Von der bedenklichen aktuellen Virulenz und Vitalität eines Mythos

Guter Jesus, schlechte Kirche?

Es sollte sich doch inzwischen längst herumgesprochen haben: Wir leben im 21. Jahrhundert. Schaut man allerdings auf statistische Werte, dann sind diese für jeden halbwegs aufgeklärten Zeitgenossen erschreckend: Noch immer bekennt sich jeder dritte Mensch auf diesem Planeten zum christlichen Glauben, jeder zweite Christ ist katholisch und somit Mitglied der Weltkirche.

Etwa 580 Millionen Christen zählt Europa, knapp 500 Millionen sind es in Mittel- und Südamerika und Mexiko. Die Statistik der "World Christian Encyclopedia" schätzt das Anwachsen des Christentums im globalen Süden im Jahr 2025 auf 1,7 Milliarden Menschen. Für Nordamerika wird stagnierend mit 270 Millionen Christen und mit einer Schrumpfung in Europa auf 514 Millionen Christen gerechnet.

Die Radikalisierung des Glaubens wächst zudem, das Christentum wird konservativer, charismatischer, fundamentalistischer.

Bedrohlich geradezu ist der Einfluss der Pfingstgemeinden, eine Bewegung, die erst Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam, geschätzte Mitgliederzahl: 400 Millionen Menschen. Die Pfingstler sind sich sicher der Wirkung des Heiligen Geistes, setzen auf Wunderheilungen und diverse Erweckungserlebnisse. In Afrika häuft sich der Glaube an Dämonen und Hexen, im Kongo wurden 2001 über mehr als tausend angebliche Hexen getötet.

Erst seit wenigen Jahrzehnten herrscht in unserem Teil der Welt ein gewisser Komfort, sich entscheiden zu können, welchen Weg das eigene Denken nehmen soll. Will ich mein Bild von der Welt mir selbst aneignen und im Verbund mit den Wissenschaften, danach suchen, was die Welt im Innersten zusammenhält und mit ihr auch nach Lösungen für die Fragen der Ökonomie, des Zusammenlebens, der Ökologie Ausschau halten? Oder will ich doch lieber auf tradierte Denkvorgaben bauen und mich Einrichten in den Bequem- und Annehmlichkeiten von Religion oder Ideologie? Noch Giordano Bruno, dem die Antworten der Natur wichtiger, als die der Obrigkeit waren, brannte am 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen, den ihm die Religion der Liebe, das Christentum – nein, kein fehlgeleitetes –, errichtete.

Adam und Eva

Die Geschichte von Adam und Eva ist ein orientalisches Märchen, alt zwar, doch eben nur ein Märchen. Gleichsam ist es so mit der Geschichte von der Erbsünde, auch sie ist eine Mär. Denn stammt der Mensch nicht von einem Elternpaar ab, dann kann die Vertreibung der beiden Gestalten aus dem Paradies uns schnurpspiepegal sein. (Die Frage, wie Adam und Eva, die vor dem Essen des fragwürdig feilgebotenen Obstes, doch – angeblich – nichts wussten von gut und böse, dann hätten wissen können, dass das Essen des Obstes böse ist, sei hier dahingestellt.)

Religiöse Märchen tragen Ruhestandscharakter. Ach so, nun kommt der Einwurf, es sei doch alles nur ein Bild. Also alles nur ein Bild? Warum keine Klarheit von Anfang an? Warum die miserable Informationsqualität, die Widersprüche, Brüche, Mehrdeutigkeiten, warum solch ein schlechter Kommunikator? Die Erbsünde lässt sich ja mit dem Erlösungsgedanken durchaus eindrucksvoll kombinieren, das Christentum unternahm mit seiner Lehre diesen Anlauf. Es ließe sich die sonst von interessierter Seite oft herausgestellte Erlösungsbedürftigkeit des Menschen nicht gut begründen. Immerhin handelt es sich um eine doch existenziellere Frage, als die, ob ich mich am heutigen Morgen für das Tragen von Strapsen oder Strumpfhosen entscheide. Wer sich also für die bildliche Sprache entscheidet, der unterliegt immer der Ausweispflicht, denn auf das Benannte muss dann doch irgendwie verwiesen werden.

Ist dann wieder auch das Symbol mit einem Symbol zu belegen? Entschließt man sich zu einem Ja, ist weiters anzugeben, wofür die ganze Symbolik nun überhaupt steht. Der Nebel der Verschleierung jedenfalls verliert seinen Anspruch auf Ernsthaftigkeit. (Semantische Beliebigkeit mag für esoterische und andere religiöse Zirkel taugen, da mag man sich dann am Unverständnis der Nichtzirkelmitglieder ergötzen, wenn aber die Öffentlichkeit und insbesondere Kinder, die selbst über ein erstes Wort noch nicht hinauskommen, derart infiltriert werden, dann ist das eine hochproblematische Situation. Delikat im besonderen Maße ist es, wenn es sich dabei nicht um richtungslos nach Erlösung Suchende Einzelne handelt, sondern um die christlichen Kirchen, denen der deutsche Staat die Tür zum gesellschaftlichen Eintritt noch weit geöffnet hält.)

