In einem rechtsphilosophischen Grundlagenaufsatz kritisiert der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon die Missachtung der weltanschaulichen Neutralität des Staates und führt aus, wie die damit einhergehende "illegitime Einschränkung bürgerlicher Freiheiten" behoben werden könnte. Dabei thematisiert er u.a. die Verantwortung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich bei Gesetzgebungsverfahren keineswegs auf ihr "religiöses Gewissen" berufen dürften. Vielmehr seien sie gerade durch die "Gewissensformel" der Verfassung dazu verpflichtet, dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität zu folgen.
Der 20-seitige Artikel, der von grundsätzlicher Bedeutung für die Politik im säkularen Staat ist, wird in der Herbstausgabe der Philosophie-Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" erscheinen. Er wurde jedoch bereits heute zum "99. Geburtstag des demokratischen Verfassungsstaates" (Inkrafttreten der Weimarer Verfassung am 14. August 1919) auf der Website des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) publiziert, das mit dieser Veröffentlichung seine Aktivitäten zum Thema "100 Jahre Verfassungsbruch" beginnt. Der Text zeigt in pointierter Form auf, wie weitreichend die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger noch immer durch religiös begründete Normen beschnitten werden, und bestimmt die argumentative Stoßrichtung, die säkular denkende Menschen in den nächsten Jahren auf politischem wie juristischem Gebiet einschlagen sollten.
Dass die vielfältigen gesetzlichen Mängel, die in dem Aufsatz dargelegt werden, in der Rechtsliteratur bislang kaum behandelt wurden, führt Schmidt-Salomon auf einen "christlichen Bias" zurück: Vor dem homogenen Hintergrund einer christlich geprägten Gesellschaft sei den meisten Rechtsexperten gar nicht aufgefallen, "dass weder die Gesetze des Staates noch ihre juristische Auslegung dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität genügten." Daher könne der "blinde Fleck des deutschen Rechtssystems" wohl erst jetzt, "im Kontrast zu einer weitgehend säkularisierten, entchristlichten, weltanschaulich pluralen Gesellschaft", als solcher erkannt und korrigiert werden.
Freiheitseinschränkungen von der Wiege bis zur Bahre
Im ersten Teil seiner Ausführungen weist Schmidt-Salomon nach, wie sehr die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger durch irrationale, empirisch unbegründete und weltanschaulich parteiische (und somit verfassungswidrige) Normen eingeschränkt werden – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutz bis zum Friedhofszwang. In Kontrast zu den bestehenden gesetzlichen Regelungen macht der Text klar, wie etwa die Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch (§§ 218–219b StGB), zur öffentlichen Bildung, zum Arbeitsmarkt oder zur Sterbehilfe (§217 StGB) aussehen müssten, wenn sie verfassungskonform wären, also dem "Gebot einer rationalen, evidenzbasierten und weltanschaulich neutralen Rechtsbegründung" genügen würden.
Im zweiten Teil des Aufsatzes untersucht der Autor, wie die Missachtung der weltanschaulichen Neutralität überwunden werden könnte. Dabei streicht er zunächst die Bedeutung der Rechtswissenschaften heraus, deren "vornehmste Aufgabe" darin bestehen sollte, "die Rechtsordnung systematisch dahingehend zu untersuchen, ob die Weltanschauungsfreiheit aller Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der staatlichen Normen, Einrichtungen und Verfahrensweisen in angemessener Weise berücksichtigt wird oder nicht". Dem oft fehlinterpretierten "Böckenförde-Diktum" ("Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann") stellt Schmidt-Salomon in diesem Zusammenhang ein "alternatives Diktum" gegenüber: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat darf sich nicht auf Voraussetzungen berufen, die er nicht selbst geschaffen hat, sofern dies zur illegitimen Einschränkung bürgerlicher Freiheiten führt."
