Amokfahrt in Münster

Von einem Terrorakt, der keiner war

Am Samstag fuhr im westfälischen Münster ein Mann in eine Menschenmenge und erschoss sich danach selbst. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg lebt nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt. Sie hat die Stadt bemerkenswert gelassen erlebt – ganz anders als in den meisten Medienberichten zu lesen.

Auf dem kleinen Platz am Spiekerhof steht eine Kiepenkerl-Statue – das Bildnis eines historischen Händlers aus der Region. Sobald es warm wird, stellen die am Platz gelegenen Traditionsgaststätten "Großer Kiepenkerl" und "Kleiner Kiepenkerl" dort Tische und Stühle auf. So war es auch am vergangenen Samstag, dem ersten warmen Frühlingstag. Um 15:27 Uhr fand die Frühlingsstimmung ein jähes Ende, als ein Mann mit seinem Campingbus von der Bogenstraße kommend in die Menschenmenge auf dem Platz raste.

Ich kenne diesen Platz gut. Wann immer ich in die Innenstadt gehe, komme ich daran vorbei, denn die Wohnung, in der ich lebe und gerade diese Zeilen schreibe, liegt nur rund 350 Meter entfernt. Als am Samstag an diesem Ort mehrere Menschen zu Tode kommen, bin ich nicht zu Hause. Ich bin auf dem Rückweg von einer Dienstreise und sitze im Zug, gut eine halbe Stunde entfernt von Münster. Dort erfahre ich von der Tat. Ein junger Mann mit Smartphone erhebt seine Stimme und informiert die Mitreisenden im Zug über die Meldungen, die bisher in den Medien zu finden sind: Ein Mann sei in der Innenstadt von Münster beim "Kiepenkerl" mit einem Kastenwagen in eine Menschenmenge gefahren und habe sich danach selbst erschossen. Außerdem gebe es weitere Tote und rund sechzig Verletzte.

Betretenes Schweigen im Zug. Im Dezember hatte man die Zufahrten zu den Weihnachtsmärkten in Münster mit Lkws versperrt, um Terrorakte wie in Berlin im Jahr zuvor zu verhindern. Unter anderem der Weihnachtsmarkt auf dem kleinen Platz an der Kiepenkerl-Staue wurde geschützt. Die meisten Münsteraner hatten das für ziemlich lächerlich gehalten – ich inklusive. Wer will schon ausgerechnet in Münster einen Anschlag verüben? Und jetzt ist es tatsächlich passiert. Das denke ich ganz unwillkürlich. Und nicht nur ich. In den Gesichtern der Mitreisenden ist zu lesen, dass ihnen Ähnliches durch den Kopf geht. Denn obwohl in den Medien bisher nicht von einem Terrorakt die Rede ist, steht die Befürchtung natürlich unübersehbar im Raum.

Ich nehme das Handy und rufe bei meiner Familie an, um sicherzugehen, dass es allen gut geht. In Münster muss bereits große Aufregung herrschen, denke ich mir. Doch ich irre mich. Mein Mann, der das Wochenende nutzt, um in seinem Innenstadt-Büro gegen den vollen Schreibtisch zu kämpfen, hat von den Ereignissen noch nicht mal etwas mitbekommen. Lediglich die Sirenen hatten ihn gewundert. Nun ja, wenn der Weg nach Hause aktuell versperrt sei, wolle er die Situation eben nutzen, um noch ein wenig länger im Büro zu bleiben und sich seinem Schreibtisch zu widmen. Im Gegensatz zu meinem Mann hat mein Vater von den Ereignissen bereits gehört. Doch das hat ihn nicht davon abgehalten, sich auf den Weg zum Supermarkt zu machen, weswegen er auch keine Zeit für lange Handytelefonate habe, da er gerade auf dem Fahrrad sitze. Ich bin beruhigt, dass es allen gut geht. Doch irgendwie hatte ich andere Reaktionen erwartet.

