BONN. (hpd) Der Philosoph Andreas Edmüller führt in seinem Buch “Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist” die ambivalenten Deutungsmöglichkeit dieser Religion auf das Fehlen von Berechenbarkeit und Stimmigkeit in deren Moralsystem zurück. Der Autor entwickelt diese Argumentation systematisch, wobei er sich aber stark am Alten Testament und der Geschichte orientiert, kann gleichwohl für seine Grundpositionen überzeugende Belege vorbringen.
Der Blick in die Geschichte macht deutlich: Im Namen des Christentums wurden Diktaturen und Revolten, Hass und Solidarität, Kriege und Pazifismus, Intoleranz und Nächstenliebe gerechtfertigt. Wie sind solche Ambivalenzen und Widersprüche möglich? Ist das eine jeweils eine angemessene Deutung und das andere jeweils eine missbräuchliche Vereinnahmung gewesen? Doch was ist dann der Maßstab für die Zuordnung? Worin bestehen die Grundlagen der christlichen Moral?
Auf diese Frage gibt der als Privatdozent für Philosophie in München lehrende Andreas Edmüller eine erstaunliche Antwort: Es gibt sie gar nicht! Bereits auf der ersten Seite seines Buchs “Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist” heißt es: “Das Christentum verfügt über keine ernstzunehmende Morallehre” (S. 7). Und weiter betont der Autor: “Die moralische Kompetenz des Christentums entspricht seiner naturwissenschaftlichen – sie ist im Rahmen verantwortungsvoller und vernünftiger Diskussion vernachlässigbar” (S. 8)
Seine Auffassung von der moralischen Beliebigkeit des Christentums macht er zunächst an Aussagen zu individuellen Einstellungen und politischen Vorstellungen deutlich. Der Blick in die Geschichte des Christentums und seine “Heiligen Schriften” veranschauliche: “Christliche Moral rechtfertigt, erlaubt und verbietet alles” (S. 59). Daher stelle sich die Frage, ob auf der Grundlage dieser Religion überhaupt ein Moralsystem theoretisch entwickelt werden könne.
Als Mindestanforderungen an eine solches nennt Edmüller dann Berechenbarkeit und Stimmigkeit und zu deren Sicherstellung dann Grundannahmen und Entscheidungsverfahren. All dies sei dem Christentum indessen nicht eigen. Das macht für ihn der Blick auf die Zehn Gebote, die Bergpredigt, aber auch die ganze Bibel deutlich. Auch für gläubige Anhänger reiche daher diese “Heilige Schrift” in “ihrer schier unerschöpflichen Vielfalt an möglichen Deutungen dem Christentum als moralische Basis nicht aus” (S. 112). Insofern sei sie auf Ergänzungen durch das Naturrecht und die Vernunft angewiesen.
Aber auch hiermit komme man nicht weiter, denn mit dem Erstgenannten könnten auch alle eigentlich nicht miteinander konform gehenden Inhalte als “objektiv wahr” gelten: “Wir haben schlicht und einfach kein Kriterium, das uns sagen würde, ob eine moralische Position dem Naturrecht entspricht oder nicht” (S. 128). Besser würde es auch nicht durch Entscheidungsverfahren, wonach etwa Ableitungen aus den Geboten, Gleichnissen oder Präzedenzfällen erfolgten. Gleiches gelte für eine Delegation der Entscheidung an eine Autorität wie etwa den Papst. Daher schlussfolgert Edmüller in der Gesamtschau erstens, dass “das Christentum über keine Menge an normativen Grundannahmen verfügt, die den Minimalforderungen an klaren Umfang, klaren Inhalt und Stimmigkeit (…) entsprechen würde”, und, “dass das Christentum über kein transparentes und nachvollziehbares Entscheidungsverfahren verfügt” (S. 176). Insofern plädiert er für eine Säkularisierung der Moral und eine strikte Trennung von Religion und Staat.
Edmüller liefert eine beachtenswerte Antwort auf die Frage nach den Gründen für die moralischen Ambivalenzen im Christentums. Dabei betont er nicht dessen negativen, sondern dessen widersprüchlichen Charakter. Seine Beispiele sind eher auf das Alte Testament und die Geschichte konzentriert. Wie er selbst bemerkt, haben die christlichen Institutionen “seit dem Ende des 2. Weltkriegs” (S. 246) eine Anpassung an die moralischen Auffassungen der Aufklärung vollzogen. Dabei stellt sich die Frage, ob man für diese Akzeptanz die Religion gebraucht hätte. Hierauf weisen die Anhänger christlicher Moral gern hin, etwa wenn aus dem Glauben an die Gleichheit vor Gott die Grundlage für moderne Menschenrechte abgeleitet wird. Derartigen Argumentationsmuster hätte Edmüller noch mehr Aufmerksamkeit schenken können. Bei den Ausführungen zu den “nichtchristlichen Grundannahmen” kritisiert er den Bezug auf das Naturrecht, hat aber den Geschichtspunkt der Vernunft vergessen. Aber das ist nur eine Detailkritik an einer imposanten Deutung, die hoffentlich Reaktionen provoziert.
Andreas Edmüller, Die Legende von der christlichen Moral. Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist, Marburg 2015 (Tectum-Verlag), 250 S., 17,95 Euro
22 Kommentare
Kommentare
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Man kann Autor und Rezensent nur zustimmen. Die in der Bibel verbreitete Moral ist nicht nur in sich widersprüchlich. Sie widerspricht in entscheidenden Punkten heutigem Denken, zum Beispiel:
Das 1. Gebot verneint die Religionsfreiheit und droht mit Sippenhaft (»du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen«, »bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation«). Das 10. Gebot spricht wie selbstverständlich von Sklaven (neuerdings schönfärberisch »Diener« genannt) und stellt Frauen den Sklavinnen und Haustieren gleich, quasi als natürlichen Besitz des Mannes, von Gleichberechtigung der Geschlechter ist keine Rede.
Es gilt vielmehr deutlich auszusprechen: Die uns heute wichtigen Werte und Normen stammen gerade nicht aus der Bibel, sie sind Ergebnis moralisch-ethischer Weiterentwicklung. Es sind dies die Menschenrechte wie Meinungsfreiheit als geradezu grundlegendes Recht, das Recht auf Selbstbestimmung, Gleichheit und Gleichberechtigung, Religions- und Wissenschaftsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und vieles andere mehr. Nichts davon steht in der Bibel, sie steht einem demokratischen, die Menschenrechte verbürgenden Staat geradezu entgegen. Alle diese Rechte mussten dem Christentum bzw. einer politisch agierenden Kirche in verlustreichen Kämpfen abgetrotzt werden. Die Kriterien, nach denen selbst Christen heute die Steinigung von Ehebrecherinnen, das Töten von Homosexuellen oder das Kaufen und Halten von Sklaven ablehnen, obwohl diese Gebote bzw. Aufforderungen alt- und neutestamentlich legitimiert sind, stammen gerade nicht aus der Bibel, sie sind ein Ergebnis der auf Vernunft gründenden Aufklärung.
