Grüne diskutieren über Beschneidung

"In 10 Jahren sollten Kinder dieselben Rechte haben wie Hunde"

Am 7. Juni 2016 lud die LAG (Landesarbeitsgemeinschaft) Säkulare Grüne Bayern zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel "Beschneidung von Jungen – Eine Frage der Selbstbestimmung?" ins Stadtbüro der Münchner Grünen. Viele Fragen wurden an diesem Abend gestellt und diskutiert. Und es herrschte Einigkeit darüber, dass die genitale Selbstbestimmung ein Menschenrecht ist.

Nach einer Begrüßung durch die Sprecherin der LAG Säkulare Grüne Bayern sprach Walter Otte (Vorstand des BAK Säkulare Grüne) ein Grußwort, in welchem er der LAG seinen Dank aussprach, die Veranstaltung ermöglicht zu haben. Otte fasste die Geschichte des § 1631d BGB ("Beschneidungsgesetz") zusammen und merkte an, dass die damalige Debatte 2012 einen erheblichen Anstoß zur Gründung des BAK Säkulare Grüne gegeben hatte. Nachdem das Thema der Jungenbeschneidung auch bei den Grünen lange von der Tagesordnung war, sei es nun nicht zuletzt dem Abschlussbericht der Kommission "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" zu verdanken, dass die Grüne Partei das Thema wieder aufgreife.

Wichtig sei – darum das Fragezeichen im Titel der Einladung – eine Debatte zu führen und das Thema nicht ruhen zu lassen.

Die Position des BAK, so Otte, sei klar pro Religionsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht des Kindes und damit gegen die Entscheidungsbefugnis dritter über die Köpfe der betroffenen Kinder hinweg. Zudem sei es eine Ur-Grüne Position, Kinder als Subjekte mit eigenen Rechten zu verstehen. Und nicht zuletzt waren es die Grünen, die sich schon sehr früh für das Recht auf gewaltfreie Erziehung stark gemacht hatten.

Gislinde Nauy, die als Moderatorin durch den Abend führte, begründete eingangs, warum das Thema gerade auf die Agenda der Grünen Partei gehöre: Es war schon von je her die Stärke der Grünen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und keinen Bogen um sog. schwierige Themen zu machen. Zudem sei die Gleichbehandlung von Männern und Frauen eine der Grundsäulen grüner Politik.

Die Unterschiede der Geschlechter im Umgang mit Problemen schilderte die Diplom-Psychologin Melitta Sluka, die sich beruflich auf die Beratung von Jungen und heranwachsenden Männern spezialisiert hat. Probleme zu verbalisieren sei für Männer in der Regel eine größere Herausforderung als für Frauen. Und Beratungsangebote für Jungs gäbe es in Deutschland auch erst seit wenigen Jahren, da die Verletzungsoffenheit von Jungen und Männern in unserer Gesellschaft bis heute nicht wirklich wahrgenommen wird. Ein weiteres Hindernis, das bezüglich der Beschneidung bei der Beratung von Jungen und Männern im Weg stehe, sei das neue Gesetz, das sich negativ auf die Beratungssituation auswirke. Bei der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) habe man schon bessere Karten, denn das Argument "es ist strafbar" habe hier wesentlich mehr Gewicht. Für etwas Legales, das Kindern passieren kann, bräuchte es keine Beratungsstelle.

Die drei Männer, die mit der Expertin auf dem Podium saßen, sprachen stellvertretend für all jene, die (noch) nicht den Mut aufbringen, sich über dieses so intime Thema zu äußern. Gemeinsam war allen dreien, dass sie aus Kulturkreisen stammen, die die Jungenbeschneidung bis heute rituell praktizieren.

Alexander Bachl berichtete über persönliche Probleme mit seiner Beschneidung im Kindesalter aus muslimischen Motiven. Positiv an der Beschneidungsdebatte von 2012 hob er hervor, dass die negativ Betroffenen nun endlich wüssten, dass sie nicht alleine sind. Beschneidung ist kein Tabu-Thema mehr, das sei erleichternd. Daher wäre es wichtig, noch mehr Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Als negativ Betroffene bezeichnete er alle Beschnittenen, jeder habe etwas verloren, auch wenn schwerwiegende Komplikationen wie Verbluten des Kindes hierzulande, selten seien.

Das Beschneidungsgesetz empfinde er als Schlag ins Gesicht. Ihm wurde aus seiner Vorstellung ganz klar ein Unrecht angetan; Betroffene wurden geopfert um einen Kulturkampf zu vermeiden.

Dr. Jérôme Segal, Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde in Österreich, berichtete von negativen Reaktionen aus der jüdischen Community auf seine offiziellen Stellungnahmen pro Kinderrechte. Die Gemeinde drohte mit Ausschluss. Ségal, früher selbst als Autor für Charlie Hebdo aktiv, machte dies in einem Artikel zum Thema Religionskritik nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo publik – der Versuch, ihn aus der jüdischen Gemeinde auszuschließen, wurde darauf hin fallen gelassen. Statt Antisemitismus bekommt er als Jude immer wieder Selbsthass vorgeworfen seit er sich für ein Beschneidungsverbot stark machte.

Zuletzt werden die DiskutantInnen noch nach einer Wunschliste befragt. Wo sollten wir in 10 Jahren stehen? Einig sind sich alle, dass der § 1631d BGB weg muss. Die Psychologin erhofft sich dadurch mehr Chancen für explizite Beratungsangebote, die betroffenen Männer ein Bewusstsein für das Unrecht das ihnen widerfahren ist, vielleicht die Chance auf Schadenersatz und mehr Eltern, die Abstand nehmen von dem schwerwiegenden chirurgischen Eingriff.

Dr. Ségal empfiehlt den Grünen, sich in Bezug auf die Beschneidungsdebatte bei der Linken etwas abzuschauen, die 2012 zu großen Teilen gegen das Beschneidungsgesetz gestimmt hatte. Grundsätzlich sei er der Auffassung, dass es nicht mehr lange dauern sollte, bis es gleiche Rechte für Kinder wie für Hunde geben sollte – das Kupieren (abschneiden der Ohren bei Hunden) sei in Deutschland und Österreich ja schließlich auch verboten.

Trotz des positiven Tenors war der Abend nicht gut besucht. Das sommerliche Wetter hatte den Veranstaltern einen ordentlichen Strich durch die Rechnung gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass das nicht die letzte Veranstaltung dieser Art gewesen sein wird sondern vielmehr erst der Anfang war, das Thema der Jungenbeschneidung endlich auch in Deutschland in eine respektvoll geführte Diskussion zu integrieren und ihm den entsprechenden Raum zu geben. Vielleicht nicht nur bei den Grünen sondern auch in anderen Parteien? Der LAG Säkulare Grüne Bayern jedenfalls gilt der höchste Respekt, dass hier mutig ein Anfang gewagt wurde!