Kommentar

Weniger christliche Gläubige, mehr christliche Feiertage?

Die Regierungen der vier norddeutschen Bundesländer Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg und Niedersachsen streben an, den Reformationstag am 31. Oktober als gesetzlichen Feiertag einzuführen. Prompt werden auch im Land Berlin wieder Stimmen laut, die ähnliche Wünsche hegen – obwohl ein weiterer christlicher Feiertag kaum zu rechtfertigen ist.

Vorangegangen war eine Neiddebatte der besonderen Art: Mit neun gesetzlichen Feiertagen im Jahr liegen die Bürger der fünf genannten Bundesländer am unteren Ende der Feiertagsskala, während die Einwohner Bayerns auf 13 Feiertage kommen. Dieses Süd-Nord-Gefälle zu verringern, ist das erklärte Ziel der jüngsten Bestrebungen.

Offenbar wiegt das gerechtigkeitsgetriebene Ansinnen schwer genug, um ethische Bedenken hinsichtlich des ausgewählten Feiertags und seiner umstrittenen Hauptfigur hintanzustellen. Ursprünglich war der 31. Oktober nicht der von allen Beteiligten favorisierte Tag, doch letztlich schien nur dieser Kandidat ausreichend konsensfähig. Es ist erstaunlich, wie leicht man nun doch zu dieser Entscheidung gelangen konnte, denn erst vor wenigen Monaten befassten sich Feuilletons und Leitartikel kritisch mit der Tauglichkeit Martin Luthers als Protagonist des Gedenkens an die Reformation in Deutschland. Nicht zuletzt dessen antisemitische Gesinnung drohte im vergangenen Jahr der evangelischen Kirche das Fest zum 500-jährigen Reformationsjubiläum zu verhageln. Die unter öffentlichem Druck nachjustierte Haltung der Kirche sah schlussendlich vor, Luther als ambivalente Figur zu würdigen, was in stellenweise schizophren anmutenden Kombinationen aus Huldigung und pflichtbewusster Kritik mündete und nicht jeden Beobachter zufriedenstellte.

Nun soll der Reformationstag also nach den fünf ostdeutschen Flächenländern auch in weiteren Bundesländern zum permanenten gesetzlichen Feiertag befördert werden. Grund genug, einen Blick auf Artikel 140 des Grundgesetzes (GG) zu werfen, der das Verhältnis von Staat und Kirche zum Inhalt hat. Artikel 140 GG verweist auf einige Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919, die durch diese Regelungstechnik Bestandteil des aktuell geltenden Verfassungsrechts werden. Für den Themenkomplex der Feiertage ist Artikel 139 WRV relevant: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt." Damit ist das Institut gesetzlicher Feiertage verfassungsrechtlich garantiert (sogenannte Institutsgarantie), jedoch ohne konkrete Festlegung der Anzahl der Feiertage. Auch fehlen dem Wortlaut Kriterien, nach denen sich direkt bestimmen ließe, wann ein bestimmter Feiertag abgeschafft oder neu bestimmt werden kann oder muss.

In der Vergangenheit schienen sich derartige Fragen gar nicht zu stellen, da die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer der christlichen Kirchen angehörte. Folglich orientierten sich die gesetzlichen Feiertage an den christlichen Feiertagen, wenn auch mit geringfügigen regionalen Unterschieden. Heute ist dies anders: Bundesweit stellen die Mitglieder der evangelischen und der katholischen Kirche zusammengenommen zwar noch knapp über die Hälfte der Bürger, jedoch ist in mehreren Bundesländern bereits die deutliche Mehrheit konfessionslos. Von den eingangs genannten Bundesländern, die sich mit der Einführung eines neuen Feiertags befassen, trifft dies für Hamburg und Berlin zu, in denen knapp zwei Drittel respektive drei Viertel der Bürger keiner der christlichen Kirchen angehören. Auch in den übrigen Ländern schrumpfen die Kirchen und es ist absehbar, dass sich diese Tendenzen fortsetzen werden.

Nichtsdestotrotz beziehen sich nach wie vor alle weltanschaulich geprägten gesetzlichen Feiertage in Deutschland auf einen christlichen Hintergrund. Daneben gibt es drei säkulare Feiertage: Neujahr, Tag der Arbeit und Tag der Deutschen Einheit. Angesichts dessen ist fraglich, weshalb mit dem Reformationstag ein weiterer christlicher Feiertag eingeführt werden sollte. Immerhin sind diese, verglichen mit dem Anteil der Christen und Christinnen an der Gesamtbevölkerung, bereits weit überproportional vertreten. Angehörigen anderer Konfessionen und Konfessionslosen würde ein weiterer christlicher Feiertag aufgezwungen, obwohl sich angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse eine ganz andere Notwendigkeit aufdrängt: Müsste man nicht vielmehr die Abschaffung einiger christlicher Feiertage forcieren? Insbesondere die Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt stechen hier ins Auge, da sie jeweils über 80 Prozent Nichtchristen in der Bevölkerung aufweisen. Eine Anpassung der gesetzlichen Feiertage ist hier geboten.