Auf dem Gebiet der Rechtspolitik kritisiert der Autor, dass Politikerinnen und Politiker, sobald ihnen die Sachargumente ausgehen, eine "Argumentation zur Beendigung aller Argumentationen" bemühen, indem sie sich auf Art. 38 Abs. 1 GG berufen. Der Grundgesetz-Artikel besagt, dass die Abgeordneten des Bundestags "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind, was viele Parlamentarier, so Schmidt-Salomon, zu der "irrigen Annahme" verleitet, es gehe hier um ihr "privates, womöglich sogar religiös aufgeladenes Gewissen". Tatsächlich aber zielt die "Gewissenformel" der Verfassung, die 1919 von einem sozialistischen Abgeordneten eingebracht wurde, keineswegs auf das privat-religiöse, sondern auf das "professionelle Gewissen" eines "Berufspolitikers" ab, der seine Entscheidungen "nach bestem Wissen und Gewissen" treffen sollte, nämlich "als Vertreter des ganzen Volkes" sowie unter strikter Beachtung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Die Berufung auf das "Gewissen" in Art. 38 Abs. 1 GG hat also, wie Schmidt-Salomon darlegt, "mitnichten die Funktion, die Abgeordneten von dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität zu befreien, sondern will sie vielmehr an ebendieses Gebot erinnern – und zwar gegebenenfalls in deutlicher Abgrenzung gegenüber weltanschaulich parteiischen Vorgaben der eigenen Fraktion".
Keine politischen Mehrheiten ohne Konfessionsfreie
Gegen Ende seiner Ausführungen problematisiert Schmidt-Salomon, dass viele Politikerinnen und Politiker noch immer so agieren, als ob sie in einer "Kirchenrepublik Deutschland" leben würden, obgleich der Bevölkerungsanteil der "praktizierenden Gläubigen" inzwischen "auf magere 12 Prozent zurückgegangen" sei. Angesichts der stabilen weltanschaulichen Trends der letzten Jahrzehnte sei davon auszugehen, "dass die Deutschen schon innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahre mehrheitlich keiner Religionsgemeinschaft mehr angehören werden", weshalb politische Mehrheiten in absehbarer Zeit nur noch "im Einklang mit den Interessen der konfessionsfreien Bürgerinnen und Bürger gebildet werden können – nicht mehr gegen ihre Interessen". Die Partei, die dies als erste erkenne, habe beste Karten für die Zukunft.
Spätestens dann, so der Autor, werde der "blinde Fleck des deutschen Rechtssystems" nicht mehr zu ignorieren sein, spätestens dann würden "die Gesetze fallen, die gegen die Anforderung einer rationalen, evidenzbasierten und weltanschaulich neutralen Begründung verstoßen". Allerdings könne sich ein Rechtsstaat, der diesen Namen verdiene, es sich nicht leisten, klare Unrechtsbestimmungen erst Jahrzehnte später zu beseitigen. Daher gelte es, "den Wandel des Rechtssystems zu beschleunigen – nicht nur, aber eben auch im Hinblick auf eine stärkere Berücksichtigung des Gebots der weltanschaulichen Neutralität".
9 Kommentare
Kommentare
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Großartig und überfällig.
Wenn es mal ein "blinder Fleck" wäre! Es ist über und im dem Rechtssystem vielmehr ein überall zu verortender Schleier, ein Nebel, unter dem nicht mehr differenziert wirdzwischen der staatlichen Garantie der individuellen Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und der gebotenen staatlichen Neutralitätspflicht in dessen gesamtem Handeln, sondern in dem sich beides auf eine seltsame Art vermengt und so zu dem (auch vom Bundesverfassungsgericht angenommenen) Postulat einer "grundsätzlichen Religionsfreundlichkeit" des Staates gelangt.
