Karlheinz Deschner über Luther

Man nennt es Reformation

Im Luther gewidmeten Sonderband (2/2017) der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" wurde unter anderem auch ein Beitrag veröffentlicht, worin Gabriele Röwer Ausschnitte aus dem 11. und 12. Kapitel des 8. Bandes der "Kriminalgeschichte des Christentums" von Karlheinz Deschner zusammenstellte. Dem hpd stellte Frau Röwer ihren Begleittext zur Verfügung.

Die Kapitel über Martin Luther im 8. Band der "Kriminalgeschichte des Christentums" (KdC) schrieb Karlheinz Deschner aus demselben Blickwinkel – von unten, von den Opfern klerikaler und weltlicher (Macht-) Politik her – wie seine gesamte Kirchenkritik, andere Aspekte historisch-theologischer Forschung gelten ihm weitgehend als marginal. Diese oft monierte, indes den ethischen Voraussetzungen all seines Schreibens entsprechend bewusst gewählte Einseitigkeit begründete er ausführlich in der Einleitung zum Gesamtwerk (KdC Bd.1), das durchweg getragen wird von seiner Empörung über die Verkehrung urchristlicher Ideale, voran Friedfertigkeit, ins krasse Gegenteil, er nennt es "Heuchelei im Heiligenschein".

Gilt vor diesem Hintergrund ein Großteil der KdC der Kritik der katholischen Kirche (erweitert vor allem um die Verletzung des jesuanischen Armutsideals), so schließt Deschner seit dem 8. Band der KdC auch die protestantische Kirche ein, zumal ihren Inspirator Martin Luther. Sein Anspruch, nun, im Kontrast zu Katholiken, "evangelische", dem "Evangelium" gemäße Kirche zu sein, ist für ihn, von den ethischen Implikationen etwa der "Bergpredigt" aus gesehen, nicht nachvollziehbar, wie seine kritischen Ausführungen über Luthers (bei Paulus und Augustinus vorgezeichnete) Intoleranz, seine Gewaltbereitschaft (bis hin zum Tötungsaufruf) gegenüber Andersdenkenden – Altgläubigen, Bauern und "Ketzern", Hexen und Juden – zeigen, sobald seiner neuen, nun statt der alten "allein wahren" Lehre nicht entsprochen wird (Thomas Müntzer nennt ihn daher den neuen "Wittenbergischen Papst"). Wie passt dies, so die durchweg präsente Frage Deschners, zum Eu-angelion des biblischen Jesus, jenes "Christus", auf den Luther – nicht anders als die Päpste – sich stets beruft?

Karlheinz Deschner, Foto: © Evelin Frerk
Karlheinz Deschner, Foto: © Evelin Frerk

Im ersten, wegen der gravierenden historischen Folgen ihm besonders wichtigen Teil seiner Kritik, betitelt "Der Reformator läßt die Bauern schlachten" oder "Anzaigung zwayer falschen Zungen des Luthers" (der Untertitel verweist auf die von Deschner mehrfach erwähnte, oft, wie manch andere Reaktionen, widersprüchlich anmutende Taktik Luthers, erst sprachgewaltig zu werben und zu locken, bei Misserfolg mit allen Mitteln, auch den brutalsten, zu strafen, zumal "Ketzer" und Juden), beleuchtet Deschner ein Kardinalproblem der Lehre Luthers: Auch wenn er eine von dessen bedeutendsten Schriften – "Von der Freyheith eines Christenmenschen" (1520) – nicht explizit nennt, wird die fatale Crux dieses Freiheitsbegriffs im zentralen Konflikt Luthers mit den gegen ihre Unterdrückung rebellierenden Bauern offensichtlich. Verstanden diese, selbst wenn, wie meist, durchaus religiös gesonnen, "Freiheit" auch wörtlich, nämlich "fleischlich" ("weltlich", auf ihr unerträgliches, vor allem von Leibeigenschaft zu befreiendes Leben bezogen), galt er für Luther (gemäß seiner 1523 in der Schrift Von weltlicher Obrigkeit begründeten "Zwei-Reiche Lehre" – Gottes Reich und Reich der Welt, Kirche und Staat) rein "geistlich"-theologisch – für ihn wie für viele, die nach ihm kamen, ein Garant der Bewahrung der "göttlichen Ordnung" auf Erden, des "status quo", wie, nicht minder, wenn auch aus anderen Gründen, auf katholischer Seite. Deshalb, um das Proprium seiner "Reformation" nicht zu gefährden, gebot er u.a. den ihm ergebenen Landesherren Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern in den Krieg zu ziehen. Deren Niederschlagung bedeutete für Luther einen Sieg der Reformation "in Christo", für Deschner (und viele andere Vertreter der deutschen Geistesgeschichte) "eines der folgenreichsten Verhängnisse der deutschen Geschichte, keineswegs nur für die Bauern …, sondern für die Deutschen, Deutschland überhaupt" (nicht zuletzt wegen all der in Band 8-10 der KdC geschilderten Kriege der nächsten Jahrhunderte, auch zur Austragung von Konfessionskonflikten wie 1618-1648: "Solange die Menscheit eine Religionsgeschichte hat, hat sie eine Kriegsgeschichte." Robert Mächler, "Mittler" von Karlheinz Deschners Werk in der Schweiz).

