In Heidelberg machte dieses auch "Geschichtenmobil" genannte Fahrzeug (offiziell vom Verein "Reformationsjubiläum 2017" betrieben) zwei Tage Station. Volkswagen und Deutsche Bahn sind Jubiläumspartner, die EKD, der evangelische Kirchentag und Luther2017 unterstützen das Projekt. Karl-Heinz Büchner, Reinhold Schlotz und unser Autor Bernd P. Kammermeier, die Luthers judenfeindliche Schriften in heutiges Deutsch übertrugen, besuchten den Truck, um zu erkunden, wie kritisch Luther – der Namenspatron der Lutherdekade und des Luther-Jahres - hier präsentiert wird. Sie fanden Überraschendes.
"Es ärgert uns, wenn unser Truck in der Presse 'Luther-Truck' genannt wird", meint der junge freundliche Assistent der Aktion auf dem Heidelberger Bahnhofsvorplatz mit Blick auf das strahlendblau lackierte und 16,5 m lange Fahrzeug. Vorne, direkt hinter dem Seitenfenster des Führerhauses prangt etwas verschämt ein winziges, schwarz-weißes Plakat mit Luthers Konterfei – das sattsam bekannte Emblem der Lutherdekade. Ansonsten finden sich keinerlei Hinweise auf Luther. Entsprechenden Nachfragen geht man hier gerne aus dem Weg. "Wir schauen nicht in die Vergangenheit, sondern nach vorne. Reformation findet noch immer statt", äußert sich ein anderer Helfer in rotem Sweatshirt. Aha! Dazu passt auch das große Motto auf dem Truck: "Kann ich vorausschauen, wenn ich zurückblicke?" Geschichtsvergessene tun das, schießt es durch meine Hirnwindungen.
Das Mobil jedenfalls tourt durch 19 europäische Länder im "Reformationssommer" (von November 2016 bis Mai 2017) und macht Station in 67 Städten. Die Reise endet in Wittenberg in dem Jahr, in dem sich Luthers angeblicher Thesenanschlag an der Wittenberger Stadtkirche zum 500. Mal jährt. Aber das Ganze – der Eindruck drängt sich auf - hat nichts mehr mit Luther zu tun? Wie das?
Vor fünf Jahren begannen nach Auskunft der freundlichen freiwilligen Helfer die Planungen des Projektes und offenbar habe vor zwei Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Man habe festgestellt, dass es nicht nur Luther gäbe, sondern auch andere Reformatoren und andere Städte als Luther-Städte, die hierfür infrage kämen. Das war der EKD vorher nicht bekannt? Auch nicht, als 2008 die Lutherdekade ausgerufen wurde? Es entspinnen sich interessante Gespräche an Bord des modern ausgestatteten Trucks – zunächst mit den Helfern, die durch unsere von Juliana Bernholt gehäkelte Luther-Puppe auf uns aufmerksam wurden. Es stellt sich rasch heraus, dass zumindest einige der Rotgekleideten nicht über Luthers antisemitische Seite informiert sind. Aber auch so erfährt man eigentlich in und um das Mobil nichts über die Reformation. Stattdessen laufen als Endlosschleife nett produzierte Tourismus-Werbefilme, die die jeweilige Stationsstadt vorteilhaft als weltoffen verkaufen.
Dann packen wir aus: Die Präsentation unserer Neuedition von Luthers Buch "Von den Juden und ihren Lügen" (Alibri, 2016) offenbart, dass dies nicht zur Lektüre der jungen Menschen gehört. Nachdem grob der judenfeindliche Inhalt vorgestellt wurde – vor allem die "scharfe Barmherzigkeit" des Reformators, die er in seinem berüchtigten "Sieben-Punkte-Programm" zur Vernichtung des Judentums formulierte, ist die Überraschung groß, dass diese furchtbaren Texte tatsächlich von Luther geschrieben wurden. Pfarrer Jürgen Lesch, der Repräsentant des Stationenwegs, mischt sich in die Gespräche ein. Er ist der Meinung, Luther "sei ein bisschen polterig gewesen. Nein, ein Rassist war er nicht, weil es diesen Ausdruck zur Zeit des Reformators noch gar nicht gab." Den Verweis auf die zwei Meter entfernt ausliegende Jubiläumsausgabe der Luther-Bibel lässt er nicht gelten, obwohl darin im einleitenden Text steht: "In seiner Polemik greift Luther auch Klischees auf, die von den Juden als einer verdorbenen Menschenart reden, der nicht einmal dann zu trauen sei, wenn sie sich bekehren wolle." (S. 29).
Nun bekommt Pfarrer Lesch Schützenhilfe durch Prof. Dr. Christoph Strohm, dem Ordinarius für Reformationsgeschichte und Neuere Kirchengeschichte der theologischen Fakultät Heidelberg. Auf unseren Einwurf, man habe lange Zeit in der EKD über Luthers Judenhass geschwiegen und jetzt sei davon wieder nichts zu erkennen, erwidert er, dass da gar nichts verschwiegen würde. Bereits in den 1970er-Jahren sei die dunkle Seite Luthers aufgearbeitet worden. Wir erwidern, dass dies In internen Kirchenkreisen und Arbeitsgruppen gewiss geschah. Doch die öffentliche Aufarbeitung – die sich an die gleiche Öffentlichkeit wendet, die die Lutherdekade und das Luther-Jahr mit einem dreistelligen Millionenbetrag finanziert – hat bis heute nicht stattgefunden. Nicht einmal die Helfer im "Geschichtenmobil" waren über diese Seite Luthers informiert.
