Debatte um bayerisches Polizeiaufgabengesetz

Wie viel Sicherheit verträgt die Freiheit?

Derzeit dreht sich die öffentliche Debatte um das neue Polizeiaufgabengesetz. Die bayerische Variante soll jetzt als Vorbild für ganz Deutschland dienen. Datenschützer, Opposition und Zivilgesellschaft wollen das verhindern.

Seit langem hat es ein Gesetzentwurf einmal wieder geschafft, so etwas wie einen gesamtgesellschaftlichen Widerstand hervorzurufen. Verschiedenste Gruppierungen wehren sich vehement gegen den 187 Seiten langen "Gesetzentwurf zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts" und gehen auf die Straße.

Anlass der geplanten Gesetzesänderung ist die Umsetzung einer EU-Datenschutzrichtlinie und ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts und, last but not least, der technische Fortschritt. Zentraler Punkt der Gesetzesnovelle, über die der Bayerische Landtag Mitte Mai abstimmen will, ist der Begriff der "drohenden Gefahr". Er bedeutet, dass die Polizei schon beim Verdacht, eine Person könne eine Straftat begehen, aktiv werden darf. Bisher musste dafür eine "konkrete Gefahr" bestehen. Dem Bundesverfassungsgericht war es ursprünglich nur um den Einsatz des Bundeskriminalamts zur "Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus" bei einer hinreichend konkreten Gefährdung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter (also beispielsweise Leib und Leben) gegangen.

"Droht" also eine Gefahr – das muss kein terroristischer Akt sein, es reicht auch "Alltagskriminalität" –, soll die bayerische Polizei in Zukunft ähnlich wie Geheimdienste agieren dürfen: Telefone und Internetkommunikation überwachen und gegebenenfalls manipulieren, Computer und Clouds auslesen, Post abfangen, Wohnungen durchsuchen, die DNA bestimmten (nicht nur wie bisher das Geschlecht, sondern, Augen-, Haar- und Hautfarbe sowie Alter und Herkunft) und eine gezielte Entnahme zur "Identifizierung von Personen, von denen ein entsprechendes Gefahrenpotenzial ausgehen könnte". Außerdem dürfen potentiell gefährliche Menschen jetzt bis zu drei Monate in Gewahrsam genommen werden. Diese Frist kann von einem Richter beliebig oft verlängert werden, man nennt dies "Unendlichkeitshaft". Polizisten sollen darüber hinaus künftig Drohnen einsetzen dürfen, Bodycams tragen und mit ihnen auf Versammlungen oder auch in Privatwohnungen filmen dürfen. Auch sollen sie Explosivwaffen einsetzen können, um einen Anschlag mit einem Fahrzeug besser verhindern zu können. Auch mit verdeckten Ermittlern und intelligenter Videoüberwachung – also der automatischen Erkennung verdächtiger Gegenstände und Verhaltensweisen, sowie gesuchter Personen – soll gearbeitet werden dürfen.

Der Gesetzentwurf wurde zwar bereits Anfang Februar im Bayerischen Parlament behandelt, aber erst während der vergangenen Wochen entfesselte es einen Sturm der Entrüstung. Der Widerstand kommt von unterschiedlichster Seite.

Bündnis 90/Die Grünen hatten vergangene Woche eine aktuelle Stunde im Landtag beantragt. Katharina Schulze (Grüne) sprach von einem "Angriff auf unsere Privatsphäre". In dem Gesetzentwurf finde sich "ein staatlich verpackter Spähmechanismus, den man nur mit der Brille der Macht, der Angst und der Engstirnigkeit erdenken und planen kann". Sie kündigte "massiven Widerstand" an. Dazu gehört eine angedrohte Verfassungsbeschwerde ebenso wie Demonstrationen in verschiedenen bayerischen Städten. Die Grünen scheinen einen beträchtlichen Anteil der Bayern hinter sich zu haben: Eine von ihnen in Auftrag gegebene Umfrage ergab, dass beinahe 60 Prozent der Bürger die polizeilichen Zusatzbefugnisse ablehnen. Eine Online-Petition gegen das neue Polizeiaufgabengesetz hat bereits über 90.000 Unterschriften gesammelt. Über 40 Organisationen wollen sich jetzt zum Aktionsbündnis "noPAG – Nein! Zum neuen Polizeiaufgabengesetz" zusammentun, berichtet die Welt. Es will sich heute in München vorstellen.

