Oberverwaltungsgericht NRW

Kein Anspruch auf Einführung islamischen Religionsunterrichts in NRW

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) in Münster hat am 9. November 2017 nach knapp zwanzigjährigem Rechtsstreit entschieden, dass der Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V. (ZMD) und der Islamrat für die Bundesrepu­blik Deutschland e. V. (IR) keinen Anspruch gegen das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) auf allgemeine Einführung islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen haben. Die klagenden Islamverbände sind keine Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes (Aktenzeichen: 19 A 997/02; Erste Instanz: VG Düsseldorf 1 K 10519/98).

Jacqueline Neumann (ifw) bewertet das Urteil und stellt fest, dass auch die geplante Weiterführung des islamischen Religionsunterrichts nach dem bisherigen Beiratsmodell in NRW nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Islam-Schulversuche in den Bundesländern

Derzeit erproben die Bundesländer mit verschiedenen Modellen einen Islamunterricht.  Dies geschieht gemäß der Deutschen Islamkonferenz (DIK) in Form von bekenntnisorientierten und religionskundlichen Schulversuchen. Der religionskundliche Unterricht soll die Schüler neutral über die Religion informieren, während in bekenntnisorientiertem Unterricht von Lehrkräften, die der Religion angehören, "zur Religion hin" unterrichtet wird.

Die Hälfte der 16 Bundesländer bot im Schuljahr 2016/2017 islamischen Religionsunterricht an: Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland. In Bayern und Schleswig-Holstein wird ein islamkundlicher Unterricht, der dem in den anderen genannten Ländern praktizierten Modell nahekommt, angeboten.

Der bekenntnisgebundene religionskundliche Islamunterricht, wie beispielsweise in Bayern, ist jedoch nach Einschätzung von Experten rechtswidrig, weil in diesen staatlichen "Unterweisungen" im Islam zwangsläufig religiöse Inhalte vermittelt werden und dies gegen den Grundsatz der staatlichen Neutralitätverstößt (Thomas Heinrich, 2017, Religion und Weltanschauung im Recht, S. 110).

In den acht Bundesländern ohne einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht unter staatlicher Aufsicht ergibt sich kein einheitliches Bild: In Berlin organisiert die "Islamische Föderation Berlin (IFB)" einen Islamunterricht. Dort sowie in Brandenburg und Bremen ist Religionsunterricht allerdings kein ordentliches Lehrfach und untersteht nicht der staatlichen Schulaufsicht.

In Hamburg gibt es einen "Religionsunterricht für alle", ein ähnliches Angebot existiert in Bremen. Keinen islamischen Religionsunterricht gibt es derzeit in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Oberverwaltungsgericht NRW 2003

Die beiden Islamverbände hatten am 8. Dezember 1998 ihre Klage erhoben. Im Jahr 2003 versagte  das OVG NRW in seiner ausführlich begründeten Entscheidung (Aktenzeichen: 19 A 997/02) den Verbänden eine Qualifizierung als "Religionsgemeinschaft", unter anderem weil nach ihrem Selbstverständnis und ihren Satzungen "die Verfolgung kultureller, sozialer und politischer Interessen im Vordergrund" stünde, nicht aber die "Religionsausübung und -vermittlung" und ihnen die "notwendige Legitimation durch von ihnen repräsentierte muslimische Schüler" fehle.

Bundesverwaltungsgericht 2005

Nach einer Fortführung der Klage entschied im Jahr 2005 das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), dass durch die Regelungen in Art. 7 Abs. 3 Sätze 1 und 2 Grundgesetz den "Religionsgemeinschaften" ein Rechtsanspruch gegen den Staat auf Einführung eines ihren Glaubensinhalten entsprechenden Religionsunterrichts an seinen Schulen eingeräumt wird.