Als der Zug wie vorgesehen am Hauptbahnhof von Münster hält, werden meine diffusen Erwartungen weiterhin nicht erfüllt. Keine Polizeihundertschaften, die das Gebäude abriegeln, keine hysterischen Menschen, nichts, was man bei einem Anschlag erwarten würde. In der Bahnhofshalle lediglich drei Polizisten, einer von ihnen mit Maschinengewehr im Anschlag – zugegebenermaßen im beschaulichen Münster ein eher seltener Anblick, doch bei jedem Fußballspiel von Preußen Münster ist das Polizeiaufgebot am Bahnhof wesentlich größer.

Ich gehe zum Taxistand. Mit dem Bus brauche ich gar nicht erst zu versuchen, nach Hause zu kommen. Die Buslinie, die vom Bahnhof zu meiner Wohnung führt, fährt nämlich durch den Spiekerhof, direkt vorbei am Ort des Geschehens. Ich steige ins Taxi. Mein Fahrer: Ein dunkelhaariger Mann mit Bart und unübersehbarem Migrationshintergrund. Ich habe mich noch nicht angeschnallt, da beginnt er bereits über den Mann zu fluchen, der in die Menge gefahren ist. Nicht nur, weil das Scheiße sei, was er gemacht habe, sondern auch, weil solche Typen Menschen wie ihm das Leben in Deutschland zur Hölle machen würden. Gleich morgen werde er sich den Bart abrasieren, sagt er, sonst hätte er ja überhaupt keine Chance mehr, in Ruhe zu leben. Während der Fahrt tickern über die Taxizentrale Informationen herein: "Seid vorsichtig, es sind noch mehrere Täter in der Stadt unterwegs!". Ich gestehe, langsam wird auch mir etwas mulmig, obwohl ich im Allgemeinen eher schwer aus der Ruhe zu bringen bin. 

Wir nähern uns meinem Zuhause über einen noch nicht gesperrten Umweg. Gegenseitig wünschen wir uns beim Abschied alles Gute und bitten uns, bei weiteren Wegen durch die Stadt vorsichtig zu sein. Ich werfe schnell meinen Rucksack in die Wohnung, schnappe mir die Kamera und stürme in die Innenstadt. Wobei mir durchaus unbehaglich zumute ist. Nicht so sehr aus Angst vor möglichen Gefahren, sondern weil mir persönlich die Schaulust nicht liegt. Doch das Hören und Sehen, um anderen darüber berichten zu können, ist nun mal Teil meines Berufs.

Der Bereich um den Tatort ist weiträumig abgesperrt. Nur wenige Meter vor der Sperrzone am Spiekerhof sitzen in einem Eiscafé vergnügte Menschen und genießen das schöne Wetter – ebenso wie in den anderen Außengastronomien, an denen ich auf meinem Weg zur Absperrung vorbeigekommen bin. Die Gesprächsfetzen, die ich auffange, drehen sich um Enkelkinder, Sonderangebote für Gartenmöbel und Urlaubspläne, nicht jedoch um das, was sich kurz zuvor wenige hundert Meter entfernt ereignet hat und das hier kaum jemandem entgangen sein kann.

Doch endlich erheische ich ein Fünkchen dessen, was ich vorzufinden erwartet hatte. Direkt an der Polizeiabsperrung filmt ein Journalisten-Kollege eine immerhin leicht aufgeregte Anwohnerin, die davon berichtet, wie sie von der Polizei aus ihrer Wohnung geholt wurde. Inzwischen hat man im Kleinlaster des Täters nämlich einen verdächtigen Gegenstand mit einem Draht gefunden, der nun vor Ort von Sprengstoffexperten begutachtet wird. Zur Sicherheit wurden die Anwohner evakuiert. Nur wenige Meter neben dem Interview mit der Anwohnerin diskutiert eine erschöpfte Touristen-Fahrradgruppe. Nach einer anstrengenden Tour hatten sie den Abend eigentlich im "Kiepenkerl" ausklingen lassen wollen. Bei Besuchern des Eiscafés erkundigen sie sich, ob es alternative Empfehlungen für Traditionsgaststätten in Münster gebe, da der "Kiepenkerl" ja wohl heute nicht mehr öffnen würde – es hat etwas Surreales.