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Sie behaupten in diesem Forum schon zum zweiten Mal, dass das 10. Gebot "Frauen den Sklavinnen und Haustieren gleich"stelle. Das stimmt nicht. Sie stehen nur im selben Satz.
Zu Sklaverei: Im Mitteleuropa verschwand die Sklaverei bereits im Hochmittelalter. Nach Duns Scotus (13. Jhdt.) sind alle Menschen frei geboren. Die Freiheit könne nur wegen eines Verbrechens (wie heute noch) oder freiwillig verloren gehen. 1435 forderte Papst Eugen IV, "um des Blutes Christi willen" die versklavten Einwohner der Insel Lanzarote unverzüglich in Freiheit zu setzen, andernfalles unterlägen die Besitzer der Exkommunikation. 1537 verbot Papst Paul III die Versklavung von Menschen aller Völker. Erasmus von Rotterdam hat ausdrücklich religiös gegen die Sklaverei argumentiert (mit dem Loskaufopfer Jesu nämlich). All das ganz ohne Aufklärung, aber biblisch begründet.
Jochen Beck am Permanenter Link
Erasmus von Rotterdam war keine kirchliche Autorität. Sein Standpunkt tut für die Lehre der katholischen Kirche nichts zur Sache.
Die Verlautbarung Paul III. richtet sich nur gegen die Vorstellung, dass manche kürzlich entdeckten Völker nicht von Noah abstammten, daher keine Menschen sind und - wie wilde Tiere - grundsätzlich durch Gefangennahme Besitz werden können.
Die herkömmlichen Formen des Erwerbs von Sklaven:
• Erbschaft bzw. Kauf bereits vorhandener Sklaven
• Gefangenahme Ungläubiger in einem „gerechten Krieg“
• Import aus fremden Ländern (Afrikaner)
wurden nicht angetastet.
Die Sklaverei hat ein solides biblischen Fundament (Lk 17, 1.Kor 7, Eph 6, Kol 3-4, 1.Tim 6, Tit 2, Philm, 1Petr 2; es lohnt sich, die Kapitel ganz zu lesen). Alle entgegen stehenden Interpretationen sind an den Haaren herbeigezogen.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Im 2. Buch Mose, Kapitel 20 lautet das 10.
Im 10. Gebot ist zunächst bemerkenswert, als es die Sklaverei als eine selbstverständliche, offenbar auch von Gott nicht in Frage gestellte Ausbeutung von Menschen durch Menschen hinnimmt. Das Sklaventum hat seinen festen Platz im damaligen Weltbild und wird offensichtlich von Gott gebilligt. Darüber hinaus wird in diesem Gebot die Ehefrau Sklaven, Haustieren und Sachen gleichrangig nebeneinandergestellt und wie selbstverständlich als Besitz des Mannes bezeichnet.
Erst unter dem Einfluss der Aufklärung und gegen den Willen der Kirche wurde die Sklaverei abgeschafft und verboten. Der Vatikan schaffte als einer der letzten Staaten Europas erst im Jahre 1838 die Sklaverei ab.
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Im 2. Buch Mose, Kapitel 20 lautet das 10.
Im 10. Gebot ist zunächst bemerkenswert, als es die Sklaverei als eine selbstverständliche, offenbar auch von Gott nicht in Frage gestellte Ausbeutung von Menschen durch Menschen hinnimmt. Das Sklaventum hat seinen festen Platz im damaligen Weltbild und wird offensichtlich von Gott gebilligt. Darüber hinaus wird in diesem Gebot die Ehefrau Sklaven, Haustieren und Sachen gleichrangig nebeneinandergestellt und wie selbstverständlich als Besitz des Mannes bezeichnet.
Erst unter dem Einfluss der Aufklärung und gegen den Willen der Kirche wurde die Sklaverei abgeschafft und verboten. Der Vatikan schaffte als einer der letzten Staaten Europas erst im Jahre 1838 die Sklaverei ab.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Herr Schönecker,
Ihre Version können Sie in Ihrer Erzdiözese predigen. Da mag man sich mit Halleluja und Weihrauch aufs Glatteis führen lassen. Wir wissen Bescheid...
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Zuerst zur Sache:
Dass Sie aber unverdrossen davon ausgehen, dass ich vorsätzlich lüge ("aufs Glatteis führe"); dass sie fix davon ausgehen, dass Ihre Interpretation der biblischen Texte die einzig richtige und sogar mögliche ist; dass Sie nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ein anderer Mensch mit Verstand die Bibel liest und dabei ehrlich zu einer anderen Deutung kommt als Sie - das finde ich beängstigend. Das ist nämlich die Denkweise eines fanatischen Ideologen. Und das ist doch genau das, was Sie bekämpfen wollen.
Sie haben nämlich nicht etwa Argumente angeführt (was für Sie doch angeblich so entscheidend ist). Sie haben mir schlicht und einfach meine Ehrlichkeit abgesprochen. Das halte ich für in höchstem Maße unhumanistisch.
Was an meiner Widerlegung der These, dass "die Kriterien, nach denen selbst Christen heute ... das Kaufen und Halten von Sklaven ablehnen, ... ein Ergebnis der auf Vernunft gründenden Aufklärung" seien, falsch sein soll, weiß ich nicht. Ich habe, zur Klarstellung, mit "Aufklärung" die Epoche ab etwa 1650 verstanden. Eine Kritik an meinem Einspruch könnte aber vielleicht darin bestehen zu erläutern, welche "Kriterien" denn gemeint sein könnten. Die angeborene Freiheit und die goldene Regel waren jedenfalls in der Kirche (und vielleicht auch woanders, z.B. bei den Stoikern) schon zuvor bekannt.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Herr Schönecker,
"Daher (und weil mein AT-Professor ein Experte für das Buch Dtn war) meine strike Ablehnung von Uwe Lehnerts These, mit der ich offenbar zu voreilig war."
