"Gebrauchsanweisung für das Leben"

Die Augen zur Welt öffnen

Andreas Altmann hat sein inzwischen zwanzigstes Buch veröffentlicht. Wie immer ist es prall voll Leben, voller Miniaturen an Beobachtungen und lebendigen Skizzen von allerlei Menschen. Es ist vielleicht keine "Gebrauchsanweisung für das Leben" – es ist aber unbedingt eine Gebrauchsanweisung für unser eigenes.

Es fallen mir wieder unendlich viele Adjektive ein, um das aktuelle Buch von Andreas Altmann zu beschreiben: Lebensvoll, liebestrunken, frauenfeiernd, herzerwärmend, menschenzärtlich, schmerzreich und ehrlich. Aber wer den Autoren kennt, weiß, dass er genau diese Zuschreibungen nicht mag. Das ist ihm viel zu dick aufgetragen.

Seine Sprache erinnert an ein prallvolles Gemälde; mit einem bunten Pinsel locker-leicht dahingekleckst. Und doch: jeder Farbpunkt sitzt; kein Tropfen Farbe zu viel, und fehlte auch nur ein Pinselstrich, wäre das Gemälde spannungslos langweilig.

"Stell Dir vor, wie größenwahnsinnig ich bin", sagte er vor einiger Zeit, "weißt du, wie mein neues Buch heißen wird?" "Vermutlich: "Gebrauchsanweisung für die Welt" antwortete ich. "Wenn, dann kannst nur Du ein Buch mit einem solchen Titel schreiben."

Und tatsächlich ist es Andreas Altmann wieder einmal gelungen, den Leser auf seine Reisen an ferne und nichtsoferne Orte mitzunehmen. Es könnte sein, dass der aufmerksame Leser hinterher etwas freundlicher auf die Welt, das Leben und die Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen schaut.

"Der Autor verteilt keine Ratschläge, denn er weiß keine. Er weiß jedoch ein paar Geschichten, und die erzählt er. Da überzeugt, dass sie weiser sind und tiefer in Herz und Hirn fahren als Litaneien." (S. 11) Dabei tut Altmann nicht viel mehr, als zu leben, zu beobachten und davon zu berichten. Alles mit der gleichen, gnadenlos ehrlichen Konsequenz. Er weigert sich, zu jammern und zu erstarren: Er fordert vom Leben das pralle Alles. Er will kein blökendes Schaf in einer verdummten und sich selbst verdummenden Herde sein. Sich einzurichten in einem Leben in der Komfortzone kommt für ihn nicht in Frage. Er sei nicht aus der Enge von Altötting geflohen, um anderenorts zu verblöden.

Wie so häufig ist sein Reisebericht auch einer durch die Zeit; durch die viel zu kurze Spanne, die wir "Lebenszeit" nennen und die von Etlichen mit hirnlosem Nichtstun vergeudet wird. Kurz gestreift werden die eigenen, bitteren Erinnerungen an die eigene Kindheit um einen Traum von der Erziehung zu formulieren: "Ich würde jede Regung des Kindes zulassen, wenn es zur Welterkundung unterwegs ist… und würde ihm alle seine tausend Fragen, pro Woche, beantworten. … Sonst hätte ich nicht viel zu melden. Vielleicht noch, dass ein sinnliches, sinnenfrohes Leben entschiedener den Glücksquotienten nach oben treibt, als ab sieben Uhr morgens die Nase gegen die Karstadt-Tür zu pressen: um sich – Punkt neun – auf Schlussverkaufswühltische zu stürzen." (S. 33 f.)

Weiter geht es nach Paris, der "großen Liebe", die erst abwies und erobert werden wollte, und zur Gier, die die Welt beherrscht – "Geiz ist geil" sei Dank. "Nehmen wir aus aktuellem Anlass Donald Trump, der freilich entschlossen ist, den Wahnsinn hienieden zu vermehren… alles, was der king of greed bisher an Türmen und Casinos via Dollarbergen finanziert hat, (gehört) ins Museum des von Menschenhand fabrizierten Gruselns… Zur Abschreckung." (S. 54 f.)