Verschärfung des Diskurses

Doch der gesellschaftliche Druck ist noch immer nicht gewichen, es sind in Deutschland vor allem (bayerische) C-Politiker, die gerade für eine Verschärfung des Diskurses hinsichtlich freien Denkens oder besser der Denkvorgaben aus der Tradition sorgen. Wahrscheinlich träumen sie von Zuständen, ähnlich denen in den USA, wo rund vierzig Prozent der Bevölkerung noch immer glauben, die Bibel sei von Gott inspiriert und die Welt sei vor sechstausend Jahren in sechs Tagen erschaffen worden. Ganze 87 Prozent der amerikanischen Bevölkerung geben gar an, "niemals" an der Existenz Gottes zu zweifeln. Es ist da schon beinahe rühmlich, wenn die Mehrheit der Deutschen, 64 Prozent, in einer jüngsten Emnid-Umfrage (Die Welt, 29. April 2018), für "Bild am Sonntag", den bayerischen Vorstoß des Kreuzeaufhängens in staatlichen Behörden ablehnt. Selbst das Gros der Katholiken (immerhin 48 Prozent) richtet sich gegen die unsinnige christlich-soziale Bestrebung.

Warum also Religion?

Warum aber überhaupt noch der große Zuspruch, das Festhalten an der (christlichen) Religion? Was steckt hinter dem Geheimnis dieser Heilslehre und ihrer doch hinreichend desavouierten Organisationen? Warum erscheint der Kredit, der einen wie der anderen Kirche, so unerschöpflich?

Greuel kennt die Geschichte des Christentums ohne Ende, die Opferzahlen sind Legion, der Deckmantel sozialer Wohltätigkeit – (Heinrich Heine: "Denn die Religion, wenn sie uns nicht mehr verbrennen kann, kommt sie bei uns betteln.") – kann darüber nicht hinwegtäuschen. Warum werden die (Un-)Taten des Christentums nicht vermessen wie die anderer Religionen, politischer Ideologien und weiterer Straftäter?

Das Image des Christlichen scheint trotz aller Historie, trotz aller Erfahrung, trotz aller widerstreitenden Gefühle noch immer faszinierend. Warum also ist der Glaube ein zu bewahrender Schatz? Warum fehlt die Konsequenz, das Christentum endlich dahinzuwerfen, wohin es gehört, auf den Müllhaufen der (Ideen-)Geschichte?

Die Antwort impliziert wohl der Mythos vom grundsätzlich guten Glauben und der ebenso guten Gemeinschaft aller Gläubigen und deren Missbrauch durch die verschiedenen Kirchenorganisationen. Sollte die Glaubensgemeinschaft der Millionen so entsetzlich irren? Doch große Zahlen machen längst keine große Vernünftigkeit. "Was ist Mehrheit?", so meinte Friedrich Schiller, "Mehrheit ist der Unsinn. Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen."

Etwas innerkirchliche Kritik, etwas Demokratie, etwas mehr (oder überhaupt erst einmal) Pfarramtswürden für Frauen, eine etwas liberalere Kirchenführung, eine etwas weniger rigide Sexualmoral … und schon könnte das Glaubensleben in den Augen der Progressiven schön sein, sogar die angeschlagene Kirche rettbar.

Diese Antwort ist nicht nur erbärmlich inkonsequent und naiv, sie geht am grundsätzlichen Wesen des Christentums vorbei. Man stutzt sich die Evangelien zurecht, ganz nach Bedarf, man weiß ja, was gefällt. Doch was da so anheimelnd und soft daherkommt, ist eigentlich unbekannt.

Mit Jesus strahlt weithin noch seine vermeintliche Lehre, samt den Geboten von Nächsten- und Feindesliebe (wie kann man Liebe, ein Gefühl mithin, gebieten?), den Geboten nicht zu stehlen, zu töten auch nicht … Strahlemann Jesus verliert seinen Nimbus jedoch recht schnell, beginnt man tatsächlich die Texte des Neuen Testaments zu lesen, vergisst man für einen Augenblick nur die weichgespülten und selektierten Aussagen der jeweiligen Sonntagsaffären (sprich: Gottesdienste). Maßgeblich auch für den Liebesprediger Jesu ist seine Inhumanität, ist seine unerträglich primitive wie anmaßende Unterteilung der Menschen in Gläubige und Ungläubige, in Schafe und Böcke, letztlich in Gut und Böse.