Diese Einsicht ehrt sie. Wobei ich mich ernsthaft frage, ob Sie die bis heute frauenverachtende Grundposition gerade der katholischen Kirche wirklich nicht mitbekommen. Können Frauen Priester, Bischöfe, Kardinäle oder Päpste werden? Das ist Diskriminierung und sonst gar nichts.
Ich will dieses Fass hier gar nicht aufmachen, aber von einer Gleichstellung von Mann und Frau ist bis heute nichts erkennbar. Und die positiven Entwicklungen, die z.B. im säkularen Teil Deutschlands erkennbar sind (ich denke an Elisabeth Selberts Kampf für Art. 3 GG) wurden oft genug von der katholischen Kirche behindert, weil deren Verbände gerade 1948 absolut gegen die Gleichstellung von Mann und Frau agierten.
"Dass Sie aber unverdrossen davon ausgehen, dass ich vorsätzlich lüge ("aufs Glatteis führe"); dass sie fix davon ausgehen, dass Ihre Interpretation der biblischen Texte die einzig richtige und sogar mögliche ist; dass Sie nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ein anderer Mensch mit Verstand die Bibel liest und dabei ehrlich zu einer anderen Deutung kommt als Sie - das finde ich beängstigend."
Für mich ist beängstigend, das jemand, der sich hauptberuflich mit der Bibel beschäftigt, nicht deren menschenverachtende Unethik erkennt. Wären Sie ein Folklorechrist, dann würde ich die Verteidigung der Bibel als Unwissenheit interpretieren. Sie jedoch sollten - weil ich Ihnen Intelligenz unterstelle - wissen und erkennen, dass die Bibel nicht von einem "Gott", sondern von den Interessen der religiösen Gemeinden und vor allem deren Führer handelt. Und wenn dies jemand aufgrund seiner Intelligenz erkennen KANN (evtl. behindert durch dogmatische Indoktrination), dann muss ich von einer bewussten Lüge ausgehen.
Im 3. Reich hat man "Mein Kampf" oder den "Stürmer" auch nicht als abzulehnende Hetzschrift gelesen, sondern war in weiten Teilen der Bevölkerung - von Vertretern des Naziregimes ganz abgesehen - mit deren Inhalten einverstanden. Erst die Veränderung der Perspektive hat vielen nach dem 2. Weltkrieg die schädliche Intention dieser Machwerke gezeigt.
"Das ist nämlich die Denkweise eines fanatischen Ideologen. Und das ist doch genau das, was Sie bekämpfen wollen."
Das ist relativ. Eine Sortierung kann man vornehmen, wenn man eine historische Rückschau berücksichtigt: Nachdem die Bibel geschrieben, kanonisiert und verbreitet war, wurde deren Inhalt ohne Widerspruchsduldung geglaubt. Das Augustinische "Glaube, damit du erkennst" und Luthers "sola scriptura" sind deutlich Warnhinweise an alle, die nicht der Bibel blind folgen wollen.
Doch irgendwann ließ sich trotz aller Bemühungen der Kirche der Erkenntnisgewinn und die empirische Forschung nicht mehr aufhalten. Nach und nach wurden die Behauptungen der Bibel - vor allem in Bezug auf unsere Wirklichkeit - widerlegt. Nicht jeder Christ akzeptiert dies bis heute, sondern stemmt sich mit ideologischen Mitteln gegen eigene Erkenntnis. Wobei es sich stets nur um einen Mangel an eigener Erkenntnis handelt, weil die Fakten ja offen auf dem Tisch liegen und nicht mehr ernsthaft geleugnet - höchstens qualitativ verbessert -. werden können.
Aber auch die sogenannte "Moral" der Bibel ist inzwischen als menschenverachtend entlarvt. Sie gehört in den Vorderen Orient der Bronzezeit und nicht in einen modernen, pluralistischen Staat, in dem Menschen gleichberechtigt leben können.
Und drittens sind die Unlogik und die gravierenden Widersprüche der Bibel inzwischen bestens dokumentiert.
Wenn ich mir also die Historie der Bibel-Rezeption anschaue, dann ist augenfällig, dass vom einst zu 100% geglaubten Werk nach und nach viel verloren ging, bis heute noch bestenfalls 10% als unbedenklich - aber auch wenig hilfreich - angesehen werden müssen. Das sehen viele Christen anders, aber das ändert am Ablauf der Dinge nichts.
Eine gegenläufige Entwicklung haben wir z.B. bei der Evolutionstheorie: Einst von Darwin und Wallace als vage Idee formuliert, sind im Laufe der letzten über 150 Jahre viele beeindruckende Fakten dazugekommen, die aus der Hypothese eine echte Theorie machten. Jeder weitere Fund, jede weitere ernsthafte Forschung untermauert die ursprüngliche These.
Die Bibel wird also irgendwann zu 100% abgelehnt, während (wenn religiöse Widerstände endlich aufgegeben werden) die Evolutionstheorie zu 100% anerkannt sein wird.
Ich bekämpfe in der Tat Ideologien, die trotz besserem verfügbaren Wissens noch immer aus ideologischen Gründen an Irrtümern der Vergangenheit festhalten.
"Sie haben nämlich nicht etwa Argumente angeführt (was für Sie doch angeblich so entscheidend ist). Sie haben mir schlicht und einfach meine Ehrlichkeit abgesprochen. Das halte ich für in höchstem Maße unhumanistisch."
Soll ich lieber annehmen, dass Sie keine Ahnung von der Bibel haben? Oder sind Sie so indoktriniert, dass Sie ernsthaft annehmen, in der Bibel stünden lauter schöne Geschichten von einem lieben "Gott", der alle Menschen liebe und ganz toll mir ihnen im Himmel feiere?
Es gibt doch nur diese drei Möglichkeiten:
1. Sie wissen nichts von der Bibel, dann sind Sie unwissend.
2. Sie kennen die Bibel und verehren Sie aus dogmatischen Gründen, dann sind Sie verblendet.
3. Sie kennen die Bibel und haben ihre systemische Unmenschlichkeit erkannt, dann sind Sie ein Lügner, weil Sie Ihren Zuhörern einreden wollen, dass in der Bibel tolle Geschichten eines liebevollen Gottes stünden.
Das Kernproblem ist, dass es eben keinen "Gott" gibt - weder einen liebevollen noch den rachsüchtigen der Bibel oder des Korans. Ich lasse gerne die aus erkenntnistheoretischen Gründen notwendige Einschränkung "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" zu, aber faktisch ist von "Gott" auf der Erde nicht zu erkennen. Und ob irgendein "Designer" am Urknall mitgewerkelt hat, ist letztlich vollkommen irrelevant. Es hat mit unserem Leben heute auf unserem unbedeutenden Staubkorn in einer unfassbaren Leere nichts zu tun.