Doch nicht nur unsere Arbeit, der im Frühjahr 2017 zwei weitere Bände mit judenfeindlichen Schriften Luthers folgen, auch die zunehmende Informiertheit einzelner Journalisten haben mittlerweile bei der EKD, so unser Eindruck, zu der Erkenntnis geführt, dass man Luther nicht mehr als strahlende Lichtgestalt präsentieren dürfe. Aber gerade unsere langjährige Arbeit an Luthers Schriften verleiten Herrn Strohm zu einem geradezu genialen Gegenargument: "Sie übersetzen gar nicht Luther; Sie haben sich ein paar wenige Punkte und üble Schriften herausgegriffen, weil Sie ein Problem mit der Kirche haben, und verbreiten diese mit durchschaubarer Absicht." Unser Hinweis, dass man dies bei Herrn Hitler in gleicher Weise tue, verfängt bei ihm nicht. Nun, man muss wohl an einer theologischen Fakultät lehren, um sich zu Luther äußern zu dürfen. Dabei äußern wir uns gar nicht über Luther, sondern wir lassen ihn Klartext reden - in seiner wirkmächtigen Fäkalsprache. Einer aus der eifrig diskutierenden Gruppe meint, Luther sei halt berühmt und deswegen könnten sich die Menschen leichter mit ihm identifizieren.
Doch als die Diskussion gerade richtig an Fahrt gewinnt, in freundlichem, sachlichem Ton von beiden Seiten, kommt einer der Helfer und meint dezent, er wolle uns einmal etwas auf der Außenseite des Trucks zeigen. Vielleicht ein weiterer versteckter Hinweis auf Luther? Wir folgen brav und wieder auf dem Bahnhofsvorplatz stehend meint der junge Mann, unsere Argumentation sei ihm zu aggressiv, die Diskussion sei beendet und stieg wieder in das Fahrzeug. So steht es also um die Diskussionskultur zumindest bei dieser Aktion. Unliebsame Zeitgenossen, die den Finger in die Wunde "Luther" legen, werden herauskomplimentiert. Die Sache ist ja laut Herrn Strohm seit den 1970er-Jahren erledigt. Schweigen im Walde. Ich frage mich spontan, was geschehen wäre, wäre wir geblieben wären. Bahnhofspolizei? Auf jeden Fall erinnert mich der Rauswurf an einen markanten Satz Luthers aus "Von den Juden und ihren Lügen": "Darum nur weg mit ihnen!"
13 Kommentare
Kommentare
MartinT am Permanenter Link
Ich bin Sonntag Abend am Luther-Mobil vorbei gegangen, wäre fast dran vorbei gelaufen, weil es seine Pforte weg vom Bahnhofsvorplatz, hin zu den Fahrradständern hinter dem Informationsschalter offen hatte.
Sommer ist von November bis Mai. Die dunkle Seite Luthers ist aufgearbeitet. Die Diskussionskultur ist offen. Ignoranz ist Stärke. Herzliche Grüße - Ihr Ministerium für Wahrheit.
Wilhelm Herzog am Permanenter Link
Was sollen Sie denn machen, wenn ihnen die Argumente ausgehen?
Bleibt ihnen eigentlich nur, die Sache wegzulächeln.
Das hierzu notwendige Seminar wurde wohl nicht besucht.
Karl Zeiler am Permanenter Link
"Was sollen Sie denn machen, wenn ihnen die Argumente ausgehen?"
Michael Paschko am Permanenter Link
Der Umgang von VW mit den Stickoxidwerten und der Umgang dieser Aktion mit Luther passen doch gut zusammen. Da hat man sich mal wirklich einen angemessenen Sponsor gesucht.
Kay Krause am Permanenter Link
Ja, so ist das: wer über jahrhunderte Märchen erfolgreich als "Wahrheit" propagiert, der kann mit der Realität nicht viel am Hut haben!
Resnikschek Karin am Permanenter Link
Wichtig, dass der Heiligenschein Luthers angekratzt wird. Aber Luther hat die kath. Kirche zu Recht angegriffen und die Bibelübersetzung ins Deutsche ist eine Kulturleistung erster Güte.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Liebe Karin Resnikschek,
"Nicht einfach: Würdigung und Kritik zu gleich."
Das ist sicher so. Aber das betrifft jeden Menschen, denn niemand ist nur "böse" oder nur "gut". Jeder hat Licht und Schatten. So ist das Aufbrechen der Strukturen der römischen Kirche sicher überfällig gewesen, nach 1.000 Jahren bleierner Zeit. Doch hat Luther dabei leider nicht nach vorne gedacht, sondern als Fundamentalist nach hinten. Er wollte zu den vermeintlichen Wurzeln des Christentums und brandmarkte die Realpolitik der Kirche als Auswüchse einer missverstandenen Bibel.
