Rana Ahmad floh unter Einsatz ihres Lebens nach Europa, weil sie es in Saudi-Arabien nicht mehr aushielt. In einer beklemmenden, äußerst lesenswerten Biographie erzählt sie ihre Geschichte. Es offenbart sich ein bisher kaum bekannter Blick auf Alltag und Gefühlswelt einer mutigen Frau im fundamentalistischsten Staat der Welt.
Es ist schon viel geschrieben worden über Saudi-Arabien. Die meisten wissen inzwischen, dass Frauen dort bis jetzt nicht Auto fahren durften und Menschen zu Körperstrafen verurteilt werden, die zum Teil öffentlich vollstreckt werden. Es ist ein Blick von außen, den man so meistens erhält, ein unpersönlicher, sachlicher. Aus den Medien erfährt man selten etwas über die Menschen und ihren Alltag. Deshalb ist das Buch "Frauen dürfen hier nicht träumen – Mein Ausbruch aus Saudi-Arabien, mein Weg in die Freiheit", das Rana Ahmad mit Unterstützung der Journalistin Sarah Borufka geschrieben hat, etwas Besonderes. Ahmad, die 2015 während der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland kam, kann beide Perspektiven vergleichen. Sie kennt sowohl unsere Lebensweise – und schätzt sie wahrscheinlich mehr, als jeder, für den sie seit seiner Geburt selbstverständlich ist – als auch den Lebensalltag in Saudi-Arabien. Sie schafft es so, in ihren detailreichen Schilderungen genau die Aspekte herauszustellen, bei denen die kulturelle Diskrepanz am deutlichsten zu Tage tritt. Und man stellt fest: Das Leben dort – vor allem als Frau – ist noch viel schlimmer, als man angenommen hatte.
Die Biographie ist chronologisch erzählt, beginnt mit Rana Ahmads Kindheit, als für sie die Welt noch in Ordnung ist. Als die strengen religiösen Vorschriften für sie noch nicht gelten, sie unverschleiert in die Öffentlichkeit gehen und – wenigstens im Sommerurlaub in Syrien – Fahrrad fahren darf. Man stellt als Leser fest, dass es in Saudi-Arabien genau umgekehrt zu sein scheint als in Europa: Kinder haben größere Freiheiten als Erwachsene. Zumindest für Mädchen gilt das. Je älter sie werden, desto weniger dürfen sie, desto enger schnürt sich das gesellschaftliche Korsett um sie. Ab dem Alter von zehn Jahren muss die Protagonistin ihr Haar bedecken, die Vollverschleierung ordnet die Schule ab 14 an. "Alles in diesem Land ist darauf ausgerichtet, dass Frauen sich nie unverhüllt in der Öffentlichkeit zeigen." In Restaurants gibt es beispielsweise getrennte Eingänge und spezielle Séparées. Nur in diesen und nur in Begleitung ihrer Familie dürfen Frauen dort essen. Denn dafür müssen sie den Gesichtsschleier abnehmen. Essen gehen und Einkaufen sind laut Buch die einzig möglichen Freizeitbeschäftigungen in Saudi-Arabien. Rana Ahmad ist ein Genussmensch, das merkt man, überall berichtet sie sehr detailliert über das Essen, oft ein Lichtblick im dunklen Alltag. Vielleicht der einzige Genuss, den man ungestraft in diesem Land ausleben kann.
Im Alter von 17 Jahren, erzählt die Protagonistin, habe sie noch nie mit einem Mann gesprochen, mit dem sie nicht verwandt ist. Aber gerade die sind es, die den saudischen Frauen das Leben zur Hölle machen. Gerade die, die sie als einzige unverschleiert sehen dürfen, scheinen das häufig als Freibrief zu verstehen: Ahmads beklemmenden Schilderungen nach sind sexuelle und gewalttätige Übergriffe an der Tagesordnung. Es ist für Mädchen ein Glücksspiel, ob sie vom Regen in die Traufe verheiratet werden, vom prügelnden Vater zum tyrannischen Ehemann, oder ob sie an einen milden Vertreter des männlichen Geschlechts geraten. Frauen können es eigentlich nur falsch machen. Wenn ein Mann sie bedrängt, dürfen sie nicht weggehen, weil sie sich ihm nicht widersetzen dürfen. Die Schuld liegt aber natürlich auch bei ihnen. Ein perfides System: "Alles Schöne an uns Frauen wird ins Sündhafte und Hässliche verkehrt, und die Konsequenz dieses Denkens ist, dass wir uns selbst hassen, uns für das schämen, was wir sind, und niemals auf die Idee kämen, in den Männern, die uns missbrauchen, das zu sehen, was sie sind: Täter." Dazu kommt noch, dass Aufklärung nicht stattfindet. Als Rana Ahmad zum ersten Mal ihre Periode bekommt, ist sie überzeugt, sie müsse sterben. Erklärt wird ihr dieser natürliche Vorgang nicht, das einzig wichtige ist, in dieser Zeit nicht zu beten, da sie "unrein" sei.
Frauen leben in einem Gefängnis unter ständiger Kontrolle. Freundinnen dürfen sich nicht einfach so verabreden, das Leben spielt sich in den Familien ab. Alle, die sich etwas Freiheit herausnehmen, müssen dafür bezahlen. Eine unverheiratete Frau, die keine Jungfrau mehr ist, wird mit Peitschenhieben bestraft. Was für Europäerinnen alltäglich ist, wird Frauen in Saudi-Arabien zum Verhängnis. Es herrschen buchstäblich mittelalterliche Verhältnisse. Darauf weist schon ein Zitat von Richard Dawkins auf dem Buchcover hin: "Saudi-Arabien ist eine Schande für die Menschheit, und, vor allem für Frauen, die Hölle auf Erden."
