Warum Fußball mehr Glück verbreitet als jede Religion

Endlich ein Gott, der es gut mit uns meint

Du solltest keine anderen Götter haben neben ihm. Denn er will nicht deine Seele auswringen. Er wirbt für Toleranz. Und er möchte, dass du dein einziges Leben genießt. Warum viele Menschen am liebsten an den Fußballgott glauben.

Seit ein paar Wochen verrichtet er wieder sein großes Heilswerk an uns. Der Fußballgott. Mit seiner Fußballreligion. Gemeinsam tun sie nur das, was alle Religionen tun - entheben uns des Alltags durch die Erfindung einer anderen Welt, zu der wir irgendwie auch gehören. Der Fußballgott allerdings ist allen konkurrierenden Göttern in einem entscheidenden Punkt überlegen: Was er anzubieten hat, gibt es tatsächlich.

Man kann das alle zwei Wochen im Heimstadion überprüfen. Man tritt in ein großes Gebäude ein, da ist sie. Die andere Welt. Wie in einer Kirche. In der Kirche aber ist dieses andere Reich nur erlebbar, wenn jeder mithilft. Wenn alle tüchtig dran glauben. Dann breitet es sich in den Hirnen der Anwesenden aus, vom Vorbeter getriggert, und deshalb ist es auch wichtig, die Kirchenbesucher schon von Kindheit an auf die dort vorgetragenen Märchengeschichten einzuschwören. Die Autosuggestion einer ganzen, wachen Gruppe von Menschen kann nur gelingen, wenn alle auf dieselben Vorgaben eingeschworen sind und nicht etwa zwischendurch jemand aufspringt und ruft: Aber der Kaiser hat ja gar keine Kleider an!

Diese gemeinschaftliche Erzeugung einer Illusion braucht viel Energie und eine hohe Konzentration. Deswegen hat man in Kirchen und sonstigen Gottestempeln so wenig Spaß. Die Erhabenheit ist der Wächter über den Glauben, ohne sie geht es nicht, weil jedes Kichern viel zu schmerzlich bewusst macht, dass man gerade einer Kinderfantasie nachhängt. Die Erhabenheit ist es letztlich auch, wegen welcher religiöse Menschen hoch aggressiv bis mörderisch werden können: Sie wollen unter keinen Umständen ihre Illusion aufgeben.

Da macht es der Fußballgott uns wesentlich leichter. Was er zur Aufführung bringt, ist wirklich da, 90 Minuten lang, du siehst die Spieler laufen, hörst die Pfiffe schrillen, kannst, in glücklichen Momenten, den wahrhaftigen Ball fangen, der eben noch im Spiel war und nun gerade ins Publikum geflogen ist. Am Inhalt dieses großen Gottesdienstes ist kein Zweifel möglich. Wie man sich im Haus des Fußballgottes aufzuführen hat, dafür gibt es kaum Maßregeln. Auch dies markiert den Abstand vom Alltag: Alles ist möglich. Jeder kann sich im Prinzip benehmen, wie er will, kann schreien, meckern, Fahne schwenken, jubeln, tanzen, umarmen, küssen, weinen... alles kann, nichts muss. Der Fußballgott hat ein sehr großes Herz.

Vor allem kommt er auch ohne absurde Anweisungen zur Lebensführung aus. Klar, gern darf man die Farben des Heimatvereins am Körper tragen, aber Bedingung ist das eben nicht. Der Fußballgott schreibt uns nicht vor, wann wir Fisch essen, mit wem wir schlafen oder ob wir Kringellöckchen am Ohr tragen müssen. Er lässt uns einfach alle kommen, so wie wir sind, und eigentlich gibt es in seinem Reich nur eine echte Verhaltensregel: Gewalt ist kacke. Man kann bei ihm singen und hüpfen und tanzen und pöbeln. Sobald man aber um Gewalt nachsucht, fliegt man raus. Gewalt hat in den Stadien nichts zu suchen und findet auch so gut wie nie statt. Jedes Oktoberfestwochenende ist ein Armageddon trunkener Ausschreitungen im Vergleich mit der Gewaltgesamtheit einer kompletten Bundesligasaison. Denn wenn die Medien sich auch gern auf ein paar Pyros stürzen: Ein Fußballspiel ist ein Fest der Selbstdisziplinierung, so wie klare Umgangsregeln ja überhaupt den Kern des Fußballs darstellen: Ohne Regeln kein Spaß.

So wird Zusammenleben möglich. Du bist nicht allein! Das ist die Botschaft aller Götter an die ihren, und hier steht auch der Fußballgott nicht zurück. Jeden zweiten Samstag, ha ho he!, taucht man wieder in die Masse der Eigenen ein, verschmilzt man mit all den anderen Seelen zu einem großen Klump in Vereinsfarben. Für zwei Stunden sind die sozialen Schranken des Alltags geöffnet: Ob Klempner, ob Architektin, ob Journalistin oder Kindererzieher, ob Bürgermeister oder Realschulabbrecher. Für diese zwei Stunden sitzen sie alle im selben Boot, sie feuern ihre Mannschaft an, und sie fallen sich um den Hals, wenn das Tor auf der richtigen Seite fällt.