Ich gehe zur improvisierten Pressestelle der Polizei am Tibusstift. Schon wieder stimmt die Wirklichkeit nicht mit meinen unbewusst gehegten Erwartungen überein. Ich hatte Unmengen von Journalisten bei der Pressestelle erwartet. Doch außer einigen wenigen Fernsehkameras und Kollegen der lokalen und regionalen Presse ist zunächst kaum jemand vor Ort. Kein Wunder, denn Münster ist nicht wirklich ein Medienzentrum. Erst im Laufe des Abends und der Nacht treffen weitere Journalisten ein.

Insgesamt drei Polizeisprecher kümmern sich um die Presse. Doch es gibt nur wenig Offizielles, das sie bestätigen können oder dürfen. Dass es insgesamt drei Tote gibt sowie Verletzte im zweistelligen Bereich. Und dass es einen verdächtigen Gegenstand im Auto gibt, der derzeit untersucht wird. Das große Warten beginnt. Die Kameras sind auf die abgesperrte Bergstraße gerichtet. Am Ende der Straße befindet sich, von den Blicken durch zwei Notarztwagen abgeschirmt, der Tatort mit dem verdächtigen Gegenstand im Kleinlaster.

Nach und nach gibt es neue Informationen. Nicht von der Polizei, sondern aus den Medien und Sozialen Netzwerken. Die Tagesschau berichtet inzwischen mit Berufung auf das Bundesinnenministerium von vier Toten. Die Polizei bestätigt dies nicht. Was denn mit den angeblichen zwei weiteren Tätern sei, die aus dem Kleinlaster gesprungen und geflohen seien. Die Polizei sagt dazu nichts. Es gibt Berichte, dass die Polizei die Menschen in der Innenstadt inzwischen auffordert, die Außengastronomien zu verlassen und nach Hause zu gehen – ob denn Gefahr drohe? Die Polizei sagt dazu nichts. Die Süddeutsche Zeitung schreibt, bei dem Täter handele es sich um einen psychisch gestörten Deutschen ohne Migrationshintergrund. Die Polizei bestätigt dies nicht. Die Wohnung des Täters in Münster werde sogar schon untersucht, heißt es im Internet. Die Polizei bestätigt nichts. Ob sie denn wenigstens bestätigen könne, dass sie jetzt einen neuen Nachnamen habe, fragt ein Journalist aus Münster die anscheinend frisch verheiratete Polizeisprecherin. Allgemeines Gelächter. Journalistenhumor.

Obwohl es bislang also keine offiziell bestätigten Informationen gibt, müssen die Kollegen vor den Kameras auf Sendung gehen. Sie berichten von der dürftigen Faktenlage, den Spekulationen, von einer "gespenstischen Stimmung" und Trauer in der Stadt. Zweifelnd frage ich einen Kollegen von der regionalen Presse neben mir, ob er das Gefühl habe, dass in der Stadt gespenstische Stimmung herrsche. "Nö", sagt er und bestätigt damit mein Empfinden, dass der Reporter vor der Kamera gerade ein wenig übertrieben hat.

Gegen 20:30 Uhr endlich die erlösende Nachricht. NRW-Innenminister Reul ist nach Münster gereist und verkündet der Presse am Tibusstift, dass es sich bei dem Fahrer um einen deutschen Staatsbürger handelt und dass es derzeit keine Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund der Tat oder auf weitere Täter gebe.

Ich gehe nach Hause. Mein Weg führt durch eine der bekanntesten Kneipenstraßen von Münster. Die Tische und Stühle auf der Straße sind nach den Aufforderungen der Polizei leer, doch drinnen sitzen Menschen. Nach wie vor sind alle recht unaufgeregt. Doch nun ist, befeuert von unzähligen Medienberichten, tatsächlich die Auto-Attacke von Münster das Gesprächsthema Nummer 1 unter den Gästen.

Als ich am nächsten Tag den Fernseher einschalte, hat sich daran nichts geändert. Was sich jedoch geändert hat, ist der Tonfall, in dem von Münster berichtet wird. Er ist noch eine Spur dramatischer geworden. "Die Stadt steht unter Schock", heißt es, und "Ganz Münster trauert". Ich bin verwundert. Meine Eindrücke vom gestrigen Tag schienen nicht gerade auf einen Schockzustand der Bevölkerung hinzuweisen.