Für Sie wird die Bibel nur wertvoll, weil Sie fest von der Existenz diese welträumlichen Geistes überzeugt sind. Aber auf diesem Kinderglauben sollte man ehrlicherweise keine Ideologie aufbauen.
Stellen Sie mal in Gedanken "Gott" infrage und lesen Sie dann die Bibel. Wäre das nicht alles Müll, was da steht? Völlig unbedeutende Aussagen ohne jede Bedeutung? Was wäre denn die Kreuzigung Jesu ohne "Gott"? Die Hinrichtung eines Aufständischen gegen die römische Besatzung - nichts sonst! Erst der hinzugedichtete "Gott" hat daraus ein tolles Sühneopfer für ALLE Menschen konstruiert. Erst dadurch wurden wir zu Sündern erklärt, die erst Jesus anerkennen müssten, um auch durch sein Opfer erlöst zu werden.
Ohne "Gott" im Hirn wäre dies bestenfalls eine alberne, schlimmstenfalls eine abgrundtief menschenverachtendes Aussage, die folgerichtig zu einer abstrusen Ideologie führen musste, die das Christentum darstellt. Da können Sie so viele Beispiele von gutherzigen Christen anführen, wie Sie wollen. Die Menschen in der Kirche mögen ja hin und wieder gut sein (so wie Nichtchristen auch), die Kirche und ihre Ideologie sind es ganz gewiss nicht...
Uwe Lehnert am Permanenter Link
Lieber Herr Kammermeier,
Bewunderung, dass Sie die Geduld aufbringen, so ausführlich zu antworten. Einem gläubigen Menschen, der vermutlich kaum willens sein wird, genau zu überdenken, was Sie argumentativ dokumentiert haben. Dennoch bewirken Ihre Zeilen, dass interessiert Mitlesende aufgrund Ihrer Begründungen und Hinweise auf zum Teil subjektiv Unbekanntes ihre Auffassungen oder ihre ohnehin schon bestehenden Zweifel bestätigt sehen.
Meine – vorsichtig geäußerte – These ist, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften der freiwilligen Ausrichtung auf eine Leitfigur und auf kodifizierte, verbindliche Verhaltensvorschriften, die Tag und Jahr zuverlässig strukturieren, entgegenkommen. Vor allem diese Orientierung an einer Leitfigur, die die Richtung vorgibt, ist vielleicht ein Erbe der Evolution, das noch ganz tief in manchem von uns steckt. In früheren Zeiten stellte der unbedingte Gehorsam gegenüber den Anordnungen des Stammesältesten, des »Führers«, der zugleich das Stammeswissen verkörperte, am ehesten das Überleben sicher. Autoritätsorientiertes und gläubiges Denken und Handeln könnten somit in das Erwachsenenalter übernommenes Verhalten sein, das ein ängstliches Kind zeigt, welches sich in gefährlich erscheinenden Situationen noch instinktiv und blind vertrauend an die Weisungen der Eltern hält. Liegt in diesem Erbe der Evolution die Wurzel für Autoritätsgläubigkeit, also freiwillige Unterwerfung, die das eigene Denken hintanstellt und ergeben dem »Übervater« folgt, gleichgültig was der eigene Verstand zu sagen hätte?
Norbert Schönecker am Permanenter Link
"von einer Gleichstellung von Mann und Frau ist bis heute nichts erkennbar" - Eine Gleichstellung gibt es nicht, das stimmt.
"Doch irgendwann ließ sich trotz aller Bemühungen der Kirche der Erkenntnisgewinn und die empirische Forschung nicht mehr aufhalten." - Die Kirche hat die naturwissenschaftliche Forschung oft und lange gefördert. Gerade Galilei (der von der Kirche zunächst sehr gefördert wurde) ist ein Beispiel dafür. Ein Problem gab es dann, als die Forschung sich von der Kirche unabhängig gemacht hat (v.a. an den Universitäten). Es ging dabei um Politik und um Macht, die die Kirche nicht abgeben wollte. Sehr unschön und peinlich. Aber Forschung an sich war der Kirche meistens ein großes Anliegen. Das 19. Jahrhundert war eher eine Ausnahme.
"Oder sind Sie so indoktriniert, dass Sie ernsthaft annehmen, in der Bibel stünden lauter schöne Geschichten von einem lieben "Gott", der alle Menschen liebe und ganz toll mir ihnen im Himmel feiere?" - Nein. Gott ist lieb, zweifellos. Aber er ist auch grausam, rachsüchtig, parteiisch, kriegerisch. Und dann ist er wieder sanft, gnädig, gerecht und friedlich. Er ist zum Fürchten unberechenbar. "Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil" (Jes 45,8). Kurz: Er ist uns Menschen ziemlich ähnlich. Jedenfalls ist er in der Bibel so beschrieben. Wer einen berechenbaren, immer gleichen Wellness-Softie zum Gott haben will, muss sich in einer anderen Religion umschauen.
Paradoxerweise kann man sich auch auf Menschen verlassen, die man nicht immer versteht. Freunde, Eltern und Ehefrauen muss man nicht völlig durchschauen. Man kann ihnen trotzdem vertrauen. Bei Gott ist es ähnlich.
"Für Sie wird die Bibel nur wertvoll, weil Sie fest von der Existenz dieses welträumlichen Geistes überzeugt sind." - Ja, eh. Sonst könnte ich genausogut die Bhagavadgita, Plato oder das Gilgamesch-Epos studieren. Die Bibel ist naturwissenschaftlich unbedeutend, historisch interessant und manchmal sogar glaubwürdig, ethisch für ihre Zeit oft fortschrittlich und gelegentlich sogar zeitlos gültig. Vergleichbar mit Plato, würde ich sagen. Entscheidend ist nur die Botschaft über Gott. Ganz richtig!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Herr Schönecker,
"Eine Gleichstellung gibt es nicht, das stimmt."
Damit ist eigentlich alles gesagt. Ob es vereinzelt auch Frauen in leitenden Positionen gibt, ist völlig irrelevant. Das hat nichts mit Gleichstellung zu tun, sondern bestenfalls mit Kosmetik und Zeitgeist. Gleichstellung entsteht, indem man gleichstellt. Dass Sie dies für Ihre Kirche in absehbarer Zeit nicht sehen, macht mich traurig! Da können Sie ja von Glück reden, dass Sie mit dem richtigen Geschlechtsorgan geboren wurden.