Das Bundesverfassungsgericht - hier verorte ich, wenn es denn nun schon um das Rechtswesen als nur einen Ausdruck staatlichen Agierens geht, das Hauptproblem in Sachen Ineinanderfließen von staatlichem Handeln (wozu ich auch die Tätigkeit der Abgeordneten in diesem Falle rechne) und religiöser Durchdringung. Lasen sich noch in den 1960er Jahren dessen Entscheidungen wie unverhohlene Aufforderungen, den ins Grundgesetz inkorporierten Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung endlich umzusetzen, ist dort längst ein Kurswechsel eingetreten, der größer nicht sein könnte. Das Gericht postuliert die schon erwähnte "grundsätzliche Religionsfreundlichkeit" des Staates und lässt damit ganz offen die religiöse Sphäre in Angelegenheiten staatlichen Handelns hineinwirken, es weicht den Charakter des auf individuelle Rechte angelegten Art. 4 GG auf und vermischt es mit den staatskirchlichen Regelungen des Art. 140 (die eigentlich fallen müssten, auch das Recht der religiösen oder weltanschaulichen Körperschaften des öffentlichen Rechts) zu einer Überhöhung, zu einem "Supergrundrecht Religionsfreiheit", das - sprichwörtlich wie der eingangs erwähnte Nebel - zwangsläufig die Ebene staatlichen Handelns durchzieht.
Wenn z.B. unter Berufung auf ein Bündel von Entscheidungen des BVerfG Aufsätze erscheinen, die postulieren, natürlich sei die richterliche Robe ein Ausdruck "des Zurücktretens der Persönlichkeit hinter das Amt, in der Distanzierung vom Geschehen
sowie der Gewähr der Unparteilichkeit". Woraufhin dann aber allen Ernstes dargelegt wird, da die Pflicht zum Tragen der Robe einfachgesetzlich geregelt sei, könne dieser Kontext nicht zu einer Einschränkung der Religionsfreiheit der Richter führen, mithin auch nicht ohne weiteres das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal als unzulässig angesehen werden.
Nur ein Beispiel, das aber klar die verquere Sichtweise zeigt, die Schmidt-Salomon umfassend anprangert: In diesem Fall macht sprachlos die Unfähigkeit, wahrzunehmen, dass das Tragen der Robe und ihre Zielsetzung selbst schon Ausdruck eines mit Verfassungsrang ausgestatten Gebotes ist: Der staatlichen Neutralität. Darüber zu feilschen, welcher gesetzlichen Regelung auf welcher Ebene es bedürfe, um dem Richter im Saal das Tragen religiöser Symbole zu verwehren, ist ein starker Ausdruck der eingangs erwähnten Vernebelung und Verschleierung der deutschen Rechtssphäre durch die angebliche "grundsätzliche Religionsfreundlichkeit". Hier zu glauben, es ginge um formaljuristische Krämerei statt um die selbstverständliche Wahrung von Verfassungsgrundsätzen, ist bezeichnend.
Aber wie gesagt, nur ein Beispiel, und so mancher Jurist wird meinen, ohne die Scharniere des hierarchischen Rechtssystems gehe es nun mal nicht. Aber müssen Angelegenheiten von hohem Verfassungsrang wie das Neutralitätsgebot nicht als elementar gelebt werden? Hier, an dieser Stelle, sind wir beim eigentlichen Wert und Inhalt des Böckenförde-Diktums: Der Staat lebt einerseits von idealen Voraussetzungen, die er sich selbst gesetzt hat - die er nicht garantieren kann, die er aber auch nicht zerstören darf. Und andererseits dürfen weder der Staat noch seine Repräsentanten sich auf irgendeine Transzendenz berufen, die außerhalb seiner selbst liegt - denn dann ist seine selbsterklärte Neutralität dahin.
Bernd Weiter am Permanenter Link
Was hindert die religiösen Abgeordneten, notfalls einfach eine säkular klingende Rationalisierung vorzuschieben und trotzdem ihren religiösen Geschmack umzusetzen? Bei der Sterbehilfe kann man z.B.