Rana Ahmads Leben in ihrem Heimatland ist eine Spirale niederschmetternder Ereignisse, die sie immer weiter nach unten zieht. Nach einer gescheiterten Ehe und zunehmenden Problemen mit ihrer Familie verkriecht sie sich zunehmend, entdeckt die sozialen Netzwerke für sich. Als sie zum ersten Mal das englische Wort "Atheist" liest, weiß sie nichts damit anzufangen. Auch die arabische Übersetzung muss sie im Internet nachschlagen und ist anschließend völlig schockiert darüber, dass es Menschen gibt, die nicht an Gott glauben. Nach und nach setzt sich ein Puzzlestück nach dem anderen (Darwin, Nietzsche, Dawkins) zusammen zu einer Weltsicht, die keinen Gott braucht. Ihr von Religion bestimmtes altes Weltbild stürzt immer weiter ein. Das, was sie sich im Internet aneignet, ist hochgefährlich für sie. "Wer in Saudi-Arabien anders ist, (…) der muss sich entscheiden: zwischen dem sicheren Tod und der Bereitschaft, eine Lüge zu leben." Auch auf Apostasie steht die Todesstrafe. In Ahmad reift der Gedanke zur Flucht. Ein Freund, den sie im Internet kennenlernt und dem sie sich anvertraut, besorgt ihr ein Flugticket nach Istanbul.
Es gibt tief erschütternde Momente in "Frauen dürfen hier nicht träumen". Einer, der wirklich unter die Haut geht, ist, wie Rana Ahmad beschreibt, wie ihre beste Freundin "systematisch gebrochen" wird und sich schließlich von ihr abwendet. Noch schlimmer wird es, als die Protagonistin versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihr Bruder sie beinahe totgeprügelt hat. Ihre Mutter will sie sterben lassen, es sei ja keine Sünde, sollte der Bruder mit seinem Verdacht, sie treffe sich heimlich mit Männern, recht haben. Mehr Sorgen bereitet der Mutter, dass ihr Sohn verhaftet werden könnte. Die Erkenntnis, dass es Menschen gibt, für die menschenverachtende kultische Vorstellungen wichtiger sind als das Leben der eigenen Tochter, ist unerträglich. Liebe? Fehlanzeige. Der einzige Mensch, der Rana Ahmad bedingungslos und immer liebt, ist ihr Vater. Diese Beziehung beschreibt sie rührend. Umso schmerzhafter der Moment, als sie an dem Tag ihrer Flucht aus dem Auto steigt. Er bringt sie zur Arbeit, die sie nach langem Kampf (wieder) ausüben darf. Sie darf sich nichts anmerken lassen, weiß aber, dass sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehen wird. Als die junge Frau ihr Buch in Berlin vorstellte, musste sie an dieser Stelle weinen, auch heute noch.
Amir, der ihr die Flucht ermöglichte, trifft sie in der Türkei, gemeinsam ziehen sie weiter, es beginnt eine innige Beziehung. Atheisten weltweit unterstützen die beiden durch eine Crowdfunding-Kampagne. Über die Balkan-Route geht es weiter. Auch dieser Teil der Geschichte ist hochspannend: Die Perspektive des Flüchtlings einzunehmen, eine persönliche Schilderung, die der anonymen Zahl ein Gesicht gibt. Es erinnert daran, dass jeder, der diese lebensgefährliche Reise auf sich nimmt, dafür wichtige Gründe hat, alles auf eine Karte setzt. Dass jeder persönliche Hoffnungen und Träume mitbringt, sich aber auch verloren fühlt.
Rana Ahmad landet schließlich in einem Flüchtlingsheim in Köln, knüpft Kontakte, auch zum Zentralrat der Ex-Muslime und der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs). Sie beschreibt nun von der anderen Seite her, was alles neu für sie ist, wie oft sie sich wundert, was sie als Frau alles tun darf. Sie macht ihre Religionskritik öffentlich und erntet dafür Todesdrohungen im Internet. Diese erreichen sie auch noch in der Freiheit. Oft ringt sie mit sich selbst, ob es das wert war, alles hinter sich gelassen zu haben, ist aber schlussendlich glücklich darüber. Nun will sie das verwirklichen, was sie immer wollte, aber nie durfte: Studieren.
"Frauen dürfen hier nicht träumen" ist sehr anschaulich und kurzweilig geschrieben. Hin und wieder gibt es Logik- (gibt es nun Biologieunterricht in Saudi-Arabien oder nicht?) oder Schreibfehler (Aus Amir wird Armin), das tut der äußerst spannenden und wichtigen Lektüre aber keinen Abbruch.
Rana Ahmad, Frauen dürfen hier nicht träumen, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2018, ISBN 978-3-442-75748-02, 317 Seiten, 16,00 Euro
Siehe dazu auch:
"Frauen dürfen hier nicht träumen" im hpd am 17.01.2018
Ausbruch aus Saudi-Arabien im hpd am 19.01.2018
2 Kommentare
Kommentare
Ulrich Bock am Permanenter Link
Ich habe das Buch vor wenigen Tagen gelesen. Nach Jahrzehnten langer Menschenrechtsarbeit dachte ich, ich wäre endlich abgebrüht. Leider nein.
Frank Linnhoff am Permanenter Link
Für mich ein Beispiel dafür, wie wünschenswert es ist, dass unterdrückte Menschen aller Nationalitäten legal in freie Gesellschaften ausreisen und dort Asyl beantragen können sollten.