Aber Menschen sollten in einer gerechten Gesellschaft nicht auf die Gnade der Geburt hoffen müssen, sondern auf gleiche Chance für alle - ob man sie nutzt oder nutzen kann, steht auf einem anderen Blatt. Aber Frauen (oder in anderen Fällen Männer) von vorneherein von bestimmten Chancen auszuschließen, ist Kennzeichen eine unethischen Gesellschaft.
"Die Kirche hat die naturwissenschaftliche Forschung oft und lange gefördert."
Ja, wenn es darum ging, ihre eigene Ideologie zu stützen. Aber als Galilei seine "Chefs" bat, sich die vier Jupitermonde durch sein Teleskop anzuschauen, da verweigerten sie dies. Hätte der Astronom einen Blick auf Gottes Thron ermöglicht, hätten sich die Kirchenfürsten um den ersten Platz am Okular geprügelt. Doch der reale Blick in den Himmel hätte die Bibel in diesem Punkt ad absurdum geführt und diese Wahrheit - die schonungslose Wahrheit - wollte man sich nicht antun.
Außerdem gehörte damals ein Theologiestudium quasi zum guten Ton. Darwin hatte ja auch Theologie studiert und doch hat er die Schöpfungslehre atomisiert. Fakt ist aber auch, dass der Einzug des Christentums in der Spätantike erst einmal die Bildung vernichtet hat. Bücher mit profanem Inhalt wurden vernichtet (Verhältnis 1:1000), die Schulbildung wurde für überflüssig erklärt. Die Folge war ein grassierender Analphabetismus im Mittelalter, sodass es sogar hin und wieder schwierig wurde, Pfarrer zu finden, die die Bibel lesen konnten. 1000 Jahre Stillstand in Mitteleuropa haben wir dem Christentum zu verdanken.
"Er ist uns Menschen ziemlich ähnlich. Jedenfalls ist er in der Bibel so beschrieben."
Ziehen Sie aus diesem richtigen Satz doch bitte einmal den richtigen Schluss: Gott wurde wohl von Menschen genauso erfunden. Er sollte ihr Verhalten "heiligen" und dogmatisch bestätigen. D.h. der patriarchale Mann hat recht!
Sie schreiben, er sei "zum Fürchten unberechenbar". Wenn in einer Familie ein Vater wäre, den alle Familienmitglieder "zum Fürchten unberechenbar" finden, dann packt eine Mutter heute ihre Kinder ein und fährt mit ihnen ins nächste Frauenhaus. Auf keinen Fall fällt heute eine Mutter vor diesen Despoten auf die Knie und huldigt ihm - zwingt gar ihre Kinder dazu, diesen Vater blind zu verehren. Oder auch nur ihm blind zu vertrauen. Denn ein unberechenbarer Mensch ist das Gegenteil von vertrauenswürdig. Das hat nichts mit "durchschauen" zu tun. In der Tat sollte jeder Mensch auch innerhalb einer Familie eine Privatsphäre besitzen, sogar Geheimnisse - aber "unberechenbar" sollte er nicht sein.
"Die Bibel ist naturwissenschaftlich unbedeutend, historisch interessant und manchmal sogar glaubwürdig, ethisch für ihre Zeit oft fortschrittlich und gelegentlich sogar zeitlos gültig."
Die Bibel wurde - als es nicht mehr zu verhindern war - für naturwissenschaftlich unbedeutend erklärt. Die Genesis beschäftigt sich nicht zum Spaß mit vielen Themen, die heute völlig anders erklärt werden. Dies hatte gewiss eine Bewandtnis. Warum sollte man sonst schon an den Beginn schreiben: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde" (1.Mo 1,1) Fängt man ein solches Mammutwerk wirklich mit etwas völlig Unbedeutendem an? Oder ist es nicht im Gegenteil die zentrale Botschaft: "Ich bin Gott, der Herr, ich habe alles, wirklich alles hergestellt und deshalb - DESHALB - bin ich der Eigentümer und kann damit machen, was ich will - auch kaputtmachen, falls ihr nicht spurt!"
Aber auch mein historische Interesse - das ungemein groß ist - wird von der Bibel nicht wirklich befriedigt, da alle Ereignisse als ätiologische Sagen sehr durchschaubar zweckgerichtet erdacht wurden - basierend auf damals bekannten Fakten und Legenden, wobei der Komplex um das babylonische Exil die meisten überprüfbaren Fakten enthält. Aber zu dieser Zeit hat man sich das Ganze ja auch zusammenfabuliert.
"Ethisch für ihre Zeit" - nun ja, da kann man sich trefflich streiten, ob nicht der Status Quo einfach schriftlich fixiert wurde. Die Menschen haben ca. 7.000 Jahre vor Entstehung des Tanach begonnen, sesshaft zu leben. D.h. es gab sicher bereits viele Regel, wie eine Gesellschaft funktioniert. Ob und welche Verbesserungen (in Hinblick auf Ethik) ins AT geschrieben wurden, sei dahingestellt. Aber auch das NT brachte keine wirklichen Verbesserungen, weil Jesus in den ihm in den Mund geschriebenen Worten dezidiert die Gültigkeit des AT bestätigt.
In jedem Fall aber kann man sagen: Heute kann es einen ethisch denkenden Menschen nur gruseln, wenn er liest, wie hier Menschen miteinander umgegangen sind - in göttlichem Auftrag, mindestens mit göttlichem Segen.
"... gelegentlich sogar zeitlos gültig" - ich hoffe doch nicht! Zunächst: in einem evolutionären Universum ist absolut gar nichts zeitlos gültig. Nicht einmal das Universum selbst. Es gibt keine Konstanten mit Ewigkeitsgarantie. "Panta rhei" - alles fließt, sagten die alten Griechen dazu.
Was Sie vermutlich meinen, sind solche Allgemeinplätze wie "Nächstenliebe", also Empathie, auch Altruismus. Doch haben wir solche Charaktereigenschaften der Evolution zu verdanken, weil es für eine Gesellschaft sinnvoll ist, einander zu helfen.
Zusammenfassend: Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, die nach alttestamentlichen oder christlichen "Werten" aufgebaut ist. Glücklicherweise ist dies zumindest Deutschland nicht der Fall (die Menschen in anderen Ländern sollen dies für ihr jeweiliges Land selbst beurteilen). Das christliche Abendland ist eine Legende, die keiner historischen Überprüfung standhält. Fast alles Positive heute hat seine Wurzeln im antiken Griechenland, Italien und Indien sowie im frühmittelalterlichen Arabien...
