Affen reden nicht über das Wetter

BERLIN. (hpd) Gedanken können nicht versteinern, und Gedanken hinterlassen keine Spuren. Dennoch schrieb Michael Tomasello “Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens”. Ganz in der alten humanistischen Tradition, in der Biologie als Naturgeschichte verstanden wurde. Darin steckt freilich zugleich einiges utopische Potential.

Wenn der Mensch so zum Menschen wurde, wie es der Co-Direktor des Wolfgang-Köhler-Instituts für Evolutionäre Anthropologie jetzt rekonstruiert, dann können wir mit Recht einige Anforderungen an den Menschen stellen. Eine menschliche Welt ist möglich. Die Voraussetzungen dafür wurden vor fast einer halben Million Jahren geschaffen, so etwa mit dem Homo heidelbergensis. Mit ihm entstand die geteilte Intention. Diese Hominiden, deren Gehirnumfang nur ungefähr ein Drittel des heutigen Menschen betrug, agierten zum ersten Mal gemeinsam, wobei sie sich nicht nur vorstellen mussten, was der andere sah, was im Prinzip schon ein Schimpanse konnte und selbst Krähen tun, sondern auch, was der andere über ihn dachte, bezüglich dessen, was er dachte und selber beabsichtigte. Nämlich ob seine Kommunikation auf ehrliche Kooperation ausgerichtet war. Er musste sich von nun an um sein Selbstbild sorgen. Tomasello nimmt an, dass flüchtige Koordinationen zwischen den Individuen, die sich jeweils im Auge hatten, so weitreichende Folgen hatten.

Diese These baut auf einer Reihe von Versuchen auf, die Tomasello an seinem Leipziger Max-Planck-Institut mit Menschenaffen und kleinen Kindern machen ließ. Dabei unterschieden sich die kleinen Menschenwesen von den jungen Schimpansen grundsätzlich dadurch, dass sie mit dem Finger auf einen Gegenstand zu zeigen verstanden. Und dass sie an Spielen Gefallen fanden, die darin bestanden, einen Gegenstand hin und her zu geben oder gemeinsam etwa einen Turm aus Klötzchen zu bauen. Tomasello schließt, das komme daher, dass die Vorfahren des modernen Menschen irgendwann einmal dazu übergingen, Nahrung nicht nur in einem Trupp zu suchen, wobei jeder versuchte, der erste zu sein, um das Meiste von der Beute abzukriegen, sondern unter dem Druck zunehmender Bevölkerung gemeinsam zu agieren, um anschließend zu teilen. Man zeigte dem anderen gegenüber nur auf etwas, wenn man erwartete, dass sich der andere etwa mit einer Jagdbeute allein aus dem Staube macht.

Michael Tomasello
Michael Tomasello

Vom modernen Menschen wäre, so Tomasello, darauf der Übergang von der geteilten zur kollektiven Kooperation vollzogen worden. Und damit zur Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis. Sie besteht seither auf der Basis einer prinzipiell austauschbaren Perspektive. Gemeinsame Ziele können seither verfolgt werden, ohne dass alle Beteiligten zugegen sein müssen. Gemeinsame Normen werden eingehalten, “weil man das in unserer Gruppe” so macht. Erst mit dieser kollektiven Kooperation gibt es nach Tomasello Kultur. Sie wurde ermöglicht durch das in der Phase der geteilten Intention erstmals aufkommende Lernen durch das Tun-als-ob zur Demonstration. In der Tat hat man bis jetzt keinen nichtmenschlichen Affen einem anderen etwas vormachen, also den Ablauf einer Handlung allein zwecks Nachahmung ausführen sehen. So aber wurde Können vervielfacht, und Wissen wurde verbessert. Es wurde zugleich unabhängig von Einzelinteressen. Man kann sich denken, was Frans de Waal dem entgegnen würde: Lernen erfolge bereits durch Einfühlung. Durch Beobachten und Nachempfinden, wie es sich anfühlt, diese oder jene Aktion auszuführen. Dehnt sich die Anwendung einer Handlungsweise auf eine ganze Gruppe aus und wird immer weitergegeben, spräche er von Kultur. Wenn die These mit den geringeren Voraussetzungen die bessere ist, bleibt de Waals These nicht so leicht vom Tisch zu wischen.

