Kommentar

Provokation: Alternativen zum Strafvollzug?

BERLIN. (hpd) Der Autor versucht in seinem provokanten Artikel die Perspektive von Strafgefangenen einzunehmen und plädiert für mehr Menschlichkeit. Seiner Auffassung nach betreibt Deutschland hier Entsolidarisierung anstatt Resozialisierung.

Nein, mit solch einem Text mache ich mir keine Freunde. Denn ich will heute versuchen, die Sichtweise einzunehmen, mit der ansonsten kaum jemand etwas zu tun haben möchte: Die Perspektive von Tätern.

Dem Staat wird häufig vorgeworfen, er fasse sie mit Samthandschuhen an, während er dabei die Opfer vergesse. Doch von diesem Ausspielen möchte ich mich nun einmal lösen und stattdessen provozieren, wenn ich festhalte: Wir wollen in Deutschland das Prinzip der Resozialisierung praktizieren, betreiben in Wirklichkeit aber eine Entsolidarisierung!

Nicht nur, dass wir Menschen durch jahrelange Abschottung von der Öffentlichkeit isolieren und damit heraufbeschwören, dass sie ein gesellschaftliches Leben vollends verlernen. Wir stigmatisieren sie nicht nur als Straftäter, sondern lassen sie auch zu sozialen Krüppeln verkommen, die unfähig werden, sich überhaupt noch in einer Umwelt zurechtzufinden. Mit immensen Maßnahmen wird es danach nötig, sie wieder einzugliedern, was einerseits in der Regel aufgrund der erlittenen Diskriminierung für die Straftat und die Gefängniserfahrung, andererseits aber auch wegen der Hilflosigkeit von Haftentlassenen gegenüber der voreingenommenen Gesellschaft kaum gelingt – und erhebliche Kosten verursacht.

Neben dem ökonomischen Aspekt scheint mir der humanistische aber von noch größerer Bedeutung: In einem Land, das sich einerseits tolerant zeigt, durch zunehmende Radikalisierung an den politischen Rändern aber deutlich macht, dass Straffällige zu gut behandelt und Opfer vernachlässigt würden, entstehen Meinungen, wonach "Kriminelle" nicht nur dauerhaft weggesperrt werden sollten, sondern immer wieder auch die Todesstrafe herbeigesehnt wird.

Wenn es um Rache geht, sind wir stark und können mit dem Finger auf Andere zeigen. Da bedienen sich auch weniger gläubige Menschen Bibelzitaten, bei denen nicht die Vergebung zählt, sondern allein der Hass. Menschlich gesehen mag es nachvollziehbar sein, dass wir unsere Abscheu gegenüber denjenigen emotional zum Ausdruck bringen, die gegen Normen verstoßen haben. Dass dabei der Gedanke von Versöhnung völlig ausgeblendet wird, scheint dann wiederum verständlich, wenn man bedenkt: Wir suchen nach einfachen Lösungen – die aber meistens weder zielführend, noch günstig, noch ethisch richtig sind.

Ja, auch ein Täter hat Rechte. Das gehört zu unserer Demokratie. Und diesen Grundsatz zu achten, das ist die Herausforderung, aber eben gleichzeitig auch die Chance für unser Miteinander, wenn wir nicht in diktatorische Züge verfallen wollen, die nicht nur unmoralisch und verwerflich, sondern eben auch nutzlos sind. Geschehenes können wir nicht rückgängig machen, aber wir müssen nicht noch zusätzliches Leid verursachen, wo zumindest die Aussicht auf Verständigung und einen Neubeginn besteht.

Selbstverständlich will auch ich diejenigen, die Vergehen und Verbrechen begangen haben, nicht ungesühnt in die Freiheit entlassen. Doch kann der richtige Weg in einen Kerker führen, der die Einen bricht – und die Anderen zu noch mehr Aggressivität verleitet? Wir haben eine Verantwortung gegenüber Jedem, eben auch gegenüber denen, die schuldig geworden sind. Und die Verpflichtung heißt, ihnen ihre Fehler bewusst zu machen, ihnen Hilfestellung anzubieten, sie zur Reue zu befähigen und sie auf den Weg einer Wiedereingliederung zu bringen, an dessen Ende auch die Perspektive auf einen unbelastetes Weiterleben stehen muss.