Menschen, die nicht einfach nur so vor sich hinleben, sondern auch mal verspinnerten Ideen nachjagen – so wie der deutsche Arzt und Hobbytüftler, der einen "neuen Meilenstein in Sachen wundersamer Nutzlosigkeit gesetzt" hat: Einen Airbag für wenn man vom Dach fällt. "Ich liebe Nonsens. Den herrlichen, der zum schamlosen Kichern verführt," kommentiert Altmann die Vorstellung, dass sich ein Dachdecker noch während des Sturzes vom Dach in Ruhe mit seinem Airbag bekleidet. Doch sind ihm diese Spinner, diese Abenteurer lieber als all die grauen Menschen, die ihr Leben unglücklich leben; die ihre kostbare Zeit totschlagen. Und es oft nicht besser wissen und können.

Mitgefühl ist für den Autor eine der bewundernswertesten Eigenschaften des Menschen. Denn wer begreift, wie und dass der Gegenüber leidet, wird weiteren Schmerz zu vermeiden versuchen. "Die meisten Anderen,…, waren ungefähr wie ich: widersprüchlich, verführbar, grundsätzlich bereit, das 'Gute' zu tun, doch oft genug – im entscheidenen Moment – eine Spur zu ermattet: Weil dem Herz gerade der Schwung fehlt. Für die gute Tat, die einem anderen guthätte: wie eine sachte Geste, wie ein Lächeln." (S. 74) Wo ein Kind geschlagen wird, sollte man eingreifen; und bleibt doch oft nur sprachlos genervter Zuschauer.

Andreas Altmann, Foto: © Ulli Seer
Andreas Altmann, Foto: © Ulli Seer

Nur wenige deutschsprachige Autoren sind in der Lage, eine Liebesszene so zu beschreiben, dass sie nicht unappetitlich wirkt. Tucholsky resümierte schon vor fast 100 Jahren, dass die Beschreibung des Sexualaktes bei den Dichtern entweder schwülstig oder pornografisch sei. Daran hat sich nicht viel geändert, stellt auch Altmann fest. "Über Sex zu schreiben ist brandgefährlich. Weil der Abgrund der Lächerlichkeit hinter jedem Wort lauert. Deshalb halte ich – als Autor – meist den Mund und deute nur an. Der Leser soll den Rest fantasieren." (S. 99) Dabei ist Eros, Zärtlichkeit und Sexualität das wohl Wundervollste, das der Mensch hat; es ist das, was uns zu Höchstleistungen anspornt, glücklich macht und aber auch tief in die Depression ziehen kann. Jedoch ist ein Leben ohne all Dies einfach nur langweilig. Denn "es geht um das Glück, ersehnt zu werden. Dass eine/r nach mir verlangt: ist das nicht einen Freudenschrei wert? Tag für Tag?" (S. 100)

Mit der Religion hat es der Autor bekanntermaßen nicht so sehr. Das Verlangen nach unbedingtem Gehorsam, diesen "Autoritätskomplex", haben sein Vater gemeinsam mit prügelnden "Pfaffen und tätlichen Lehrern" ihm schon früh ausgetrieben. Religionen leben davon, sich "Herrscharen Folgsamer" gegenüber als Autoritäten aufzublasen. "Als Halbwüchsiger hatte ich Glück. Früh fiel mir der Widerspruch zwischen den 'Liebe-Deinen-Nächsten'-Sonntagspredigten und den Bosheiten auf, die während der folgenden Werktage stattfanden." (S. 110) Und so plädiert er dafür, nicht auf religiöse Verblödung zu setzen, wenn man die Welt kennenlernen möchte:

Natürlich braucht ein Mensch Vorbilder, ja, Leitlinien, um ein Ziel auszumachen, eine Richtung, in die er gehen will. Er muss einen Sinn finden. Warum aber den (leeren) Himmel danach absuchen? Warum nach Göttern Ausschau halten, die erstaunlich wenig zur Verschönerung des Lebens hier auf Erden unternommen haben? Warum kein Loblied auf den Humanismus anstimmen? Warum nicht als Humanist auf die Welt schauen? Und auf die Weltbewohner? Ohne Kirchenturmglockenterror um sechs Uhr morgens, ohne täglich fünfmaliges Gebrüll nach Allah, ohne Missionierungswahn, ohne Schlachtruf, ehe Trostversprechen aufs dubiose Jenseits, ohne einen einzigen Rachegott. (S. 118)

Menschlichkeit kommt ohne Götter aus; besser sogar als mit ihnen. Denn deren Nächstenliebe trifft und meint zumeist nur die, die des selben Gottes Autorität anerkennen. Und ohne das Korsett des Glaubens könnte der Mensch das trainieren, was er müsste und sollte: Freundlichkeit, "Mitgefühl und – (…) die Begabtesten unter uns – Güte." (S. 118)

