Kommentar

Wer ist ein "Volksverräter"?

Das Unwort des Jahres 2016 ist "Volksverräter". Wenn man diesen Begriff verstehen will, muss man zunächst einmal untersuchen, wer als Volk definiert wird. Als die Marschierer der Montagsdemonstrationen 1989 und 1990 "Wir sind das Volk" riefen und das Ende der DDR einläuteten, brachten sie damit zum Ausdruck, dass die Regierung das Volk nicht mehr repräsentierte, und dass die große Mehrheit des Volkes demokratische Veränderungen forderte.

Wenn heute Pegida und andere rechtspopulistische Initiativen und Parteien von sich behaupten, sie seien das Volk, d.h. in deren Sinn seien sie die wahren Vertreter des deutschen Volkes, handelt es sich allenfalls um eine größenwahnsinnige Anmaßung. Sie haben sowohl die Parole "Wir sind das Volk" als auch die Protestform der Montagsdemonstrationen von einer geschichtsträchtigen Bewegung gestohlen und in das Gegenteil verkehrt. Nach allen Wahlergebnissen und Umfragen vertreten sie bundesweit 10 bis 13 Prozent der Bevölkerung, wobei offen ist, wie viele Menschen sich aus Protest gegen Globalisierung und sozialen Abstieg diesen Gruppierungen anschließen. Die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt die völkische Vereinnahmung ab und steht für Offenheit, Toleranz und demokratische Auseinandersetzung.

Doch den Köpfen der rechtspopulistischen Bewegung geht es weniger um Prozentzahlen. Sie sehen sich in der Perspektive als Vertreter eines völkischen und nationalistischen Deutschlands, das alles Fremde ausgrenzt und seine Interessen auf Kosten anderer Völker durchsetzt. Sie vertreten ein Bild von Deutschland, dessen Horizont auf Thüringer Bratwurst und Westfälischen Schinken begrenzt ist. Nichts gegen Thüringer Bratwurst oder Westfälischen Schinken, aber das Denken sollte nicht durch die Rauchschwaden vom Grill vernebelt werden. Aus dieser Sicht sind alle Bürger, die diese Anschauung ablehnen, "Volksverräter" oder bestenfalls verblendete Gutmenschen, die durch die "Lügenpresse" und die "Altparteien" manipuliert werden.

Für den Staatsrechtler Carl Schmitt, Verächter des Pluralismus und des Parlaments, konstituiert sich Politik in der Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Die Nationalsozialisten nahmen diese Auffassung durchaus wörtlich: Entsprechend führten sie den Tatbestand des Volksverrates in das Strafrecht ein und definierten ihn als ein "gegen das deutsche Volk gerichtete Verbrechen eines Volksgenossen, der die politische Einheit, Freiheit und Macht des deutschen Volkes zu erschüttern trachtet" (Wikipedia Volksverrat). In der Realität bedeutete dies, dass jede freie Meinungsäußerung und vor allem die Kritik am Nationalsozialismus als Volksverrat eingestuft und mit dem Tod bestraft werden konnte. Unter der aggressiven und wutschnaubenden Rechtsprechung des Präsidenten des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, wurden Todesurteile reihenweise gesprochen und vollstreckt. Mit "Volksverrätern" wurde nicht diskutiert, sie wurden exekutiert.

Wenn man mit ansehen muss, wie hasserfüllt und teilweise gewaltbereit Neonazis heute mit Gegnern und Kritikern umspringen, dann kann man sich ausmalen, wie sie sich verhalten würden, sollten sie jemals Macht erlangen – was alle demokratisch gesinnten Mitbürger verhindern mögen.

Das Unwort "Volksverräter" hat in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft keinen Platz, und wer es trotzdem benutzt, zeigt, wes Geistes Kind er ist: Er offenbart sich als Vertreter einer autoritären, nationalistischen und demokratiefeindlichen Ideologie.