In dem Urteil (BVerwG 6 C 2.04) heißt es, dass grundsätzlich auch ein mehrstufig aufgebauter Dachverband als "Religionsgemeinschaft" qualifiziert werden könnte. Voraussetzung hierfür sei, dass die für die Identität einer Religionsgemeinschaft wesentlichen Aufgaben auch auf der Dachverbandsebene wahrgenommen würden. Die Aufgabenwahrnehmung dürfe sich nicht nur auf die Vertretung gemeinsamer Interessen nach außen oder auf die Koordinierung von Tätigkeiten der Mitgliedsvereine beschränken. Die von dem Dachverband in Anspruch genommene religiöse Autorität zur Bestimmung der Grundsätze der Glaubensgemeinschaft müsse in der gesamten Gemeinschaft bis hinunter zu den Moscheegemeinden reale Geltung haben.

Darüber hinaus betonte das BVerwG, dass ebenso wie eine Religionsgemeinschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) anstrebe, eine Religionsgemeinschaft, die die Einführung von Religionsunterrichtbegehre, Gewähr dafür bieten müsse, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährde. Der Staat dürfe es nicht hinnehmen, dass zur inhaltlichen Gestaltung eines werteorientierten und wertevermittelnden Unterrichts an seinen Schulen eine Religionsgemeinschaft zugelassen werde, welche die elementaren Prinzipien in Frage stelle, auf denen dieser Staat beruhe. 

Religionsgemeinschaften, die beim Religionsunterricht mitwirken, verfügten über einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft. Sie müssten daher insbesondere Gewähr dafür bieten, dass sie die Rechte der am Religionsunterricht teilnehmenden Schüler achten und diese nicht dazu verleiten, die Rechte anderer, insbesondere Andersgläubiger zu verletzen. Es verböte sich, so das BVerwG weiter, einer Religionsgemeinschaft eine besondere Stellung in der Schule einzuräumen, welche nicht die Gewähr dafür biete, dass das Verbot einer Staatskirche sowie die Prinzipien von Neutralität und Parität unangetastet blieben. Letzteres wäre etwa bei Religionsgemeinschaften der Fall, die auf die Verwirklichung einer theokratischen Herrschaftsordnung hinwirken.

Der Senat sah sich zu diesen grundsätzlichen Ausführungen veranlasst, da das beklagte Land gegen den Anspruch der Verbände Bedenken hinsichtlich deren Verfassungstreue geltend gemacht hatte. Das BVerwG verpflichtete das OVG NRW deshalb, die dazu erforderlichen Tatsachenfeststellungen zu treffen, soweit sich die Dachverbandsorganisationen als "Religionsgemeinschaften" erweisen sollten.

NRW-Landesregierung schafft "Glaubenskampf in Münster"

Ungeachtet dessen führte das Land NRW einen provi­sorischen bekenntnisorientierten Islamunterricht als Modell­versuch ein. Grundlage ist das "Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (7. Schulrechtsänderungsgesetz)" von 2011.

Das Gesetz war mit den Stimmen von Rot-Grün und CDU beschlossen worden. Die damalige NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) sprach von einem "Zeichen für mehr Integration". Die Linke sah eine Einbindung rechtsgerichteter muslimischer Verbände und stimmte mit Nein. Die FDP enthielt sich.

Der Unterschied des NRW-Islamunterrichts zu dem von der evangelischen und katholischen Kirche praktizierten Religionsunter­richt nach Art. 7 Abs. 3 Sätze 1 und 2 Grundgesetz besteht darin, dass nicht eine Religionsgemeinschaft seine Lehrinhalte bestimmt, sondern ein achtköpfiger Beirat, der sich gemäß gesetzlicher Vorschrift aus acht "theologisch, religionspädagogisch oder islamwissenschaftlich qualifizierten" Vertretern zusammensetzt, von denen jeweils vier von den islamischen Organisationen in Nordrhein-Westfalen und vier vom Ministerium im Einvernehmen mit dem Koordinationsrat der Muslime (KRM) bestimmt werden (§ 132a Abs. 5 SchulG NRW).