Entsprechend fiel seine Bibelübersetzung aus, die eben nach meiner Einschätzung (die viele Fachleute teilen) keine "Kulturleistung erster Güte" war. Zwar hat Luther die Bibel erstmals in eine dem Volksmund entnommene Sprache übersetzt und viele bis heute gebräuchliche Worte dafür erfunden. An vielen Stellen jedoch interpretierte Luther mehr, als dass er mit dem Willen, den vorliegenden Text sinngemäß einzudeutschen, vorging. So konnte er den grundlegenden Irrtum des frühen Christentums - nämlich dass bereits im AT von Jesus die Rede sei - in seiner Übersetzung implementieren. Viele seiner Irrtümer, die Irrtümer vorheriger Bibelübersetzungen noch schlimmer machten, sind heute dank akribischer Korrekturen beseitigt.
Das Schlimme ist jedoch, dass Luther seine eigenen Übersetzungsfehler teilweise als Grundlage seiner judenfeindlichen Theologie nahm. Er ist praktisch auf sich selbst hereingefallen. Besonders makaber ist, wenn er z.B. "Zitate" von "Gott" als Beweis für bestimmte Aussagen verwendet, wobei er doch wissen müsste, dass er diese "Zitate" selbst geschrieben hat.
Doch selbst wenn er vorzüglich übersetzt und die römische Kirche wirklich in Richtung Zukunft reformiert hätte, bliebe doch der Menschenhasser Luther, der nicht imstande war, das christliches Gebot der Nächstenliebe Juden, Muslimen, Papstanhängern, Bauern, behinderten Kindern und teilweise Frauen gegenüber aufzubringen. Würde Luther heute wirken, wären viele seiner Schriften als volksverhetzend verboten werden, während er an der Spitze der Pegida-Anhänger stünde.
Und solche Menschen - das ist meine persönliche Meinung - dürfen nicht zehn Jahre lang auf Staatskosten gefeiert werden. Hätte die EKD Luther da gelassen, wo er vor der Idee der Lutherdekade schlummerte, dann wäre keine Aufregung um ihn nötig - und die EKD müsste ihn jetzt nicht wieder schamhaft (?) oder aus Kalkül in der Unsichtbarkeit verschwinden lassen...
Dieter Bauer am Permanenter Link
Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass Wahrheit im religiös beherrschten Umfeld immer relativ betrachtet wird. Realität schlägt Fantasie! Realität ist nicht relativierbar.
Sunder Martin am Permanenter Link
Muß man bei so einem Massenmörder wie Luther wirklich noch was würdigen?
Dann müßte man bei Hitler auch was "würdigen."
Man könnte z. B. immer dazusagen, daß Hitler so schön malen konnte.
Rene Göckel am Permanenter Link
Ich hoffe, dass viele und auch die richtigen Leute diesen Artikel zu Gesicht bekommen. Gibt es einen Tourplan?
David Boehme am Permanenter Link
Ja, der Luther-Truck ... wahrlich interessante Erfahrungen, die hier geschildert werden.
Einsam und fast schon verstohlen stand der blaue Truck bei uns in Tübingen herum.
In der Zeit, in der wir in der Umgebung unsere Faltblätter zum Theme Kirchenfinanzen und Kosten der Lutherdekade (DANKE an Fowid!) verteilen wollten (wir kamen nicht dazu: Es war NICHTS los), war der Stand vor dem blauen Truck so gut wie nicht besucht besucht.
Wie bei einer pompösen katholischen Messe: Viel Lärm um nichts. Wobei die wenigstens noch ein nettes Schauspiel abgibt.
Hach, alles kirchliche Schauspiel in diesen Tagen könnte nichst weiter sein als die angst, die im Walde pfeift.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Ja, der Luther-Truck "
Ohne, dass ich das Fahrzeug so nannte, beschwerten sich die Helfer darüber, dass es in der Presse oft "Luther-Truck" genannt würde. Das hat man ihnen in der Schulung sicher eingebläut: Weder Luther-Truck, noch Lutherdekade oder Luther-Jahr haben etwas mit Luther zu tun. Nicht mal Luther selbst vermutlich...
Hans-Georg Seidel am Permanenter Link
Jede Religion, die Anspruch auf die alleinige Wahrheit erhebt, ist latent gefährdet in ihren Vertretern antihumane Verhaltensweisen zu forcieren.
In Luther nun ein Glaubensvorbild zu sehen, ist wohl eher grotesk.
So sehr seine Protesthaltung, u.a. gegen den Ablasshandel, auch berechtigt war, so wenig darf seine antijüdische Ebene negiert werden.
Es bleibt bei Luther religiöser Dogmatismus, der immer wieder Schrecken in der Geschichte verbreitet, gerade heute wieder aktuell nur aus anderer religions-fundamentalistischer Ecke. Nationalistisch politischer und religiöser Dogmatismus, dass sind u.a. latent zentrale "Totengräber des Schreckens."
Hans-Georg Seidel