Dieter Bauer am Permanenter Link
Dank, Anerkennung und volle Unterstützung ist dem Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon ausgesprochen.
Roland Fakler am Permanenter Link
Was ist das für eine Justiz, die einerseits unbedingt glaubt, einen abgeschobenen Terroristen zurückholen zu müssen, um ihm gerecht zu werden und die sich andererseits ganz locker hundert Jahre lang über ein Verfassun
A.S. am Permanenter Link
Mir fehlt der Aspekt, dass mit Religionen Menschen in gewaltigem Ausmaß manipuliert werden - oder kann man den IS, Taliban, Kreuzritter, Selbstmordattentäter etc.
Insofern erachte ich schon den Begriff "Weltanschauung" als irreführend. Religionen sind m.E. keine "Weltanschauungen", sondern "traditionelle Instrumente zur Massen-Manipulation".
Statt von "Weltanschauungsrecht" sollten ifw und gbs vom "Recht massenmanipulierender Verbände" sprechen.
Ein freiheitlicher Staat, eine freiheitliche Gesellschaft, die das manipulative Wesen der Religionen nicht erkennen, wird an den Religionen zu Grunde gehen. Die Türkei und Syrien machen es gerade vor. Die BRD folgt voraussichtlich in Kürze.
Ein freiheitlicher Staat darf seine Bürger nicht manipulieren. Ein freiheitlicher Staat muss Massen-Manipulation in allen Formen bekämpfen, egal ob diese im faschistischen, kommunistischen, religiösen Gewand oder als "political correctness" daher kommt.
Josef Wehhofer am Permanenter Link
Ein freiheitlicher Staat hat die Aufgabe, Freiheit zu zerlegen in Rechte und Pflichten, auf beides hinzuweisen und notfalls Rechte zu entziehen, wenn Pflichten nicht eingehalten werden!
Klarsicht(ig) am Permanenter Link
Die „biblische Märchenfigur“, die an einigen Stellen in unsere Rechtsordnung „hineingeschmuggelt" wurde, sollte schnellstens wieder entfernt werden !:
https://www.youtube.com/watch?v=rcVm5kApjnY&t=126s
Gruß von
Klarsicht(ig)
Peter Wolber am Permanenter Link
Herr Dr. Schmidt-Salomon hat in seiner Darstellung den Sachverhalt in der von ihm gewohnten Weise sehr prägnant und schlüssig dargestellt.
Bei seiner Formulierung des "Gebot[s] einer rationalen, evidenzbasierten und weltanschaulich neutralen Rechtsbegründung" habe ich allerdings ein kleines Unwohlsein bei dem Wort „evidenzbasiert“. Zumal im deutschen Sprachraum ist der Begriff der Evidenz doch recht schillernd.
Eisler definiert Evidenz in seinem philosophischen Wörterbuch: „Evidenz (evidentia): Augenscheinlichkeit, Einsicht, intuitiv fundierte Gewißheit, unmittelbare Gewißheit des anschaulich Eingesehenen oder des notwendig zu Denkenden.“
Im Dorsch (Lexikon der Psychologie) Heißt es: „Evidenz [engl. evidence; lat. evidens augenscheinlich, einleuchtend], Augenscheinlichkeit; höchste Gewissheit, einleuchtende Erkenntnis, unmittelbare Einsicht in das Gegebene mit der Gewissheit der Richtigkeit.“
Daher können sich zum Beispiel selbst Kreationisten bei ihrer Argumentation auf „Evidenz“ angesichts der vorliegenden Welt berufen.
Carola Dengel am Permanenter Link
Die Religiösifizierung geht immer weiter
Siehe Interview DLF
https: //www.deutschlandfunk.de/religionsrecht-wir-tun-uns-mit-kopftuchdebatten-keinen.886.de.html?dram:article_id=427111
Für den Juristen ist ein säkularer Staat ein Staat mit vielen Religionen.
Gruselig !