Allerdings sieht Tomasello alle Elemente des von ihm ausgemachten so effektiven kulturellen Instrumentariums bei den nichtmenschlichen Primaten, wenn auch in einem anderen Modus, vorhanden: Schimpansen haben ein Verständnis von der Situation, in der sie sich befinden. Sie können schlussfolgern: wenn dieses, dann erfolgt wahrscheinlich jenes Ereignis. Und sie operieren auch mit dem Ausschlussprinzip: wenn nicht a, dann auch nicht b. Und sie haben ein Selbstbild in dem Sinne, dass sie eine Handlung wohl in ihrer Vorstellung antizipieren, dazu deren Folgen, um anschließend zu entscheiden, ob es sich lohnt, sie auszuführen oder ob sie etwas besser nicht tun sollten. - Ob zu letzterem wirklich ein Selbstbild nötig ist, darf jedoch bezweifelt werden. Jedes Lebewesen muss über irgendeine Form von mehr oder weniger komplizierter oder simpler Antizipation verfügen. Dies scheint mir im Haben von Zielen schon irgendwie mit inbegriffen zu sein und braucht vielleicht nicht unbedingt ein Selbstbild.

Wer sich wundert, dass die Entwicklung des Menschen sich offenbar allzu sehr in an den deutschen Idealismus erinnernden Triaden vollzog, dem nimmt Tomasello den Wind damit aus den Segeln, dass wahrscheinlich jeder Aspekt, der menschliches Handeln ausmacht, irgendwo schon einmal vorkam, aber eben nicht in dieser Kombination. Machen wir uns aber trotzdem auf die Suche. Zeigt nicht sogar die Biene mit ihrem Schwänzeltanz auf die von ihr entdeckten Blüten? Machen nicht auch Singvögel einander sogar über die Artgrenzen hinweg durch lautes Alarmrufen zum Beispiel auf eine bei Tag “erwischte” Eule aufmerksam? Ja, aber instinktiv. Rinder oder Pferde stupsen ihren Nachwuchs an, um ihn zum Aufstehen zu bewegen oder an das Euter zu schieben. Vielleicht bedarf es dazu nicht einmal eines so komplizierten Mechanismus wie den Instinkt. Vögel lernen Gesänge nicht nur von ihren Eltern, bekannt ist, dass Stare Gesänge und Laute ihrer Umgebung in ihren Gesang einbauen. Schimpansen lernen Zeigegesten zu verstehen, Hunde sogar noch leichter. Diese anhänglichen Vierbeiner entwickeln nach Juliane Bräuer eine weit bessere Aufmerksamkeit und Fähigkeit zur Einschätzung dessen, was ihr Herrchen bemerken kann. Und wer hat nicht schon einen Hund sich mit schlechtem Gewissen anschleichen sehen, nachdem er zum Beispiel das Klopapier über den ganzen Flur ausgerollt hat, möchte man sagen. Und zögert.

Was macht den Mensch zum Menschen? Tomasellos Antwort: die kollektive Intention. An anderer Stelle definiert er, was Geist ist (gemeint ist wohl das englische “mind”): eine gemeinsame Absicht haben können. Der Mensch zeichnet sich durch die Fähigkeit der kollektiven Handlungsabsicht aus. Das klingt nach dem Gesellschaftsvertrag der Aufklärung, diesmal sehr viel naturalistischer erklärt als je zuvor. Andererseits steckt darin auch ein Grund zur Hoffnung. Weil wir gemeinsame Ziele haben können, können wir vielleicht auch allen drohende Gefahren – des Anthropozäns – abwenden. Dieser zutiefst aufklärerische Ansatz kann nebenbei auf elegante Weise umgehen, überhaupt über Phänomene zu reden, die in der Menschheitsgeschichte eine eminente Rolle gespielt haben und noch lange nicht erledigt sind: Tabus und Machtverhältnisse.

 


Michael Tomasello: „Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens“, Suhrkamp Verlag Berlin 2014, 252 S., 32 Euro