Auch die FDP bereitet nach eigener Aussage eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vor und will den Gesetzentwurf zusätzlich durch die EU-Kommission prüfen lassen. Die SPD sieht das geplante Gesetz "ambivalent". Ihr Abgeordneter Franz Schindler ging in der aktuellen Stunde systematisch an die Sache heran: Er dröselte den Gesetzestext auf, nannte Richtiges und Bedenkliches und kam auch auf die Definition des Begriffs "drohende Gefahr" zu sprechen: "'Wenn im Einzelfall das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, (…) die den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Gewalttaten von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind' – Da wünsche ich allen Praktikern vor Ort viel Glück." Und: "Ist schon für das Erkennen einer Gefahr eine Prognose erforderlich, dann zwingt das Erkennen einer drohenden Gefahr nicht nur zur Prognose, sondern zur Spekulation. Und das Risiko falscher Prognosen und Spekulationen ist hoch", so stellte er fest.

Auch der bayerische Landesbeauftragte für Datenschutz, Thomas Petri, spricht in einem Interview mit der AZ über das Gesetz von einer "Tragweite, die weit über die effektive Bekämpfung des internationalen Terrorismus hinausgeht". Die erweiterte DNA-Bestimmung nennt er gar einen "rechtsstaatlichen Tabubruch". Ähnlich äußert sich der Münchener Richter Markus Löffelmann und beklagt eine "nicht mehr akzeptable Herabsetzung der polizeilichen Eingriffsschwelle". Thilo Weichert vom Netzwerk Datenschutzexpertise spricht in seinem Gutachten das wohl härteste Urteil: "Es fehlt an der Gesetzgebungskompetenz des Landes", schreibt er in Bezug auf die geplante Ausweitung der DNA-Analyse.

Notwendig findet hingegen Landespolizeipräsident Wilhelm Schmidbauer die Neuerungen. Denn der Rahmen, ab wann die Polizei präventiv eingreifen dürfe, sei immer enger gesteckt worden. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) geht noch einen Schritt weiter: Er spricht in Bezug auf die von EU und Bundesverfassungsgericht geforderten Änderungen von einer "klaren Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger in Bayern". Als Beispiel nannte er, dass polizeiliche Eingriffe nun häufiger unter Richtervorbehalt stünden oder sensible Daten besser geschützt würden. Etwa biometrische Daten, weltanschauliche Überzeugungen oder Gewerkschaftszugehörigkeit würden besonders gekennzeichnet und sollen nur von bestimmten Polizeibeamten abfragbar sein. Außerdem hätten die Bürger bei der Polizei künftig mehr Rechte in Bezug auf Auskunftserteilung, Datenberichtigung und -löschung.

Als Maßnahme des Datenschutzes nannte er zudem die Schaffung einer "zentralen Datenprüfstelle", die sicherstellen soll, dass "nur Daten für die Ermittlungsarbeit verwendet werden dürfen, die nicht den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen".

Bei Bayern soll es aber nicht bleiben. Gestern berichtete die taz, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz – wie bereits vermutet – als Blaupause für sein geplantes Musterpolizeigesetz für alle Bundesländer verwenden will. Schon jetzt beraten Baden-Württemberg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen ihrerseits über neue Polizeigesetze. In Sachsen verhinderte die SPD, dass die Überwachung verschlüsselter Nachrichten und die Online-Durchsuchung von Computern Eingang in den dortigen Entwurf finden. In NRW ist bis zu einem Monat "Unterbindungsgewahrsam" geplant, das vorsorgliche Tragen einer elektronischen Fußfessel, Taser für die Polizei und die Überwachung von Messenger-Diensten. Für Innenminister Herbert Reul (CDU) bedeutet mehr Sicherheit Freiheit, wie er sagt. Die Abstimmung mit der FDP sei "geräuschlos über die Bühne gegangen", zitiert ihn die Westdeutsche Zeitung. Die Anpassung an die EU-Datenschutzvorgaben soll noch folgen. SPD und Grüne zeigten sich entsetzt: Letztere sprachen von einem Sicherheitspaket, das von Überwachungsfantasien geprägt sei. Auch die Strafverteidiger-Vereinigung von Nordrhein-Westfalen meldete sich in einer Presseerklärung zu Wort: Sie lehne den Gesetzentwurf als rechtsstaatswidrig auf das Schärfste ab und argumentiert: "In Deutschland hatten Polizeibehörden letztmalig 1945 so weitreichende Befugnisse". Sie sieht sogar Verstöße gegen die europäische Menschenrechtskonvention und ist der Meinung, die Polizei würde so nicht vor Gefahren schützen, sondern selbst zur Gefahr für den Bürger werden.

Unter "Alternative" steht im Entwurf für das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz schlicht "keine". Große Teile der Öffentlichkeit sehen das anders. Es bleibt abzuwarten, ob auch das Bundesverfassungsgericht diese Alternativlosigkeit bestätigt.