kleben und Haften. Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise, Verfassungsbooks, Berlin 2023 (Verfassungsblog), 349 S., Buch: 12,69 Euro, als PDF kostenlos.