Wenn man von der richtigen Mannschaft spricht, so heißt das natürlich auch, es gibt sie: die Idee der "Anderen". Den Feind. Ihn hat jede Religion. Das Feinddenken ist leider tief im Menschen verwurzelt. Religionen haben daher seit Jahrhunderten mit großer Inbrunst und zügelloser Grausamkeit andere, ihnen fremde Menschen verfolgt, verdrängt, gefoltert und getötet. Wie es scheint, wohnt der Trieb zum Krieg im Menschen, und die Religion hat ihren großen Anteil dazu beigetragen, in Freund-Feind-Schmata zu denken. Sie tut es bis heute. Islamistischer Irrsinn ist nur das medienträchtigste Beispiel unserer Zeit. Aber auch wer die Zehn Gebote im biblischen Kontext liest, weiß, mit welcher unfassbaren Wucht alle Nichtgläubigen dort niedergeworfen und vernichtet werden, wenn sie nicht in Jahwes Mannschaft spielen. 

Üblicherweise verlangen die großen Religionen dabei den Entwurf einer Doppelmoral bei den Ihren. Seid gut zueinander - verachtet die Ungläubigen! Ist unterm Strich meist, liest man ihre Offenbarungen, die Botschaft der Götter, die sehr genau zwischen ihrer Anhängerschaft und dem Rest der Welt zu unterscheiden pflegen. Sie teilen die Menschen in Gute und Böse - so wie der Fußballfan es natürlich auch tut. Da drüben, die hässlichen Schalker, die beschimpfen wir jetzt erst mal fröhlich.

Nur tut der Fußball für gewöhnlich zwei wichtige Dinge, um den Aggressionstrieb des Menschen unschädlich zu machen. Zunächst kanalisiert er ihn: Man kann die "Anderen" beschimpfen und schmähen, man kann in Jubel ausbrechen, wenn ein Tor gegen die gelingt. Die Menschen sind ja leider keine Engel. Etwas Dunkles, Dumpfes wohnt in ihnen, und manchmal muss es raus. Diese Reinigung kann im Stadion stattfinden.

Damit aber nicht genug. Nicht nur bietet der Fußball eine wichtige Form der Aggressionsabfuhr an, die am Ende niemandem weh tut. Sondern - und wer einmal zum Auswärtsspiel gefahren ist, hat es erlebt - viel höher als die Ablehnung ist eigentlich die Neugier aufeinander. Da flachst man sich an, unterschiedliche Farben tragend, da begegnet man sich nach dem Spiel beim Bier, da tröstet der Sieger den Verlierer. Viel mehr als alle anderen Götter bringt der Fußballgott nämlich die Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen.

Diesen Gott betet man gern und fröhlich an. Er spielt uns keine Vollkommenheit vor. Er stürzt uns ins Tal der Tränen, macht uns stark und lässt uns immer wieder die Hoffnung spüren. Statt mit einer anderen Welt zu locken, in der wir - von Sterblichkeit geprägt in allen Belangen - auf einmal unsterblich sein sollen. Statt dessen bietet er uns an, die hiesige Welt in aller Intensität zu erleben, und er sagt uns auch: Hej, am Ende wird alles nicht so wichtig gewesen sein. Mittwoch ist das nächste Spiel. In ein paar Monaten ist die neue Saison. Dann steht alles wieder auf Null. Du kannst immer wieder von vorne beginnen. Er droht mit keinem Weltuntergang, um uns zu irgend etwas zu bewegen, beim Fußballgott sind wir immer irgendwo im ewigen Kreislauf des Jahres, die Auf- und Abstiege kommen und gehen, immer wirst du bei diesen Gottesdiensten den Himmel sehen und Gras.

Heute beschert er seinen Anhängern in der Hauptstadt einen besonderen Feiertag: Die Berliner Hertha ist, für den Moment, ins Himmelreich eingezogen. Heute Abend spielen sie, nach langen Jahren der Entbehrung, endlich wieder einmal im Europapokal. Es wird kühl sein im Stadion, es werden keine besondere Attraktion geboten werden. Es wird, aller Erfahrung nach, keine fußballerische Offenbarung gegen Athletic Bilbao. Aber die Fans werden den Himmel sehen, werden sich unterhaken und singen. Freuen, dass sie am Leben sind, hier vielleicht intensiver als irgendwo sonst. Und einmal mehr werden sie spüren, dass es in keinem ausgedachten Himmel schöner sein kann als hier, genau jetzt.