Rezension

Katholizismusverursachtes "finsteres Mittelalter"

In dem Buch "Machtkampf. Die Geburt der Staatskirche" von Rolf Bergmeier wird dargelegt, wie sich der Katholizismus vom ursprünglichen Christentum trennt und eine Allianz aus Thron und Altar Mitteleuropa klerikalisiert, enturbanisiert und feudalisiert. Eine Rezension von Hermann Josef Schmidt. 

Viele Tabus dominieren nicht nur alltägliche Gespräche, sondern leider selbst Wissenschaften. Und dies vor allem dann, wenn gewichtige Interessen nicht nur berührt, sondern betroffen sind. Sind es gar Interessen von Institutionen oder Religionen, die zwar Jahrhunderten ihren Stempel aufzudrücken vermochten, dies später aber, wenn Fehlverhalten aufgelistet, Verantwortlichkeiten fixiert und Rechnungen präsentiert werden, "nicht mehr wissen wollen", ist wohlwollendes Schweigen oder lieberdienerisches Verhalten derer, die "es eigentlich besser wissen müssten", noch immer fast die Regel. 

Wohl auch deshalb gibt es vielleicht nicht viele Titel, die in eine Handbibliothek derer gehören sollten, die kultur- und religionskritisch interessiert, sich nicht verdummen lassen wollen, die auf Schärfung ihres eigenen Blicks sowie Verständnisses setzen und mit überschaubarem Aufwand für sie wichtige Gegenstandsfelder so aufarbeiten wollen, dass sie in Diskussionen selbst mit Fachleuten zu bestehen vermögen. 

Was generell Religionskritik mit dem Schwerpunkt auf den sog. abrahamitischen Religionen, also Judentum, Christentum und Islam betrifft, habe ich unter dem Titel "Kritischer Volltreffer" im Humanistischen Pressedienst (hpd) am 08. Februar 2018 mit Argumente kontra Religion. Werkzeugkasten für Religionskritik, 2018, von Gottfried Beyvers ein optimal lesbares Bändchen bescheidenen Umfangs vorgestellt. 

Wegen seiner Bedeutung verweise nun auch ich auf einen im hpd am 12. Juli 2018 von Gerfried Pongratz bereits überzeugend besprochenen, ebenfalls wenig umfangreichen, glänzend geschriebenen und bestverständlichen Band, weil dieser in beeindruckender Manier ein für jeden geistes- und religionsgeschichtlich Interessierten an Brisanz kaum überbietbares Thema aufgreift, das kurioser- oder auch bezeichnenderweise, wenn überhaupt erwähnt, in seiner Bedeutung maximal heruntergespielt wird. Schließlich wird dabei ein Sachverhalt verdeutlicht, den zu erkennen und zu berücksichtigen einen anderen Blick auf die zumal mitteleuropäische Geschichte der letzten knapp 1700 Jahre verleiht. 

Es geht dabei um die Tatsache, dass das bereits von Renaissanceautoren nicht zu Unrecht als "finster" bezeichnete zumal frühe Mittelalter als durchgängig von der Katholischen Kirche bestimmtes Zeitalter Folge eines staatlichen Diktats der Spätantike ist, das aus kaiserlicher Machtvollkommenheit mit wenigen Zeilen die Religionsfreiheit im römischen Imperium beendete, indem einer der sich bis aufs Blut bekämpfenden christlichen Sekten, übrigens derjenigen mit der vielleicht kuriosesten, da trinitarischen Theologie, den Status einer Staatsreligion verlieh. So wurden alle übrigen bis zu 80 christlichen Sekten ebenso verboten wie die (nur anfangs mit Ausnahme des Judentums) bisher dominanten, sich wechselseitig tolerierenden, in der Regel polytheistischen Religionen.

Diese Umpflügung der gesamten religiösen Landschaft der Spätantike durch den Erlass Cunctos Populos des Kaisers Theodosius am 28. Februar 380 wurde, gefolgt von Dutzenden weiterer Erlasse, dann auch gegen das Judentum usf. spezifiziert.

Die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgangs ist schwerlich überbietbar und doch kaum als Faktum im öffentlichen Bewusstsein: die wohl aggressivste aller damaligen Sekten, deren Mitglieder insgesamt nur zwischen 5 und 15 Prozent der Erwachsenen des römischen Reiches darstellten, wurde zur exklusiven Religion eines Staates ernannt, dessen Zusammenhalt über die Jahrhunderte zuvor durch polytheistische Offenheit und einen minimalen, deutungsoffenen Staatskult, später der jeweiligen Kaiserverehrung, gesichert wurde. Deshalb stellte dieser Erlass die antike Welt auf den Kopf: mit Konsequenzen bis in unsere Gegenwart und wohl auch in die nähere Zukunft. 

Doch welcher Historiker hat dazu angemessen Stellung bezogen? In der Regel wird dieser Erlass, wenn überhaupt erwähnt, weil er nicht schon Wochen oder Monate später in allen Reichsteilen durchgesetzt wurde, in seiner Bedeutung auf eine Weise heruntergespielt, dass diese Tatsache ebenso wie die Art der Berücksichtigung dieses Erlasses als optimaler Lackmustest auf die Seriosität der für die Aufarbeitung der Spätantike sowie des frühen Mittelalters verantwortlichen, häufig direkt oder indirekt kirchlich kontrollierten oder wenigstens beeinflussten Disziplinen gewertet werden kann; und sollte. Ein ideales Thema für nicht nur eine gründliche Dissertation an einer wirklich "freien" Universität, wenn es das hierzulande gäbe? 