Hier finden wir die Grundkonstante des Christentums, die Mitmenschen werden geschieden in Freund und Feind, sie werden diffamiert als verblendet, als verdammt. Wer nach den Wurzeln für Rassismus, für Antisemitismus, für Ausgrenzung und physische Vernichtung sucht, der wird beim Heilsverkünder Jesus fündig. "Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer" (Mt 25,41) oder "(…) wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden" (Mk 16,16) sind eben keine peinlichen und hitzigen Entgleisungen eines vom Wüstensand geplagten Wanderpredigers, es sind Kernaussagen seiner Verkündigung. Der Liebesbotschafter Jesu betont dann auch: "So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern (…) der kann nicht mein Jünger sein" (Lk 14,26).

Diese Tiraden sind also einzigartiger Ausdruck des so unvergleichlich moralisch hochstehenden Neuen Testaments? Sind ethische Handlungsanweisungen für unser 21. Jahrhundert? Schaut man freilich auf die Nachrichten dieser Welt, auf das vorhandene Konfliktpotenzial, auf die zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen im Sudan, zwischen diesen auch in Nigeria, zwischen katholischen und protestantischen Christen in Nordirland, zwischen katholischen und orthodoxen Christen auf dem Balkan, zwischen Juden und Muslimen in Israel/Palästina, zwischen orthodoxen Russen und tschetschenischen Muslimen im Kaukasus, so könnte man zu diesem Urteil neigen. Ich vermag eine ethische Überlegenheit des Jesus von Nazareth nicht zu erkennen, die Bergpredigt ist ihrer Zeit nirgends voraus, wie sooft behauptet wird, das Prinzip "die andere Backe hinzuhalten" wird von ihm selbst permanent unterlaufen: "Weh euch, die ihr hier lachet! denn ihr werdet weinen und heulen" (Lk 6, 29 und 25). Bilder um Bilder dann wieder. Wo ist die neue Moral, wenn es dann keinen Unterschied mehr macht, ob man einen Mord begeht oder einen anderen als Narren bezeichnet, ob man die Ehe bricht oder eine Frau auch nur begehrlich ansieht? Die Grundlage sittlichen Verhaltens ist hier zerstört, nämlich der entscheidende Unterschied zwischen Impuls und Tat.

Was geht uns das an?

"Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh 18,36) – deutlich ist diese Aussage des realen oder erfundenen Heilsbotschafters Jesu. Himmel und ewiges Feuer sind der Mittelpunkt seiner Verkündigung.

Was geht er uns also (noch immer) an, dieser Erlöser einer fremden und fiktiven Welt? Und vor allem, warum wollen wir uns (noch immer), unter christliche Kuratel, mit der Vorgeblichkeit von Seelsorge stellen? Was sollen wir (noch immer) anfangen mit penetranter Belästigung, unter dem Vorwand des Mitleids? Was (noch immer) anfangen mit den Einmischungen, noch in intimste Bereiche, unter dem Deckmantel der Nächstenliebe? Was sollen wir (noch immer) anfangen mit einer Botschaft, über deren Sinn Zwist und Streit herrscht, vom Urchristentum bis zu den heutigen zahllosen Konfessionen und Gruppierungen?

"Religion und Heuchelei sind Zwillingsschwestern", sagt Heinrich Heine, "und beide sehen sich so ähnlich, dass sie zuweilen nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dieselbe Gestalt, Kleidung und Sprache. Nur dehnt die letztere von beiden Schwestern etwas weicher die Worte und wiederholt öfter das Wörtchen 'Liebe'." Immer aber ist die "Religion eine Beleidigung der Menschenwürde" (Steven Weinberg), den C-Politikern der Bundeskirchenrepublik Deutschland sei es ins Stammbuch geschrieben.

Die real existierende Kirche ist keine Abirrung und Pervertierung von irgendeiner grundsätzlich guten Sache oder Lehre. Unvereinbar ist sie mit Wissenschaft, Vernunft, Demokratie, Gleichberechtigung und Toleranz. Dem Mainstream folgen mögen moderne Christen sich auf die Fahnen schreiben, mögen ihre aufgeregten Rufe "Wir sind auch Kirche" mit sozialem Engagement verbinden, sie mögen die heiligen Texte zur Beliebigkeit variieren, die faule Grundlage der Religion ist so nicht auszumerzen, von ihr kann man sich nur trennen.

Es mag für den Anfang schmerzen, doch es ist lohnenswert sich von unnützem Ballast zu befreien. Schon Demokritos von Abdera (460 – um 371 v. u. Z.) lobte die Heiterkeit des Gemütes und hinterließ uns den Rat, sich möglichst oft zu erfreuen und sich so wenig als möglich zu betrüben. Seine atomistischen Vorstellungen vom Universum bedurften keines Rückgriffes auf Transzendenz oder Gottheiten, kannten kein Elysion, kein Schattenreich und keine Transzendenz.