Verwaltungsrechtler Dr. Gerhard Czermak:

Das Berliner Neutralitätsgesetz kann in Kraft bleiben

Wie der hpd bereits mehrfach berichtete, soll das Land Berlin nach Auffassung des Berliner Justizsenators Behrendt aufgrund einer BVerfG-Entscheidung von 2015 verpflichtet sein, das Neutralitätsgesetz zu ändern. Dem widerspricht eine Stellungnahme des renommierten Verwaltungsrechtlers Dr. Gerhard Czermak. Der Jurist kommt zu dem Schluss, dass Berlin an seinem bewährten Neutralitätsgesetz festhalten kann.

Die Initiative "PRO Neutralitätsgesetz" begrüßte in einer ersten Stellungnahme das Gutachten des Mitglieds im Direktorium des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) als "Stärkung der Arbeit für die Bewahrung der religiös-weltanschaulichen Neutralität in den Kernbereichen staatlicher Tätigkeiten".

Nach Ansicht der Initiative übersieht der Justizsenator, dass Lehrergrundrechte durch die Erfordernisse der Amtsausübung und des Schulfriedens überlagert sind. Auch das wird durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2015 bestätigt. Denn danach ist – anders, als es der Justizsenator versteht – religiöse Bekleidung keineswegs generell erlaubt worden. Derartige Bekleidung kann demnach auch künftig untersagt werden, wenn es zu einer "konkreten" Gefährdung oder Störung des Schulfriedens kommt. Ist der Schulfrieden ohnehin durch Konflikte über das "richtige" religiöse Verhalten von Schülern und Schülerinnen gestört, kann das Tragen religiöser Bekleidung ebenfalls unzulässig sein, so das Gericht.

Angesichts der konfliktreichen religiösen Zusammensetzung vieler Berliner Schulklassen ist nach Überzeugung der Initiative der Schulfrieden vielfach konkret gefährdet, würde die Schule vom Ort der Wahrnehmung dienstlicher Pflichten (vgl. Art. 33 Abs. 5 Grundgesetz) zu einem Ort, an dem private Glaubensüberzeugungen kundgetan würden.

Dr. Czermak stellt in seinem Gutachten (siehe Anlage) zu Recht die Frage, wie weltanschaulich neutral eine orthodox-islamische Lehrerin sein kann, die nicht einmal für die begrenzte Zeit ihrer Berufsausübung auf ein demonstratives Glaubenssymbol verzichten will. Immerhin ist das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität seit BVerfGE 19, 206 (216) ein anerkanntes staatstragendes Verfassungsgebot.

Für die Verbindlichkeit der Entscheidung von 2015 für das Berliner Neutralitätsgesetz ist folgendes von wesentlicher Bedeutung:

Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts weicht von der früheren Entscheidung des 2. Senats zu religiöser Bekleidung aus dem Jahr 2003 ab. Danach genügt bereits eine "abstrakte" Gefahr für ein Verbot religiöser Bekleidung im Unterricht.

Nach der Entscheidung des 1. Senats des BVerfG von 2015 ist ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen unzulässig, aber nur soweit die 2015er Entscheidung isoliert betrachtet wird.

Für die richtige Einschätzung der Rechtslage müsste der Berliner Senat auch auf die Widersprüchlichkeit der Entscheidungen des BVerfG von 2003 (2. Senat) und 2015 (1. Senat) eingehen. Der Justizsenator hat bisher leider nicht erkennen lassen, sich damit auseinandersetzen zu wollen.

Wenn zwei Senate des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in tragenden Entscheidungsgründen widersprüchliche Positionen vertreten, sind beide nicht verbindlich. Für solche Fälle müssen sich eigentlich beide Senate verständigen. Das ist im Fall der Entscheidung von 2015 nicht geschehen.

Die beiden Entscheidungen von 2015 und 2003 sind jedenfalls gleichberechtigt; ihre Reihenfolge spielt keine Rolle. Aus diesem Grund kann es nach Ansicht des Verwaltungsrechtlers für das Land Berlin nicht ersichtlich sein, welcher Position es bei der Beurteilung des Verhältnisses von Art. 4 GG und dem Neutralitätsgebot folgen soll. Der Berliner Gesetzgeber kann sich also auch auf die Entscheidung von 2003 stützen. Deshalb bleibt das Neutralitätsgesetz bis zu einer etwaigen künftigen Aufhebung durch einen Senat des BVerfG gültig. Ein Anlass zu einem gesetzgeberischen Vorpreschen besteht nicht.

Angesichts dieser rechtlichen Rahmenbedingungen lehnt die Initiative alle politischen Bestrebungen entschieden ab, "das vorbildliche Berliner Neutralitätsgesetz aufzuweichen." Im Gegenteil ist der Berliner Senat "aufgefordert, sich zügig auf eine gemeinsame Linie zu einigen und auf dem gerichtlichen Instanzenweg konsequent für das Berliner Neutralitätsgesetz zu kämpfen."