Lese-Tipps von Thomas Hocke

(hpd) Der ehemalige Redakteur des ZDF für Literatur und Bildende Kunst, Begründer etlicher Literaturformate in ZDF, 3sat und arte sowie Mitbegründer des Rheingau-Literatur-Festivals wird von heute an monatlich Bücher im hpd vorstellen.

Zwei Romane haben mich besonders fasziniert, zwei Bücher, die vordergründig zusammenpassen. Sie spielen beide nach überwältigter Repressionszeit, das eine nach dem Ende der argentinischen Militärdiktatur, das andere nach dem Ende des Faschismus’ in Italien. In Beiden geht es um die Liebe, aber die Annäherung ist jeweils anders. Nur das Nichtgesagte verbindet sie. Deswegen will ich beide besprechen. Was außerdem noch interessant ist, dass sie beide in Verlagen, neugegründeten (Atlantik) oder schon etablierten (Graf) publiziert wurden, die aufhorchen lassen. Und die zu Bestsellern taugen…

Helene Gremillon - “In Zeiten von Liebe und Lüge”

Das Ende der argentinischen Militärjunta liegt ein paar Jahre zurück, die Verwundungen aber sind immer noch vorhanden, in den Seelen der Gefolterten, Misshandelten - und in denen, die Helfer, Mittäter und Mitläufer waren. Das Umdenken in den Köpfen ist noch nicht so ausgeprägt, “man” handelt noch nicht folgerichtig, logisch, rational, so, dass diese neue Ära angebrochen ist. Das Misstrauen ist vorhanden: Ist der, der da in der Straßenbahn gegenüber sitzt, einer, der gefoltert hat? Der Handlanger der Militärjunta war?

Helene Gremillon - “In Zeiten von Liebe und Lüge”

In dieser Zeit spielt dieser Roman: Vordergründig handelt es sich um einen Roman, in dem der Tod der Tangotänzerin Lyssandra und seine Aufklärung im Mittelpunkt steht. War es ihr Mann, der angesehene Psychiater Vittorio, der eifersüchtig war und sie deshalb in den Tod gestoßen hat? Die Polizei, auch sie noch mit dem Ruf eines willkürlichen Ausführungsorgans der Militärjunta behaftet, auch sie noch nicht frei von Vorurteilen, von eindimensioniertem Denken? Und Lyssandra selbst? Welche Rolle spielte sie? Welche Rolle hat die Liebe, welche die Lüge? Eine in den Psychiater verliebte Patientin, ist`s, so scheint es, die einzige, die nach Aufklärung sucht. Sie legt sich ein Denken zu, aus dem sie handelt, so meint sie, im Denkmuster des Psychiaters. Die Lösung entwickelt sich anders als man denkt - deshalb sei sie auch hier nicht verraten.

Was dieses Buch ausmacht, ist der Gedankenstrang, der sich - man erkennt es wie gesagt erst zum Schluss - um das komplizierte Geflecht von Liebe und Lüge rankt. Man ist ständig auf einer falschen Fährte, geschickt geführt von Helene Gremillon, einer 1977 in Poitiers geborenen Französin.

Man tut übrigens gut daran, das Motto von Samuel Beckett (aus “Erste Liebe”) als Vorwort zu lesen:
“Aber was ändert das schon, ob ein Schrei leise ist oder laut? Wichtig ist, dass er aufhört. Jahrelang glaubte ich, dass sie aufhören würden. Nun glaube ich es nicht mehr. Ich hätte anderer Lieben bedurft, vielleicht. Aber Liebe gibt es nicht auf Verlangen.”


Helene Gremillon, In Zeiten von Liebe und Lüge, Atlantik 2014, ISBN 978–3–455–60015–5, 20,00 Euro

 

Paola Cereda - “Agata verzaubert eine Insel”

In diesem Titel liegt die ganze Handlung: Agata, die mit ihrer Gegenwart und einem Gewürz, das sie kreiert (das Rezept ist dem Roman “beigelegt”), eine ganze Insel verändert. Agata ist die Tochter eines wortkarges Schmieds und einer Frau, die bei ihrer Geburt starb. Ihren Namen kennt der Roman nicht, im Buch wird sie vom Schmied als “Die Frau, die nicht kochen konnte” bezeichnet. Er wird immer “der Schmied” genannt. Aber da fängt das mit den vorschnellen Vorurteilen an - doch schon hier sind die Fährten falsch gelegt. Man wandert auf ihren wunderbar skizzierten Pfaden und wird überrascht, wie sie sich entwickeln, wohin sie führen.

Paola Cereda - “Agata verzaubert eine Insel”

Der Ort: eine namenlose Insel in Italien, Zeit: Ende des Faschismus, der Nachkriegszeit, eine Gefängnisinsel, die Inselbewohner leben von und mit den Gefangenen. Die Zeitläufte um sie herum interessieren sie nicht. Es ist ein Kokon, der funktioniert, karg zwar, wenn man das auf den Ort bezieht, aber einigermaßen erträglich. Doch dann ändert sich alles, die Gesellschaft, das Denken, das Obrigkeit als Schicksal empfindet und das Denken über Besitztum. Kaum merklich anfangs, später unheimlich, eine Kapitalismuskritik. Und das kam so:

Agata “erfindet” eine Salsa, eher zufällig, weil die Inhaberin einer Gaststätte in den Wehen liegt und sie, Agata, aushelfen muss bei der Zubereitung eines Mahls für den Gefängnisdirektor - der Weiße genannt. Er ist künstlerisch begabt (wollte eigentlich Tänzer werden und hat Maupassant gelesen - so erfährt man das in kurzen Nebensätzen) und führt Neuerungen ein, um die Insel bewohnbarer zu machen, für die Häftlinge und für die Einheimischen. Zu einem Jubiläum will er einen bekannten Zirkus vom Festland auftreten lassen - wider alle Regeln des Obrigkeitsdenkens. Ein aus Rumänien stammender Artist aus diesem Zirkus bestimmt fortan das Denken von Agata, ohne sie allerdings beherrschen zu wollen. Auch das ist neu an diesem Ort. Es setzt eine Entwicklung ein, die kaum aufzuhalten ist.

Das ist - kurz benannt - der Plot, der sich entwickelt zu einem Gegenwartsbild der damaligen Zeit, wunderbar zusammengesetzt aus den Einzelschicksalen der Inselbewohner und der Bewohner des Festlands.

Die Rätsel, die dem Roman entstammen, sind’s, die einen wunderbar einlullen lassen in eine Gegenwart, die mal gestern war, aber die Geschichte wiedergeben - das macht das Buch von Paola Cereda aus Turin (sie studierte Psychologie und schrieb für’s Theater) so lesenswert. Publiziert im Graf Verlag, der von Ullstein schon seit einigen Jahren gehegt und gepflegt wird mit solchen ausserordentlichen Romanen.


Paola Cereda, Agata verzaubert eine Insel, Graf 2014, ISBN–13 9783862200511, 18,00 Euro