Wie vielfältig sich Humanismus in Debatte und Realität darstellt, zeigt ein neues Buch von Horst Groschopp. Mit "Konzeptionen des Humanismus" legt er eine Art Lexikon vor, das über 300 "Humanismen" – im Sinne einer Verwendungen der Worte "Humanismus" und "humanistisch" – vor allem in wissenschaftlicher Literatur erfasst.
Die Studie ist der vierte Band der im Alibri-Verlag erscheinenden Reihe "Humanismusperspektiven", die Horst Groschopp herausgibt. "Konzeptionen des Humanismus" ist nach seiner Monographie "Pro Humanismus" sein zweiter Band in der Reihe, die sich der Erforschung des Humanismus widmet. Mit dem Autor sprach Martin Bauer.
hpd: Haben Sie eigentlich die Humanismen gezählt, die Sie in Ihrem Buch durch Zitate oder Literaturverweise bringen?
Horst Groschopp: Nein. Man käme wohl auf so etwa dreitausend. Aber das bringt nicht viel, zumal nur direkte Wortverbindungen erfasst werden: "Humanismus" als Substantiv mit einem direkt verbundenen Adjektiv, etwa "abendländischer Humanismus", beziehungsweise ein Sachwort mit dem Adjektiv "humanistisch", etwa "humanistisches Abendland". Schon die Verbindung "Humanismus" und "Abendland" ergäbe eine nicht fassbare Größe – und wohl viele Dissertationsthemen.
Aber es gibt nur einen Humanismus?
Jedenfalls gibt es keine relevanten Vorschläge, angesichts der Vielfalt auf den Bezugsbegriff "Humanismus" gänzlich zu verzichten oder die Auflösung des Humanismus als geschichtsträchtiger Bewegung zu konstatieren."Humanismus" konstruiert eine "Kommunikationsgemeinschaft".
Und in dieser Gemeinschaft reden alle über das Gleiche?
Nein und Ja. Nein, weil viele unterschiedliche Sachverhalte und unter verschiedenen Zugängen verhandelt werden. Ja, denn es gibt ein gewisses Grundverständnis, einen gemeinsamen Nenner. Doch bevor wir vielleicht darauf eingehen, ist eine doppelte Voraussetzung zu konstatieren. Erstens: Modernen Humanismus gibt es nur im Plural, wobei "modern" noch einmal sehr vieldeutig ist. Zweitens: Humanismus als kulturelle Bewegung und als Begriff sind "lebendig". Zwar gibt es Autoren, die Humanismus nach wie vor auf Antike-Rezeption oder Neuhumanismus reduzieren. Doch der Blick weitet sich. Es kommen immer neue Varianten hinzu. Hier einen Überblick zu bekommen, das ist schwierig.
Humanismus, also das, was darunter verstanden wird, dehnt sich sozusagen aus. Aber worin besteht dann die "Einheitlichkeit"?
Die Einheitlichkeit besteht, wenn man so will, in der Unterscheidung vom Antihumanismus. Ich zitiere in meinem Buch den Philosophie- und Literaturhistoriker Michael Großheim, der eine Abgrenzung vom Antihumanismus am Beispiel von Martin Heidegger vornimmt. Heidegger hat 1947 über Humanismus einen bis heute breit diskutierten – wenn man so will – öffentlichen Brief geschrieben. Diesen bewertet Großheim nicht als humanistischen Text. Er verallgemeinert: "Was die Gegner des Humanismus stört, sind … drei Gegenstände: der Mensch im Menschen, der Mensch als Gattungswesen und der Mensch im Mittelpunkt."
Daraus folgt – und das ist eine Schwierigkeit im Umgang mit dem wissenschaftlichen Gegenstand "Humanismus" – dass, wer über Menschenwürde, Menschenbildung, Menschenrechte, also "Menschlichkeit", schreibt, zum einen in seinem Urteil nicht von vornherein "humanistisch" argumentiert, aber dies zum anderen durchaus tun kann, ohne die Worte "Humanismus" und "humanistisch" zu benutzen.
Die Letzteren fallen dann automatisch aus Ihrer Sammlung ...