Natürlich weiß ich, dass es einen gewissen Prozentsatz an Straffälligen gibt, die diesen Schritt nicht mitgehen wollen und deshalb auch dauerhaft eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen können. Doch auch für sie kann eine "Verwahrung" nicht das Passende sein, denn so etwas hat mit einem aufgeklärten Verständnis über die Behandlung eines Menschen nichts zu tun – egal, welche Vorgeschichte er hat. Das lange oder sogar lebenslange Wegsperren hat in den allermeisten Fällen eben nicht den Sinn des Schutzes der Bevölkerung – denn nur eine geringe Zahl an Straftätern (wobei selbst hier die Frage ist, ob eine solche Bezeichnung einem zukunftsgerichteten Weltbild gerecht wird) ist potenziell rückfällig. Viel eher soll damit dem Grundsatz von "Auge um Auge…" nachgefolgt werden, eine alleinige Befriedigung des mehrheitlichen Sühnegedankens ist der Hintergrund, letztlich also die persönliche Erhöhung über den Täter, der nun für seine Vergehen der Justiz ausgeliefert und solange bestraft wird, bis gefühlt Gerechtigkeit herrscht. Nein, in der Realität bringt solch eine Ideologie nichts, außer Unfriede. Sie scheint gescheitert.

Gefängnisse sind Brutstätten für neue Gewalt – und das ist auch nicht verwunderlich. Sie widersprechen jedweder Natürlichkeit und sind ein Zwang, der letztendlich zu Reaktionen eines Individuums führt, die wir in nahezu allen Justizvollzugsanstalten erleben: Es tun sich Parallelgesellschaften auf, in denen Respekt und Moral nicht nur verloren gehen, sondern Neid, Missgunst und Unterdrücken aufblühen.

Das Gesetz des Stärkeren ermutigt nicht nur Bedienstete zum Wegschauen, sondern lässt die Schwächeren in einer abgeschlossenen Welt zurück, in der sie ausgeliefert sind. Medizinische Versorgung mangelhaft, fundamentale Menschenrechte beschnitten, wenig Aussicht auf Zukunft  – ich kann die vergleichsweise hohe Rate an Suiziden in Gefängnissen vollkommen nachvollziehen; sie offenbart ein Versagen unseres Systems, unserer Politik, aber vor allem unser aller Denkens nach dem Motto "Aus dem Blick, aus dem Sinn".

Nein, es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen in Anstalten vegetieren, von deren tatsächlicher Isolation wir nichts mitbekommen – und es aus Scham oder aus Überzeugung, dass alles so richtig ist, auch gar nicht erst wissen wollen. Ja, im Festhalten am Justizvollzug offenbaren wir unsere Entfernung vom Glauben an das Gute im Menschen, unsere Überforderung oder Abneigung gegenüber der konsequent verfolgten Demokratie, die uns abverlangt, umzudenken.

Möglichst viel Freiheit unter angemessener Kontrolle, Rückführung in das Leben durch möglichst häufige Teilnahme am Leben, alternative Unterbringungsformen im Gedanken an kleine Gruppen, die Selbstverantwortung und Verpflichtung für die Gemeinschaft übernehmen müssen – und damit lernen, Werte (wieder) anzunehmen, Ordnungen einzuhalten, Gesellschaft zu gestalten und sich wieder als nicht ausgestoßener Teil eines Ganzen fühlen zu können.

Durch zumutbare Arbeit und zumutbare beratende Unterstützung den Sinn für das eigene Leben zurückzugewinnen, Reparation und Wiedergutmachung zu leisten, Strukturen zu schaffen und sich auf eine Rückkehr in die "große Welt" vorzubereiten, um dort nicht als "lebenslanger" Straftäter gebrandmarkt ein Dasein auf Existenzminimum und in ständiger Sorge vor Benachteiligung zu fristen.

In einer Gesellschaft, in der der Fokus auf die Opfer von Straftaten gerichtet werden soll, haben Täter keine Lobby. Dabei bleiben sie Menschen, egal, welches Verbrechen sie begangen haben. Das ist schwer zu begreifen, aber es ist die Konsequenz aus einem Humanismus, der schlussendlich zu dem Spagat aus Empfindung nach Bestrafung und normativer Pflicht zur Verhältnismäßigkeit führt.

Das Verständnis von Rechtsstaatlichkeit ergibt sich nicht aus dem Gedanken, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Keiner von uns würde den ersten Stein werfen, wenn es darum geht, wie tadellos wir unseren Alltag gestalten – weil wir insgeheim wissen, dass auch unser Leben aus dem Ruder laufen kann. Und dann erwarten wir selbst, dass wir nicht nur verurteilt werden, sondern irgendwann ein Neubeginn möglich wird.

Vielleicht ist es unerträglich, dass Menschen auch denjenigen Menschen Würde zugestehen müssen, die sie abgrundtief hassen. Humanismus scheint manches Mal unerträglich – weil er menschlich ist