Kommentar

"Wallonien"-Bashing, Chlorhühner und die Medien

Wahrscheinlich werden sie bald auch noch für den Weltuntergang verantwortlich gemacht: Politisch, medial, aber auch gesellschaftlich ergeht momentan ein Bashing über drei Millionen Wallonen. Die belgische Region soll schuld sein daran, dass die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens CETA nun ins Wanken geraten ist. Die Vereinbarung mit Kanada, die Vorbild für andere Verträge sein soll, wurde vom Parlament der Wallonie in seiner unterschriftsreifen Form abgelehnt.

Vielleicht aber brachten die dortigen Abgeordneten nur jene Forderungen ein, die selbstverständlich sind: Mehr Verbraucherschutz, soziale Standards und Sicherheiten für einheimische Arbeitsplätze. Was die Wallonier aufdecken, das ist in Wahrheit ein Skandal. Denn sie sind es, die nun öffentlich machen, was das Abkommen bisher eben nicht beinhaltete. An oberster Stelle stehen die eigenständige Gerichtsbarkeit der Unternehmen und Staaten, von der zwar die europäische Bevölkerung gehört hatte, zu denen die Menschen aber mit sanften Worten – unter anderem des deutschen Wirtschaftsministers – abgespeist worden waren. Garantiert wurde die Einhaltung von demokratischen Grundsätzen. Doch waren das nicht alles leere Versprechungen, wenn sich nun endlich ein Parlament die Mühe macht, den Vertragstext im Detail zu lesen?

Ich wundere mich darüber, wie einseitig auch die Presse dieser Tage berichtet. Da wird davon gesprochen, dass es die Wallonie sei, die die Europäische Union nun handlungsunfähig mache. Dass man sich als EU schämen müsse in der Welt, weil man nicht in der Lage wäre, ein Freihandelsabkommen zu unterzeichnen. Und dass die restlichen Millionen Bürger Europas nun enttäuscht seien, weil eine Minderheit die Zukunft für den Kontinent blockiere. Ist es nicht vielleicht eher ein Zeichen von Verantwortung, eben nicht alles zu unterschreiben, was vorgesetzt wird? Bei manchem Politiker in unseren Parlamenten wundert man sich, dass sich Waschmaschinen und Elektrogeräte noch nicht stapeln, würden sie im wahren Leben genauso schlecht die Geschäftsbedingungen lesen und im Vertrauen und der eigenen Naivität blind unterzeichnen, wo es um angeblichen Fortschritt, um mehr Wachstum, um Profit und Macht geht. Die Wallonie legt andere Maßstäbe an: Sie fragt nicht allein nach den Vorteilen, sondern kalkuliert, was so ein Freihandel bedeuten kann, für die Menschenrechte, für den Arbeitsmarkt, für den Rechtsstaat.

Wer sich anmaßt, für die Europäer zu sprechen, wenn er die Sorge um das Ansehen der Staatengemeinschaft an der Durchsetzung eines zweifelhaften Vertrages festmacht, der muss sich doch ernstlich fragen lassen, was für eine EU er da verteidigen möchte. Die Wallonier beweisen, dass die großen Parlamente offenbar nicht in der Lage waren, sich für CETA genügend Zeit zu nehmen, um all die Einzelheiten zu lesen, die anscheinend noch immer im Vertrag fehlten oder so formuliert waren, dass sie für "den kleinen Bürger" letztendlich nur eine Menge Nachteile brachten. Belegt das massive Nachverhandeln nicht eher, dass nicht nur in unserem Bundestag wegweisende Entscheidungen wohl ausschließlich durch die Reihen durchgepeitscht werden? Und haben die Medien vielleicht vergessen, dass es nun keineswegs um ein Konfrontation zwischen der EU und den Walloniern gehen wird? Im Gegenteil: Gefühlsmäßig sprechen die dortigen Abgeordneten für eine Mehrheit an Europäern, die sich zunehmend von ihren eigenen Mandataren verraten fühlt. Man muss Wallonien dankbar dafür sein, dass es verhindert haben dürfte, den vielen Le Pens, den Straches, den Petrys oder den Wilders neue Nahrung zu liefern. Denn ja, auch ich werde zum "Wutbürger", wenn ich sehe, wie ein Abkommen schöngeredet und an der Öffentlichkeit vorbei beschlossen wird – und kann mir kaum vorstellen, dass die vielen anderen Parlamente in der EU tatsächlich für uns Bürger gestimmt haben, denn wir waren ja wiederum nicht einmal von ihnen gefragt worden.