Karl Zeiler am Permanenter Link
Danke, Herr Kammermeier, für diese klare Antwort.
David am Permanenter Link
Fakt ist: Die Bibel dudelt Sklaverei, strukturiert das Verhältnis zu Sklaven und spricht sich an keiner Stelle explizit gegen diese "Einrichtung" aus.
Wolfgang am Permanenter Link
Wenn ein angeblich männlicher, allwissender, allmächtiger Gott den Menschen erschaffen haben soll, warum stehen neben den Gläubigen so viele Nichtgläubige, Atheisten und Ketzer?
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Aus den Thesen des Autors folgt zwangsläufig die argumentative Haltlosigkeit derjenigen, die ständig die "christlichen Werte" des Abendlandes im Munde führen.
Thomas am Permanenter Link
Das rezensierte Buch mag ein wichtiger Beitrag dazu sein, Christen auf jenen chaotischen Schwachsinn zurückzuwerfen, der den normativen Teil ihres Wahnsystems ausmacht, aber auch Erdmüller geht anscheinend von einem p
Norbert Schönecker am Permanenter Link
S.g. Thomas!
Es könnte also Menschen geben (und es gibt sie sicher auch), die als Zweck der Ethik nicht die Leidvermeidung ansehen würden, sondern die Mehrung der Ehre (z.B. ihres Volkes), das Wirtschaftswachstum (weil es dann angeblich bald allen gut ginge), die Missionierung (weil Gott uns dann belohnt), die Erkenntnis (weil der Mensch ja ein Geistwesen und der Körper nebensächlich ist), die Liebe (weil Liebe ohne Leid ohnehin wertlos ist) oder die Wissenschaft (weil nur sie die Menschheit insgesamt voranbringt).
Sie sehen: Ihre grundlegende Behauptung, Leidvermehrung stünde an oberster Stelle der Moral, bleibt nicht unwidersprochen. Es gibt Befürworter von Rassismus, Kapitalismus, Missionierung, Psychosekten, Liebeskummer und Tierversuchen, die ihre eignenen Einstellungen durchaus für moralisch halten.
Man kann diese teils großen Gruppen nicht einfach ignorieren. Es muss untersucht werden, welche Werte wie viel Leid rechtfertigen. Das ist gar nicht so einfach, und es wird viele verschiedene Ergebnisse geben, mit dem Resultat vieler verschiedener Moralsysteme. Eines davon ist die "Christliche Moral" (genau genommen sind Dutzende davon "Christliche Moral", weil sich z.B. die Moralvorstellungen von Waldensern, Evangelikalen, heutigen und spätantiken Katholiken stark unterscheiden). Ob die rassistische, die buddhistische (Leidvermeidung an alleroberster Stelle), die naturwissenschaftliche oder sonst eine Moral dem Menschen am ehesten entspricht, muss gründlich untersucht werden und bleibt wohl letztlich dem gründlich gebildeten (!) Gewissen jedes einzelnen übelassen.
Thomas am Permanenter Link
"Viele Menschen nehmen sehr viel Leid (körperliches wie psychisches) in Kauf, um andere Werte zu erhalten, die ihnen wichtiger sind. Ehre, Geld, Religion, Erkenntnis, Liebe, Wissenschaft, ...
Dennoch handelt es sich dabei um meist vermeidbares Leid, das niemand um seiner selbst willen akzeptiert oder gar sucht (und WENN er es täte, wäre es kein Leid im Sinne UNERWÜNSCHTER Empfindungen). Abgesehen davon haben "Werte" nichts mit Ethik zu tun, denn sie sind beliebig und hängen weder logisch, noch faktisch mit dem Prinzip der Leidvermeidung zusammen.
"Ihre grundlegende Behauptung, Leidvermehrung"
VERMEIDUNG!
"stünde an oberster Stelle der Moral, bleibt nicht unwidersprochen."
Das ist mir nicht entgangen, aber nach meinen inzwischen sehr umfangreichen Erfahrungen geht solcher Widerspruch auf allzu oberflächliches Denken zurück. Jeder andere als der von mir behauptete, bzw. empfohlene Zweck der Ethik hat nämlich absurde und/oder katastrophale Voraussetzungen und Implikationen (z.B. weil er einer willkürlichen Bestimmung der Klasse "ethischer" Bezugsobjekte folgt und somit strukturell faschistisch ist, die Erzeugung selbst schwersten vermeidbaren Leides nicht ausschließt oder sogar fördert und/oder auf unprüfbaren oder falschen Aussagen gründet, die zielgerichtetes Verhalten und mit ihm auch Moralität zum Glücksspiel machen). Wer sich vor Augen führt, daß und wie er auch selbst zum Opfer solcher Ethikvorstellungen werden könnte, muß einsehen, daß Ethik pathozentrisch und im weiteren Sinne negativ-utilitaristisch ist - oder eben gar nicht. Dementsprechend sollten wir damit aufhören, einfach alles als Ethik oder Moral zu bezeichnen, dem nur irgendeine Vorstellung von "gut" und "böse" oder "richtig" und "falsch" zugrundeliegt. Tatsächlich MEINEN wir ja auch meist eine ungerechtfertigte Zufügung von Leid, wenn wir von einer "unmoralischen" Handlung sprechen. Und es kämen wohl auch nur "gewisse" Leute darauf, im Holocaust einen "moralischen" Akt nazistischer "Ethik" zu sehen. Also: Eine Handlung oder Unterlassung ist dann und NUR dann moralisch, wenn sie ethisch motiviert ist, und sie ist nur dann ethisch motiviert, wenn sie die Absicht verfolgt, möglichst alle Interessen möglichst aller von ihr betroffenen empfindungsfähigen Wesen leidvermeidend in Ausgleich zu bringen. Jedenfalls werde ich diese Auffassung verteidigen, bis mir eine bessere präsentiert wird.
"Es gibt Befürworter von Rassismus, Kapitalismus, Missionierung, Psychosekten, Liebeskummer und Tierversuchen, die ihre eignenen Einstellungen durchaus für moralisch halten."