So erweist sich das, was gemeinhin am Reformator Luther besonders gerühmt wird, für Deschner gerade als besonders bedenklich, ja, gefährlich – daher seine skeptische Distanzierung mit der Wahl des Titels für das 12. Kapitel Man nennt es Reformation –, zumal (am Schluss des 11. Kapitels) mit Blick auf jene, die, "geistlich frei", gut (oder vielmehr nicht gut!) "evangelisch", in der Folgezeit, auch durch Luthers "Zwei-Reiche-Lehre", sich legitimiert sahen, selbst den übelsten, die "weltliche" Freiheit der Bürger verhindernden Autokraten, auch Faschisten, zu Diensten zu sein, willfährig, ohne alle Skrupel, ja, besten Gewissens, was neben der (von Deschner in Die Politik der Päpste ausführlich aufgezeigten) Kooperation des katholischen Klerus mit dem europäischen Faschismus zuweilen leicht übersehen wird.

Die Bibelübersetzung Luthers ins Deutsche war eine nicht genug zu würdigende, gerade auch sprachliche Großtat, die ihn, so Deschner, "als Sprachgestalter neben Goethe und Nietzsche stellt" – ursprünglich als Weg des Gläubigen "unmittelbar zu Gottes Wort" ("sola scriptura" in der Einheit mit "sola gratia", "sola fide") gedacht, hernach freilich, sicher nicht vorausgesehen, gar von Luther intendiert (vgl. seinen Abscheu vor der teuflischen "Hure Vernunft", die "nichts kann, als alles lästern und schänden, was Gott redet und tut"), ein Meilenstein auf dem Weg zur säkularen, gegen den Widerstand der Kirchen erkämpften europäischen Aufklärung, welche in die Französische Revolution von 1789 mündete. Für deren Ziele, Befreiung der Vernunft von jeglicher Bevormundung und Schaffung besserer, gerechterer menschlicher Lebensverhältnisse, kämpften bereits im Bauernkrieg auch und besonders die Religiös-Sozialen, welche, von Luther befehdet, die von ihm propagierte "Freiheit" umfassend beim Wort nahmen (wie etwa Bertolt Brecht in Was nützt die Güte: "Anstatt nur frei zu sein, bemüht euch, einen Zustand zu schaffen, der alle befreit.")

Indes: So sehr auch die anhand von Deschners Luther-Kapiteln im 8. Band der KdC dargelegten bis in die Neuzeit horrend folgenreich wirkenden Anschauungen des Reformators noch "tief im Mittelalter" verwurzelt sind (Deschner zitiert am Schluss zustimmend ein Diktum des ansonsten nicht sonderlich von ihm geschätzten katholischen Kirchenhistorikers Joseph Lortz: "Luther war katholischer, als wir wußten."), so wenig kann ignoriert werden, so Deschner in der Auseinandersetzung mit dem Lutheraner Walther Bienert, dass, zum einen, diese Anschauungen untrennbar mit Luthers reformatorischer Theologie verbunden, ja durch sie gleichsam legitimiert wurden, dass, zum andern, das beliebte gegen Deschners Kirchenkritik gerichtete Argument, man müsse alles historisch Kritikwürdige – auch an Luther – stets aus der jeweiligen Zeit heraus verstehen, leicht ad absurdum zu führen ist, wie Deschner schreibt:

"Zeitgeschichtlich-bedingt war auch die ganze Reformation, zeitgeschichtlich-bedingt waren der Dreißigjährige Krieg und der Erste Weltkrieg und der Zweite und all die hundert und mehr Kriege und Interventionen der USA in der jüngsten Vergangenheit und die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Denn 'zeitgeschichtlich-bedingt' ist nur eine dummflaue Ausflucht, ist nur die ebenso nichtssagende Erklärung wie vielsagende Exkulpation nicht zuletzt auch vieler Historiker, deren sie sich schämen sollten, könnten sie sich schämen. Scham aber ist auch ihre Sache nicht – eher versinken wohl, zeitgeschichtlich-bedingt, unsere fünf Kontinente …"

Originalartikel aus der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" - dort auch mit Erläuterungen und Fußnoten (PDF)