Rechtlich steht dem nichts im Wege, da Art. 140 GG, Art. 139 WRV keine Mindestvorgabe bezüglich der christlich geprägten Feiertage beinhalten. Die maßvolle Streichung einiger dieser Feiertage lässt die institutionelle Garantie im Kern unangetastet, solange eine angemessene Anzahl übrig bleibt. Denkbar ist beispielsweise der Verzicht auf weniger wichtige und/oder die "zweiten" Feiertage. Statt durch gesetzliche Feiertage Institutionen wie die christlichen Kirchen hervorzuheben, die infolge moralischer Fehltritte und anhaltender Realitätsverweigerung mit Vertrauenseinbußen, Mitgliederschwund und Bedeutungsverlust zu kämpfen haben, könnten an deren Stelle Ideen, Ereignisse oder Personen gewürdigt werden, die tatsächlich einen Anlass zum Feiern bieten.

Wie wäre es zum Beispiel mit dem 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte – die oft genug erst mühevoll gegen die Kirchen durchgesetzt werden mussten? In der bisherigen Debatte fielen außerdem die Daten: 27. Januar, Befreiung Auschwitz'; 8. März, Weltfrauentag; 8. Mai, Befreiung vom Nationalsozialismus; 23. Mai, Tag des Grundgesetzes. All diesen Vorschlägen ist gemein, dass sie nicht auf eine bestimmte religiöse Glaubensrichtung festgelegt sind, sondern für Werte stehen, die auf andere, breitere Fundamente gebaut sind. Sie bieten somit eine Möglichkeit, die Gesamtbevölkerung anzusprechen, statt nur einzelne Teile derselben. Religiöse Feiertage sind per definitionem explizit auf die Bedürfnisse einer recht klar abgrenzbaren Gruppe zugeschnitten, die somit in den Genuss besonderer Vorrechte kommt. Angesichts der stark gesunkenen Bedeutung der Kirchen ist zu konstatieren, dass der nonchalant eingeforderte Anspruch auf solche Vorrechte und die Begründung dieses Anspruchs weit auseinander klaffen. Dieser Diskrepanz gilt es Rechnung zu tragen, indem christliche durch säkulare Feiertage ersetzt werden, die ein Identifikationsangebot für potenziell weit größere Teile der Gesellschaft schaffen.

Wer weiterhin auf einem zusätzlichen christlichen Feiertag beharrt, muss sich fragen lassen, wie dessen Einführung gerechtfertigt werden soll. Für einen Großteil der Gesellschaft ist der Reformationstag ohne jede Relevanz, ganz zu schweigen von der Aussicht auf "seelische Erhebung". Warum nicht einen neuen Feiertag wählen, der für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit von Bedeutung ist? Warum in diesen Zeiten einen völlig unnötigen Schwerpunkt auf religiöse Manifeste legen? Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in Deutschland schon schwammig genug. Zwar ist eine Staatskirche, wie beispielsweise in England, ausgeschlossen; jedoch ist das Grundgesetz auch weit entfernt von einer konsequent laizistischen Regelung wie beispielsweise in Frankreich. Hier bestehen noch einige offene Baustellen, wie insbesondere die Ablösung der Staatsleistungen, weshalb wünschenswert wäre, dass der Staat den Kirchen wenigstens keine weiteren Zugeständnisse in Form ungerechtfertigter Feiertage macht.

Bleibt es dabei, dass der Reformationstag auch in weiteren Bundesländern ein Feiertag wird, so ist nicht damit zu rechnen, dass jedes Jahr am 31. Oktober eine plötzliche Rückbesinnung auf Luther und seine Thesen einsetzt. Wahrscheinlicher ist die endgültige Besetzung des Datums durch Halloween, das sich an einem arbeitsfreien Feiertag natürlich noch besser feiern lässt. Und wie Christi Himmelfahrt längst der heimliche Feiertag der Bierbrauer und Bollerwagenhersteller ist, so wird der Reformationstag der heimliche Feiertag der Kürbisbauern und Süßwarenfabrikanten werden.