Über den Beirat und die Lehrinhalte entstand ein "Glaubenskampf in Münster" (ZEIT). Mit den Vertretern der Islamverbände eskalierten politische Konflikte. Laut Medienberichten wollten die "Orthodoxen" "Querdenker loswerden" und den liberalen Theologen Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster), der mit der Lehrerausbildung beauftragt wurde, wegen "angeblicher Irrlehren" absetzen. Zum 31. Juli 2019 endet der Modellversuch. Aufgrund des Auslaufens des provisorischen NRW-Modells strebten die klagenden Islamverbände nun eine Ersatzregelung an.

Oberverwaltungsgericht NRW 2017

Anhand der vom BVerwG aufgestellten Kriterien entschied das OVG NRW am 9. November 2017, dass die klagenden Islamverbände nicht mit Sachautorität und ‑kompetenz für identitätsstiftende religiöse Aufgaben ausgestattet seien und die in Anspruch genommene religiöse Autorität in der gesamten Gemeinschaft bis hinun­ter zu den Moscheegemeinden keine reale Geltung habe. Damit verneinte der Senat bereits die Einordnung der Verbände als "Religionsgemeinschaften" und musste sich folglich zur Frage der Verfassungstreue der Islamverbände nicht mehr äußern. Diese Frage der Verfassungstreue der Islamverbände ist daher weiterhin offen.

Reaktionen

NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) sagte zum Urteil: "Ich bin froh und hoffe, dass die rechtlichen Auseinandersetzungen nunmehr einen Abschluss gefunden haben." Die Landesregierung sei entschlossen, weiterhin islamischen Religionsunterricht anzubieten. "Angesichts von fast 400.000 muslimischen Schülerinnen und Schülern in NRW gehört ein solches Angebot an unsere Schulen." Gebauer bekräftigte auch, "die bisherige konstruktive Zusammenarbeit mit den beiden Klägern und den anderen im Beirat für den islamischen Religionsunterricht vertretenen Verbänden fortführen" zu wollen. Dafür solle das Beiratsmodell weiterentwickelt werden.

Yvonne Gebauer hatte hingegen 2012 im Zuge der Einführung des Beiratsmodells noch betont: "So lange es keine anerkannte Religionsgemeinschaft gibt, dürfte man den islamischen Religionsunterricht nicht anbieten". Auch der ehemalige hessische Justiz- und Integrationsminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) warnte bereits 2012: "Die in NRW und Niedersachsen gewählte Beirats-Lösung ist nach meiner juristischen Bewertung verfassungswidrig." Dahingegen sagte Ludger Schrapper, Ministerialdirigent im NRW-Schulministerium, nach dem Urteilsspruch: "Wir sind froh, dass sich die konstruktive Zusammenarbeit im Beirat fortsetzen lässt und hoffen, dass dies so bleibt." 

Der ZMD kritisierte das Urteil, ohne jedoch rechtliche Argumente zu liefern.

Der Islamrat kündigte an, dass die OVG-Entscheidung "nicht das Ende unserer Bemühungen" sei und der IR weiter an der "dauerhaften Etablierung eines islamischen Religionsunterrichts" arbeiten würde, jedoch eine "rote Linie" dort zöge, "wo die Bekenntnisgebundenheit nicht mehr gegeben ist".

Bekir Altas, Generalsekretär von Milli Görus, der zum IR gehört, äußerte Überraschung nach dem Urteil. Es werde nun zu prüfen sein, ob die Verbände gegen das Urteil noch Rechtsmittel einlegten oder ob etwa die Landesverbände vor Gericht einen neuen Vorstoß unternähmen, um als Religionsgemeinschaften anerkannt zu werden.

Allerdings wurde Revision gegen das Urteil nicht zugelassen. Da­gegen können die Kläger Nichtzulassungsbeschwerde erheben, über die dann das Bun­desverwaltungsgericht zu entscheiden hätte.

