Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist

Über die Beliebigkeit christlicher Moralvorstellungen

BONN. (hpd) Der Philosoph Andreas Edmüller führt in seinem Buch “Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist” die ambivalenten Deutungsmöglichkeit dieser Religion auf das Fehlen von Berechenbarkeit und Stimmigkeit in deren Moralsystem zurück. Der Autor entwickelt diese Argumentation systematisch, wobei er sich aber stark am Alten Testament und der Geschichte orientiert, kann gleichwohl für seine Grundpositionen überzeugende Belege vorbringen.

Der Blick in die Geschichte macht deutlich: Im Namen des Christentums wurden Diktaturen und Revolten, Hass und Solidarität, Kriege und Pazifismus, Intoleranz und Nächstenliebe gerechtfertigt. Wie sind solche Ambivalenzen und Widersprüche möglich? Ist das eine jeweils eine angemessene Deutung und das andere jeweils eine missbräuchliche Vereinnahmung gewesen? Doch was ist dann der Maßstab für die Zuordnung? Worin bestehen die Grundlagen der christlichen Moral?

Auf diese Frage gibt der als Privatdozent für Philosophie in München lehrende Andreas Edmüller eine erstaunliche Antwort: Es gibt sie gar nicht! Bereits auf der ersten Seite seines Buchs “Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist” heißt es: “Das Christentum verfügt über keine ernstzunehmende Morallehre” (S. 7). Und weiter betont der Autor: “Die moralische Kompetenz des Christentums entspricht seiner naturwissenschaftlichen – sie ist im Rahmen verantwortungsvoller und vernünftiger Diskussion vernachlässigbar” (S. 8)

Seine Auffassung von der moralischen Beliebigkeit des Christentums macht er zunächst an Aussagen zu individuellen Einstellungen und politischen Vorstellungen deutlich. Der Blick in die Geschichte des Christentums und seine “Heiligen Schriften” veranschauliche: “Christliche Moral rechtfertigt, erlaubt und verbietet alles” (S. 59). Daher stelle sich die Frage, ob auf der Grundlage dieser Religion überhaupt ein Moralsystem theoretisch entwickelt werden könne.

Als Mindestanforderungen an eine solches nennt Edmüller dann Berechenbarkeit und Stimmigkeit und zu deren Sicherstellung dann Grundannahmen und Entscheidungsverfahren. All dies sei dem Christentum indessen nicht eigen. Das macht für ihn der Blick auf die Zehn Gebote, die Bergpredigt, aber auch die ganze Bibel deutlich. Auch für gläubige Anhänger reiche daher diese “Heilige Schrift” in “ihrer schier unerschöpflichen Vielfalt an möglichen Deutungen dem Christentum als moralische Basis nicht aus” (S. 112). Insofern sei sie auf Ergänzungen durch das Naturrecht und die Vernunft angewiesen.

Aber auch hiermit komme man nicht weiter, denn mit dem Erstgenannten könnten auch alle eigentlich nicht miteinander konform gehenden Inhalte als “objektiv wahr” gelten: “Wir haben schlicht und einfach kein Kriterium, das uns sagen würde, ob eine moralische Position dem Naturrecht entspricht oder nicht” (S. 128). Besser würde es auch nicht durch Entscheidungsverfahren, wonach etwa Ableitungen aus den Geboten, Gleichnissen oder Präzedenzfällen erfolgten. Gleiches gelte für eine Delegation der Entscheidung an eine Autorität wie etwa den Papst. Daher schlussfolgert Edmüller in der Gesamtschau erstens, dass “das Christentum über keine Menge an normativen Grundannahmen verfügt, die den Minimalforderungen an klaren Umfang, klaren Inhalt und Stimmigkeit (…) entsprechen würde”, und, “dass das Christentum über kein transparentes und nachvollziehbares Entscheidungsverfahren verfügt” (S. 176). Insofern plädiert er für eine Säkularisierung der Moral und eine strikte Trennung von Religion und Staat.

Edmüller liefert eine beachtenswerte Antwort auf die Frage nach den Gründen für die moralischen Ambivalenzen im Christentums. Dabei betont er nicht dessen negativen, sondern dessen widersprüchlichen Charakter. Seine Beispiele sind eher auf das Alte Testament und die Geschichte konzentriert. Wie er selbst bemerkt, haben die christlichen Institutionen “seit dem Ende des 2. Weltkriegs” (S. 246) eine Anpassung an die moralischen Auffassungen der Aufklärung vollzogen. Dabei stellt sich die Frage, ob man für diese Akzeptanz die Religion gebraucht hätte. Hierauf weisen die Anhänger christlicher Moral gern hin, etwa wenn aus dem Glauben an die Gleichheit vor Gott die Grundlage für moderne Menschenrechte abgeleitet wird. Derartigen Argumentationsmuster hätte Edmüller noch mehr Aufmerksamkeit schenken können. Bei den Ausführungen zu den “nichtchristlichen Grundannahmen” kritisiert er den Bezug auf das Naturrecht, hat aber den Geschichtspunkt der Vernunft vergessen. Aber das ist nur eine Detailkritik an einer imposanten Deutung, die hoffentlich Reaktionen provoziert.

Andreas Edmüller, Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist, Marburg 2015 (Tectum-Verlag), 250 S., 17,95 Euro