Das können sie ja nur glauben, weil sie in genau jene irrationalen Ethikvorstellungen hineinerzogen worden sind, mit denen wir endlich Schluß machen müssen. Wer nicht vermeidbarerweise leiden möchte, muß sich auch seinerseits allen anderen empfindungsfähigen Wesen gegenüber leidvermeidend verhalten (und wer als Unfallopfer nicht sterben oder zum Krüppel werden will, weil es z.B. ein potenzieller Helfer eilig hat, in die Oper zu kommen, muß auch das ethische Gleichheitsprinzip akzeptieren). Jemand, dem sein eigenes Wohlergehen gleichgültig ist, kann also nur eingeschränkt bis überhaupt nicht moralfähig sein (und vermutlich ist er geistig und/oder psychisch gestört). Solche Menschen wird man auch weiterhin mit strafbewehrten Gesetzen zu möglichst unschädlichem Verhalten erpressen oder wegschließen müssen.
Norbert Schönecker am Permanenter Link
S.g. Thomas!
Ich freue mich über diese sinnvolle Diskussion.
Ihr Gedankengang ist sehr klar, und mancher billige Einwand, der mir eingefallen wäre, wurde bald zerstreut, als ich Ihren Text genauer las. So scheint mir der Teil "ALLE Interessen möglichst ALLER von ihr betroffenen empfindungsfähigen Wesen" (Hervorhebung von mir) sehr wichtig zu sein. Hier wird aber eine Auslegung im Detail oft nicht leicht sein (was Sie ja auch nie behauptet haben).
Wäre z.B. eine Zwangssterilisation von Menschen mit Erbkrankheiten ethisch vertretbar? Man könnte das Leid der Kinder anführen. Das Recht auf Elternschaft würde bei wortgetreuer Auslegung Ihrer These (in der verkürzten Form dieses Forums) keine Rolle spielen.
Spitzfindige Ethiker könnten auch Probleme konstruieren wie: "Ist es verboten, einen schwer betrunkenen Obdachlosen, der keine Angehörigen hat, schmerzfrei zu ermorden?" Nur vom Leid ausgehend ist es schwer, diesen Mord zu verbieten. Man könnte sich auf das Sicherheitsbedürfnis der gesamten Gesellschaft ("aller") berufen und darauf ein Recht auf Leben gründen. Aber dann sind wir von Ihrer Basis schon recht weit weg. Vielleicht haben Sie ja eine einfachere Erklärung.
Etwas wirklichkeitsnäher wären Themen wie: Tierversuche an Hunden für medizinische Zwecke (Hunde leiden, dafür leiden später vielleicht Menschen weniger); Tötung schwer behinderter Neugeborener (man weiß einfach nicht, ob der Mensch sein Leben vorwiegend leidvoll erleben wird); Raketenstarts für Forschungszwecke (schaden der Umwelt, bringen also Leid, aber keinen unmittelbaren (!) leidvermindernden Nutzen).
Oder Kleinigkeiten: Dürfen Eltern ihre Kinder dazu zwingen, ein Musikinstrument zu lernen oder eine Bergwanderung zu unternehmen?
All diese ungeklärten Fragen sind überhaupt keine Widerlegung Ihres grundlegenden ethischen Systems. Ich will nur klarstellen: Auch auf Ihrer Basis kann es sehr unterschiedliche Denkschulen geben.
Für mich persönlich gibt es übrigens durchaus wichtigeres als Leidvermeidung. Unter anderem meine Freiheit. Genau deshalb respektiere ich auch die Freiheit anderer Menschen. Dort, wo Freiheiten aufeinanderprallen, habe ich dann natürlich auch Schwierigkeiten, zu sauberen Lösungen zu kommen.
Mit freundlichen Grüßen!
Norbert Schönecker
Thomas am Permanenter Link
"Ich freue mich über diese sinnvolle Diskussion."
Und ich bin erfreut, daß Sie mich offenbar nicht mißverstehen WOLLEN, wie es sonst häufig geschieht, weil ich anscheinend allzu "Unerhörtes" vertrete.
"Wäre z.B. eine Zwangssterilisation von Menschen mit Erbkrankheiten ethisch vertretbar?"
Moralische Menschen mit leidträchtigen Erbkrankheiten würden von sich aus auf Fortpflanzung verzichten oder mit medizinischen Mitteln versuchen, das Risiko für ihre Kinder zu minimieren. Es kommt mir auf ethische Entwicklung an, nicht darauf, Menschen zu unschädliche(re)m Verhalten zu ZWINGEN. Wie in meinem letzten Beitrag angedeutet, wäre das die Aufgabe strafbewehrter Gesetze.
"Das Recht auf Elternschaft würde bei wortgetreuer Auslegung Ihrer These (in der verkürzten Form dieses Forums) keine Rolle spielen."
"Rechte" spielen ethisch ohnehin keine Rolle, denn sie sind inhaltlich ebenso beliebig wie "Werte". Außerdem machen sie nur Sinn, wenn und wo sie rechtssystematisch (also letztlich autoritär) durchgesetzt werden. Ethik ist individuelle SELBSTverpflichtung zu einem bestimmten Verhalten und insofern anarchistisch.
"Spitzfindige Ethiker könnten auch Probleme konstruieren wie: "Ist es verboten, einen schwer betrunkenen Obdachlosen, der keine Angehörigen hat, schmerzfrei zu ermorden?""
"Spitzfindige" Ethiker würden diese Frage gar nicht stellen, weil ihnen klar wäre, daß das Streben nach Leidfreiheit nicht identisch mit dem Streben nach dem Tode ist. Empfindungsfähige und lebensbewußte Wesen brauchen Ethik, weil sie möglichst leidfrei LEBEN wollen, und wer aus diesem Interesse ableitet, sich anderen empfindungsfähigen Wesen gegenüber leidvermeidend zu verhalten, wird einsame und schwer betrunkene Obdachlose nicht umbringen, sondern sich dafür einsetzen, daß sie ihre Sucht überwinden und in menschliche Gesellschaft zurückkehren. Weiterhin wird er zur Änderung sozialer Verhältnisse beitragen, die Einsamkeit und Alkoholismus begünstigen.
"Nur vom Leid ausgehend ist es schwer, diesen Mord zu verbieten."
Auch "Verbote" sind autoritär und haben deshalb nichts mit Ethik zu tun.
"Man könnte sich auf das Sicherheitsbedürfnis der gesamten Gesellschaft ("aller") berufen und darauf ein Recht auf Leben gründen. Aber dann sind wir von Ihrer Basis schon recht weit weg. Vielleicht haben Sie ja eine einfachere Erklärung."