Die EU falle zurück in die Nationalstaatlichkeit, so sagten es beispielsweise die Korrespondenten in ARD und ZDF, als deutlich wurde, dass Wallonien nicht nachgeben wird. Mit bedenklichen Worten machten die Reporter deutlich, dass der weitere Einigungsprozess der Union jetzt auf dem Spiel stehe. Nach Griechenland, Banken-Krise und Brexit nun das. Doch wo blieben die kritischen Worte, nicht nur im Blick darauf, dass offenbar nicht wenige Europäer diesen Weg der weiteren Integration im Augenblick nicht möchten? Wo war der Respekt für die Demokratie, die offenbar in Belgien zumindest noch funktioniert? Es erschreckt mich, wie unreflektiert die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sprechen, wenn es um Projekte geht, die allein vom Hörensagen so gigantisch klingen, sich in Wahrheit aber als eine trügerische Falle für all jene auszahlen dürften, die so wohltuend vom Bürgerwillen des europäischen Volkes schwadronieren. Ich gehe montags nicht auf die Straße, weil ich unseren Rundfunkanstalten eigentlich vertraue. Auch werfe ich ihnen nicht vor, "Lügenpresse" zu sein. Aber in solchen Momenten geht mir doch durch den Kopf, ob man sich CETA entweder schöngetrunken, durch die rosarote Brille angesehen hat – oder derartiger Fan der "EU-Institutionen" ist, dass eine unabhängige Einschätzung schon grundsätzlich nicht mehr möglich ist. Am aktuellen Beispiel entlädt sich Unmut über ein Konstrukt, das das Prinzip der Subsidiarität zu Grabe getragen hat. Die Europäische Union ist in einer Sinnkrise, da stimme ich den Kommentatoren durchaus zu. Ob wir reflexartig zur Wiederbelegung aufrufen sollten, da scheiden sich die Geister.

Wer sich "nicht über den Tisch ziehen" lässt, der ist kein Verräter an der gemeinsamen Sache unseres Europas. Viel eher ist Belgien jetzt zu einem Sprachrohr der Vernunft geworden, das die Unterschrift aus denjenigen Regeln zu verweigern fähig ist, die dem vor der nahezu in Tränen ausbrechenden Ministerin aus Kanada knicksenden EU-Parlamentspräsidenten offenbar auf die Nerven gehen. Das sagt viel über die Wertschätzung unseres Staatssystems, das trotz eines gemeinsamen Bundes nicht seine Rechte verloren hat. Und Übrigens: Ohne CETA geht auch Europa nicht unter. Bisher funktionierte der Handel auch. Erst dieser Tage hieß es, der Kapitalismus brauche ständige Anpassungen, ein "Mehr" an allem.  An Schiedsgerichten, an Chlorhühnern, an Arbeitslosen. Das sind plakative Stichworte, die die Befürworter von solchen Abkommen nicht hören wollen. Und wahrscheinlich sind sie auch übertrieben. Doch sie verdeutlichen, wonach die Bevölkerung mittlerweile derart verunsichert ist, dass sie offenbar Vieles glaubt. Und sie beweisen, dass manch ein Politiker bereit ist, jedweden Standard, der für unseren Lebensstil zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, zugunsten von mehr Globalisierung aufzugeben. Wallonien besinnt sich auf das, was an Wirtschaft ohne Verlust auch dann möglich ist, wenn man dabei bleibt, was im Moment gegeben scheint. Und erkennbar ist das Land auch ohne verbilligte Produkte aus Übersee intakt – und bewahrt damit nicht nur eigene ethnische Leitprinzipien, sondern zeigt sich umsichtig mit unserer Umwelt, mit Arbeitskräften und Ressourcen. Drei Millionen Menschen wollen das, was von ihrer heilen Welt übrig geblieben ist, nicht noch weiter internationalisieren. Das mag man als Absage an Kanada verstehen, auch als Rückweisung der EU. Oder man zweifelt: Was ist wirklich des Europäers heimlichster Wunsch?