Die Konsequenzen dieses Erlasses, dessen sich die als Machtfaktor erst nach dem 28. Februar 380 konstituierende Catholica systematisch zu bedienen wusste, reichen bis in die Gegenwart wie bspw. bis zur dreisten Verabschiedung von Gesetzen durch den deutschen Bundestag, die fast schon auf eine Verhöhnung des Verfassungsgrundsatzes der Trennung von Kirche(n) und Staat hinauslaufen und einer zunehmend religionsfreien Bevölkerung dennoch primär religiös begründeten Auffassung strafbewehrt aufzuoktroyieren sucht. Erinnert sei an das Verbot der Suizidbeihilfe durch Dritte und an die das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit beeinträchtigende Genehmigung der Beschneidung männlicher Kinder oder Jugendlicher, um Forderungen religiöser Fundamentalisten Genüge zu tun. 

Wenn angesichts eines militanten Islams Befürchtungen kursieren, unser demokratisches System könnte irgendwann einem islamistischen Ansturm erliegen, so lässt die Berücksichtigung der Geschichte der westlichen Spätantike 380 ff. und des frühen Mittelalters vermuten, wie unwahrscheinlich es auch unter geänderten Umständen sein dürfte, eine mit den Mitteln des Staates geschützte, weil mit ihm verbündete oder, dummerweise von diesem sogar selbst in die Machtposition erhobene, militante Religion noch ohne immenses Blutvergießen verabschieden zu können. Hier wie selten sonst gilt das obsta principiis. Wehret den Anfängen!

Um hier rechtzeitig wachzuwerden, bewährt sich der Blick in die Geschichte, die auf vergleichbare Prozesse hin zu studieren wäre. Genau dies ermöglicht Rolf Bergmeiers Machtkampf. Die Geburt der Staatskirche. Vom Siege des Katholizismus und den Folgen für Europa. Aschaffenburg: Alibri, Mai 2018, in klarster Weise, weil hier nicht nur skizziert wird, wie sich in Folge von Cunctos Populos die katholische Version des Christentums durch- und von ihren mit allen Mitteln bekämpften Vorgängern und Konkurrenten schnell absetzte, sondern dass dies zu einem wohlbelegten, erschreckenden Kulturverfall beitrug, der das katholisch kontrollierte Abendland gegenüber den beiden nächsten Nachbarn, dem spätgriechisch ostkirchlich geprägten Byzanz und dem maurischen Spanien bis ins Hochmittelalter als ein auf bäuerliche Verhältnisse und nahezu ausschließlich von Analphabeten besiedeltes, klostergesegnetes und feudalismusgeschädigtes mitteleuropäisches Entwicklungsland erscheinen lässt. Dem liegen die stadtgeprägten, schul-, universitäts- und bibliotheksgesättigten, meist wirtschaftlich prosperierenden Hochkulturgebiete Byzanz und maurisches Spanien in größter geographischer Nähe provozierend genug gegenüber. Die gern herangezogene Schutzbehauptung, die Zeiten seien damals eben leider, leider nicht besser gewesen, wird durch das Prosperieren dieser beiden aus vergleichbaren Konstellationen hervorgegangenen Hochkulturen widerlegt. Vor allem wird deutlich, wie sehr ein dogmatischer, machtbesessener, gesellschaftliche Ressourcen unproduktiv verbrauchender Katholizismus über Jahrhunderte zum Unglück und zur erbärmlichen Existenz von über 90 Prozent Mitteleuropäern aus primär ideologischen Gründen beigetragen hat. 

Diese mitteleuropäische Leidensgeschichte wird von Rolf Bergmeier, der hier nicht mehr eigens vorgestellt werden muss, in vielen Details ebenso belegt wie mit bis in unsere Gegenwart wirksamen Folgen aufgezeigt. Dabei kommt es nicht an erster Stelle darauf an, Bergmeier in jedem einzelnen Punkt zuzustimmen, sondern dieses Buch als Einstieg in ein hochtabuiertes, konsequenzenreiches Forschungsgebiet zu nutzen, als Anregung zur Blicköffnung für Gefahren totalitärer Übernahmen und zwecks historisch tiefenscharfer Beurteilung gegenwärtiger Probleme. Über das Verhältnis von Katholischer Kirche als neuer, sich von sämtlichen Vorgängern massivst absetzenden Religion zum sehr frühen Christentum kann man, zumal da hier noch immer sehr viel kontrovers oder wenigstens offen ist, nicht nur in Details anderer Auffassung sein als Bergmeier, doch seine vom 28. Februar 380 bis zur Gegenwart führende Argumentationslinie wird davon nicht betroffen. Sie wirkt ungemein überzeugend, ist bestens belegt und in ihrem Effekt erschreckend. Auswirkungen von Cunctos Populos betreffen auch hierzulande noch immer jeden von uns: also auch diejenigen, ja diese wohl am meisten, die davon noch niemals etwas gehört haben (wollen).

Rücksichtsloses Aufklären ist die Devise, vor allem über in unserer Vergangenheit abgelaufene Ereignisse, die sich in der Struktur allzuleicht zu wiederholen vermögen, wenn wie in der Spätantike oder noch 1933 sich kaum jemand konsequent und gut vernetzt wehrt, weil man, wohldressiert und mit Alltäglichkeiten beschäftigt, wieder einmal erst wach wird, wenn’s zum Handeln fast zu spät ist?