Im Kapitel über den Schmerz erinnert Andreas Altmann an einen Verkehrsunfall, bei dem er stark lädiert wurde. Da heißt es: "Zugleich dachte ich an Selbstmord. … die Idee begleitet mich seit Jahrzehnten. Und beruhigt mich. Immer. Weil ein dahinvegetierendes Leben … nicht infrage kam. … Dass ich lebe, hat mich nie interessiert. Wie ich lebe, war allein maßgeblich."(S. 130) Für Jemanden, dessen größte Angst es ist, zu verkümmern und kein Ziel mehr für seine Neugierde zu finden, nicht mehr Reisen und Entdecken zu können, ist das eine logische Konsequenz. Nicht wahr, Herr Gröhe?

Und selbstverständlich gibt es ein Kapitel über Frauen im Buch. Ein Lobgesang auf Schönheit und Lebenswärme; auf den Duft, der nur Frau inne ist und den Blick, mit dem nur Frauen geheimnisvoll locken. Auch wenn Männerfreundschaften zu dem Innigsten gehört, dass der Autor "vorzuweisen hat"; Frauen sind der Teil der Menschen, die ihn zum Entdecker mach(t)en. "Immer, wenn ich eine Frau treffe, 'neu' oder schon bekannt, dann nehme ich mir vor, dass es 'interessant' wird. Nein, das Wort ist mir zu blass, ich wünsche mir, das ein 'So-soll-das-Leben-sein’-Tag passiert." (S. 159) Darüber, dass es dem Autor viele Male gelang, diese Tage zu erleben (aber auch deren Gegenteil), davon zeugt sein vorheriges Buch "Frauen.Geschichten". "Ach Frauen. Mein staunendes Ich in ihrer Nähe. Nichts fährt ungestümer in mein Herz als die beiden Aphrodisiaka‎ Schönheit und Geist. Eine Welt ohne Frauen, das ist eine schauerliche Vorstellung. Kein Flair würde mehr benebeln, keine Verheißung mehr verführen, niemand mehr ein Liebesgedicht flüstern." (S. 163)

Doch weil das Leben, für das wir hier eine "Gebrauchsanweisung" in der Hand halten, nicht immer nur schön ist, schreibt Altmann auch über Einsamkeit, Trauer und Tod. Und Arbeit. Die nervtötend sein kann – aber auch erfüllend und kreativ. "Arbeit versöhnt" meint er, "Wenn der Mensch seinen Platz in der Welt findet. Und dieser Platz stimmt, sprich, er dort etwas tut, was ihm eine Ahnung von Sinn vermittelt. Wie Monster Picard, der vor meinen Augen ein Haus isoliert." (S. 178) Schwer wird es allerdings, wenn man sich nur und ausschließlich über seine Arbeit definiert. Dann wird der Schrecken riesengroß sein, wenn sie abhanden kommt; wenn Mensch arbeitslos wird zum Beispiel. Und "gerade wir Deutschen definieren unser Selbstwertgefühl darüber, ob wir eine Beschäftigung haben, für die wir entlohnt werden." (S. 181) Es sind nur die Allerwenigsten, die das als Befreiung und Neuanfang begreifen.

Andreas Altmann selbst gibt die rechten Worte, um das Buch abschließend zu beschreiben:

Wer kennt nicht diesen Moment, in dem man einen Satz liest und nicht weiter kann? Weil man stillhält, um ihn zu verkraften. Weil man nicht stören will, wenn er bravourös durch den Kopf schwebt, da er ja Augenblicke lang nur Glück verheißt. Selbst dann, wenn er bekümmert klingt. (S. 187)

Dieses Buch zu lesen öffnet die Augen zur Welt. Ein wenig hat man das Gefühl, ein winziges Stück aufrechter zu gehen; den Menschen auf der gegenüberliegenden U-Bahn-Bank freundlicher anzuschauen und das Gegreine des Babys in seinem Wagen gelassener zu ertragen.

PS: Ich bin mir bewußt, dass ich nicht objektiv über ein Buch von Andreas Altmann schreiben kann.

Andreas Altmann, Gebrauchsanweisung für die Welt, Piper 2017, 240 Seiten, ISBN: 978-3-492-27686-3, 15,00 Euro