Volker Beck, ehemaliger grüner Spitzenpolitiker und Lehrbeauftragter am Centrum für religionswissenschaftliche Studien an der Ruhruniversität Bochum (CERES) wies im Interview mit Walter Otte für den Humanistischen Pressedient (hpd) darauf hin, dass Hessen das erste Bundesland war, das den Bekenntnis orientierten islamischen Religionsunterricht auf der Grundlage von Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes eingeführt und hierfür die beiden Religionsgemeinschaften Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) Landesverband Hessen und Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland als Religionsgemeinschaften nach Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz anerkannt hat.

Hamed Abdel-Samad schreibt: "Jetzt müssen alle Bundesländer, die mit ihnen (den Islamverbänden) den Islamunterricht organisieren uns sagen, mit welcher Legitimation sie das tun!"

Einschätzung des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw)

Das Urteil des OVG NRW hat nach Einschätzung von Jacqueline Neumann (ifw) mit der ablehnenden Begründung zum Aspekt der Anerkennung von Religionsgemeinschaften im Rahmen von Art. 7 Abs. 3 Sätze 1 und 2 Grundgesetz Signalwirkung für den Islamunterricht in anderen Bundesländern. Hier steht Hessen besonders in der Kritik. Das Urteil kann der hessischen Landesregierung als Grundlage für eine Überprüfung ihrer Entscheidung bei der Anerkennung des hessischen Landesverbandes der Religionsgemeinschaften Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) dienen. Wie begründet Hessen den Status als Religionsgemeinschaft?

Hinzu kommt die gerichtlich nicht geklärte Frage der Treue zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO). In NRW haben sich Probleme mit der politischen und finanziellen Anhängigkeit der DITIB von Diyanet, der türkischen Religionsbehörde, herausgestellt. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen Mitarbeiter der DITIB wegen Spionage. Zudem sind Denunziationssysteme zur Lenkung des Islamunterrichts in NRW aufgefallen. Seit Februar 2017 ruht die Mitgliedschaft der DITIB im NRW-Beirat. Mit der Suspendierung ist jedoch keine Abhilfe geschaffen.

Insgesamt ist das Beiratsmodell als verfassungswidrig einzuschätzen: NRW verstößt mit dem Beirat für den islamischen Religionsunterricht gegen die Gebote der Trennung von Staat und Religion und der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Wenn einerseits ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft erteilt werden soll und andrerseits die Trennung von Staat und Religion gewährleistet bleiben soll, der Beirat jedoch nicht vom Staat unabhängig ist, beispielsweise als Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR), sondern bei der NRW-Landesregierung angedockt ist, dann mischt sich das Land NRW letztlich in die Glaubensauslegung und -vermittlung des Islams ein.

Michael Schmidt-Salomon (ifw-Direktorium) weist zudem auf grundsätzliche rechtsphilosophische Kritik an der aktuellen Schulpolitik in NRW und anderen Bundesländern hin: "Werte, die für alle gelten sollen, müssen auch für alle einsichtig sein, weshalb sie eben nicht auf religiösen Überzeugungen fußen dürfen, die weite Teile der Bevölkerung nicht akzeptieren."

Der rechts- und schulpolitische Reformvorschlag des ifw lautet: Konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen abschaffen und allgemeinverbindlichen Ethikunterricht einführen. In diesem Schulfach würde verfassungskonform die allgemeine Wertebildung an die Stelle konfessioneller Werteerziehung treten. Damit sind die Schülerinnen und Schüler nicht wie bisher getrennt nach Glaubensrichtungen als "katholische", "protestantische" oder "muslimische" Kinder zu unterrichten, sondern erfahren in einem gemeinsamen Schulunterricht, wie sie sich mit Ethik, Lebensgestaltung und religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen auseinandersetzen können.

Erstveröffentlichung am 10. November 2017 auf der Webseite des ifw.