Wieder schnappe ich mir meine Kamera und mache mich auf den Weg zum Tatort, dem kleinen Platz am Kiepenkerl, der nun nicht mehr komplett von der Polizei abgeriegelt ist. Auf dem Weg dorthin begegnen mir Menschen in üblicher Sonntagsspaziergängerlaune, in einem geöffneten Fenster sitzt ein junger Mann und chillt bei lauter Musik. An der Kiepenkerl-Statue haben Menschen Blumen niedergelegt und ein selbst gemaltes Schild mit der Frage "Warum?". Doch trotzdem werden auch heute meine geheimen Erwartungen nicht erfüllt. Es sind erstaunlich wenige Menschen hier. Pressevertreter und Einwohner der Stadt halten sich mengenmäßig die Waage. Diejenigen, die vorbeikommen, wirken auf mich weder übermäßig schockiert noch besonders traurig. Für viele scheint es eher ein kurzer Halt auf dem Sonntagsbummel durch die Stadt zu sein. Der letzte Stopp vor dem bereits erwähnten Eiscafé am Spiekerhof rund 100 Meter entfernt.

Weil ich mir nicht sicher bin, ob mein Eindruck vielleicht trügt, frage ich bei Freunden in Münster nach, ob sie den Eindruck haben, dass die Stadt im Schockzustand sei. Einhellig wird verneint. Natürlich hat es Trauerbekundungen gegeben, am Samstagabend ein kollektives Kerzenanzünden am Aasee, eine Schweigeminute am Prinzipalmarkt und den bei solchen Anlässen obligatorischen Gottesdienst im Dom. Doch dass die Stadt im Schock ist, stimmt schlicht und ergreifend nicht. Man möge mir deshalb verzeihen, dass ich es mir nicht verkneifen kann, einige meiner Kollegen zu schelten. Denn dass Menschen weltweit glauben, Münster läge im Schock, liegt daran, dass in den Medien die bedauerliche Tendenz besteht, Dinge aufzubauschen. Und es liegt daran, dass Kollegen oft lieber auf althergebrachte Floskeln zur Bewertung von Ereignissen zurückgreifen, statt den Mut zu haben, die Realität mit eigenen Worten so gut wie möglich abzubilden.

Das eigentlich Berichtenswerte an diesem Vorfall war nämlich etwas ganz anderes: Es war das in jeglicher Hinsicht vorbildliche Verhalten der Bevölkerung. Keine Panik, keine Hysterie, keine Angst. Alle – Bevölkerung wie Polizeikräfte – haben mit extremer Gelassenheit, Ruhe und Besonnenheit auf das Geschehen reagiert. Nicht desinteressiert, wohlgemerkt! Aufrufen zur Blutspende für die Verletzten kamen die Münsteraner sofort in solchen Massen nach, dass viele Spendewillige sogar wieder nach Hause geschickt werden mussten.  

Über diese bemerkenswerte Gelassenheit hätte ich in der Medienberichterstattung gern mehr gelesen. Doch Gelassenheit ist eben einfach nicht sensationell genug. Wozu also darüber berichten? Das würde am Ende vielleicht sogar dazu führen, dass sich keine Nachahmungstäter zu ähnlichem Wahnsinn animiert fühlen, oder dass das ständig angeheizte Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung abkühlt. Wer will das schon? Moment...

Es sind vor allem die Vertreter der Medien, die dies in der Hand haben. Und zwar – anders als von rechten Kreisen gern behauptet – nicht, indem sie lügen. Sondern einfach, indem sie auch und gerade dann berichten, wenn etwas auf den ersten Blick nicht sensationell genug scheint, um der antizipierten Zuschauererwartung zu genügen. Denn zu dieser Erwartung haben die Medien ihre Zuschauer letztlich selbst erzogen. Auch mich, wie mir meine permanent nicht erfüllte Erwartungshaltung rund um die Auto-Attacke von Münster überdeutlich gezeigt hat. Doch es ist an der Zeit, nicht mehr brutale Idioten in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu rücken und jene, die sich von ihnen ängstigen lassen, sondern über die Vielen zu schreiben, die sich von Idioten jeglicher Geschmacksrichtung nicht aus der Ruhe bringen lassen. Ich bin sicher, es gibt sie nicht nur in Münster.