Tatsächlich ist das Tötungsproblem schwieriger, als selbst Moralphilosophen der analytischen Schule bewußt ist, denn Tötungen sind die einzigen Interessenverletzungen, die keinen leiderfüllten Zustand zur Folge haben. Daher gibt es keine DIREKTEN ethischen Gründe, auf leidfreie Tötungen zu verzichten. Allerdings lassen sich INdirekte Gründe anführen, nämlich: das Leid Dritter / mögliches Leid (Dritter) durch Brutalisierung / Vermeidung logischer, bzw. empathischer Inkonsistenz ("Nutztiere" töten, menschliche Säuglinge leben lassen; häßliches Tier töten, niedliches Tier leben lassen).
"Etwas wirklichkeitsnäher wären Themen wie: Tierversuche an Hunden für medizinische Zwecke (Hunde leiden, dafür leiden später vielleicht Menschen weniger);"
Klare Ansage: Leid, das wir menschlichen Säuglingen nicht zufügen würden, sollten wir auch Hunden nicht zufügen, denn ohne das Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleicher Interessen kann es keine Ethik geben.
"Tötung schwer behinderter Neugeborener (man weiß einfach nicht, ob der Mensch sein Leben vorwiegend leidvoll erleben wird);"
Neugeborene (egal welcher Spezies!) sind nicht lebensbewußt und können demzufolge weder ein Interesse am Leben, noch Angst vor dem Tod haben. Da sie "nur" empfindungsfähig sind, haben sie neben dem Interesse an Leidfreiheit nichts zur Entscheidung über ihr Leben einzubringen. Es bleibt also nur die Abwägung der o.g. indirekten Gründe auf Basis einer möglichst wohlbelegten medizinischen Prognose.
"Raketenstarts für Forschungszwecke (schaden der Umwelt, bringen also Leid, aber keinen unmittelbaren (!) leidvermindernden Nutzen)."
In der Ethik geht es doch nicht nur um unmittelbare Leidvermeidung, sondern um die Abwägung möglichst ALLER Konsequenzen, die unser Verhalten für empfindungsfähige Wesen voraussichtlich haben wird. Und Moralität bedeutet auch, ggf. ethische Fehlerhaftigkeiten auszugleichen. So könnte die ESA (wie auch jeder Autofahrer oder Flugreisende) z.B. bestimmte Umweltprojekte in angemessener Weise unterstützen. Ethische Perfektion ist unmöglich, aber wir sollten wenigstens so weit gehen, wie wir kommen, wenn wir uns mit aller Kraft und Ernsthaftigkeit darum bemühen.
"Dürfen Eltern ihre Kinder dazu zwingen, ein Musikinstrument zu lernen oder eine Bergwanderung zu unternehmen?"
Moralische Eltern werden das nicht tun, wenn absehbar ist, daß es mehr Leid erzeugt als Freude bringt. Allerdings gibt es eine Vielzahl von "Tricks", mit denen man Kinder zu Unternehmungen bewegen kann, die man für so wichtig hält, daß sie diese Erfahrung unbedingt einmal gemacht haben sollten (und sei es nur, um sich Rechenschaft darüber ablegen zu können, WARUM sie etwas nicht mögen).
"All diese ungeklärten Fragen sind überhaupt keine Widerlegung Ihres grundlegenden ethischen Systems. Ich will nur klarstellen: Auch auf Ihrer Basis kann es sehr unterschiedliche Denkschulen geben."
Den Begriff "Denkschulen" möchte ich mit "Einschätzungen" ersetzen, denn je vollständiger unser Wissen über die Sachverhalte, die eine ethische Entscheidungssituation ausmachen, umso weniger divergent werden ihre Beurteilungen sein. Ethik braucht also viel gute Wissenschaft.
"Für mich persönlich gibt es übrigens durchaus wichtigeres als Leidvermeidung. Unter anderem meine Freiheit."
Freiheit woZU oder woVON und vor allem: warum? Es wird Sie nicht überraschen, daß ich den Freiheitsbegriff nur sehr selten, niemals ohne konkreten Bezug und schon gar nicht unabhängig davon verwende, ob die An- oder Abwesenheit, bzw. die Wahrnehmung oder der Genuß einer bestimmten Freiheit Leid vermeidet oder erzeugt. Auch "Freiheit" kann für einen moralischen Menschen nur Mittel zum ethischen Zweck sein.
MfG,
Thomas
PS.: "Die Bibel ist ... ethisch für ihre Zeit oft fortschrittlich und gelegentlich sogar zeitlos gültig." - Wie wäre das möglich, wenn sie Menschen zum Gehorsam (also zu ANTImoralischem Verhalten) gegen das verabscheuungswürdigste aller auch nur vorstellbaren Monstren erpreßt? Schließlich gab und gibt es kein Leid im Universum, das "Gott" in seiner "Allmacht" nicht erzeugt oder (ge)duldet (hätte), denn ohne die abgrundtiefe Perversion des "Schöpfers aller Dinge" gäbe es nicht einmal die FÄHIGKEIT, Leid zu empfinden. Wenn der Christengott existierte (was logisch ausgeschlossen und empirisch unbelegbar ist), wäre er das extremstmögliche Gegenteil eines moralischen Wesens und würde somit höchstens als Beispiel für maximale ethische Verkommenheit taugen. Von seinen Gläubischen jedoch wird er "geliebt" und "verehrt" - ein Umstand, der ein grelles Schlaglicht auf ihre ethische Unzurechnungsfähigkeit wirft. Ohnehin kann eine Handlung oder Unterlassung schon logischerweise nur ENTWEDER religiös ODER ethisch motiviert sein. Die Beseitigung der Religionen (mitsamt einer durchgreifenden Ächtung des Irrationalismus im Allgemeinen) ist also unabdingbare Voraussetzung für eine ethische Entwicklung der Menschheit.
Gerhard Streminger am Permanenter Link
Neben dem Inhalt der Gebote ist die Art der Motivierung höchst problematisch.
Auf die berechtigte Frage: Warum sollen wir das, was Du von uns forderst, überhaupt tun? nennt Jesus zwei Gründe:
1. Seid klug! Sammelt Schätze im Himmel und nicht dort, wo ohnedies Motten sie zerfressen werden. Das aber ist ein Appell an den Egoismus der Einzelnen, ein Klugheits-Argument und gerade kein moralisches.
Und 2. durch Drohung. Wenn Ihr das nicht tut, was ich Euch sage, dann wartet die ewige Hölle, Heulen, Zähneknirschen und Feueröfen auf euch!
Im NT soll die vorbildlichste Ethik zu finden sein, wie viele Christen annehmen?
Dieter Bauer am Permanenter Link
Ob Atheist, Agnostiker, Christ oder sonstwie Orientierter ist anzuerkennen, dass das Jesus Christus zugeschriebene Gebot "....