Ja, denn es geht in dem Buch um reinen Begriffsgebrauch, weshalb nicht nur Humanisten zu Wort kommen. Das Ergebnis ist kein "Kategoriengeklingel", sondern eher eine Belegsammlung über "'Humanismus' im Gebrauch". Für die "säkulare Szene" bedeutsam halte ich dieses Verfahren, weil "Humanismus" für sie erst ab Mitte der 1980er in den Blick kommt, ein neues Wort in ihren Konzeptionen. Es gab zwar schon um 1900 "Humanistengemeinden", die gehörten aber formal nicht zur Freidenkerbewegung. Dieser "ethische Humanismus" wurde zum Beispiel von August Bebel vehement zurückgewiesen.
Haben Freidenker vorher also nicht "humanistisch" argumentiert, sogar "antihumanistisch" gehandelt?
Das Wort kam bei ihnen nicht vor. Deshalb waren sie aber nicht von vornherein "Antihumanisten". Es gab solche in ihren Reihen, wenn wir die völkischen "Freidenker" bedenken. Das, was als Humanismus definiert wird, stellt sich als eine historisch gewordene Vereinbarung dar. Am Beispiel der Freidenker: Die Freidenkerbewegung fühlte sich bis in die 1970er-Jahre hinein der Arbeiterbewegung zugehörig beziehungsweise ihren jeweiligen Fraktionen.
Sorry, aber die Arbeiterbewegung war doch nicht "antihumanistisch", oder?
Jedenfalls nicht in ihren "Glaubensinhalten", da war sie "sozialistisch". Sie hatte humanistische Ziele, das lässt sich belegen. Sie hätte zu deren Beschreibung aber nicht "Humanismus" benutzt. Für sie galt nahezu unisono, dass Marx und Engels bereits 1844 den "realen Humanismus", wie er im Vormärz von 1848 gedacht wurde – zur Erinnerung, der Begriff wird 1806 "erfunden" –, in den "Kommunismus" überführt hatten. Das wiederum verband umgekehrt in den Ländern des Staatssozialismus spätestens seit den 1968er Reformbewegungen, aber wahrscheinlich schon früher, "Humanismus" mit Opposition gegen den real existierenden Sozialismus. Lenin, ich gehe in dem Buch kurz darauf ein, hat die Worte "Humanismus" und "humanistisch" nie benutzt – und er war wohl auch in seinem Denken und Tun kein Humanist.
Muss, wer von "Humanismus" spricht, dies begründen?
In meinen Zitaten taucht mehrfach Julian Nida-Rümelin auf, für ihn ist das eine Grundbedingung seines "philosophischen Humanismus". Auch in dem Handbuch "Humanismus: Grundbegriffe" hat "Argumentieren" einen hohen Stellenwert. Für die "säkulare Szene", für die wir dieses Interview machen, bedeutet dies, dass Humanismus nicht zur Fahne taugt.
Vielleicht auch, weil hier der Begriff neu und ungewohnt ist. Sie gehen in ihren Büchern "Dissidenten" und "Pro Humanismus" bereits ausführlich darauf ein. Was ist nun neu?
Es werden Zitate gebracht, aus denen Ursprung und Breite des "ethischen Humanismus" oder anderer Humanismen, des "radikalen", "rationalistischen", "realen", "realistischen Humanismus" genauer hervorgehen. In den Beispielen wird klarer, worauf man sich einlässt, wenn man dieses oder jenes Adjektiv vor "Humanismus" setzt – und was zu lesen wäre, bevor dies getan wird.
Die "säkulare Szene" ist heute ein "weites Feld", in dem immer mehr Organisationen mit "Humanismus" argumentieren. Das kommt in Ihrem Buch auch vor, steht aber nicht im Mittelpunkt. Warum?
Der "Humanistische Verband" oder die "Humanistische Union", um nur diese zwei nennen, haben das Monopol auf die Wortverwendung nicht nur verloren, sie sind im Trubel der Debatten um den "wahren", "richtigen", "zeitgemäßen Humanismus" in der Gefahr, marginalisiert werden. Um es zugespitzt auszudrücken, in der "Szene" dominiert weitgehend noch immer ein – durchaus nachvollziehbar begründeter – "Behauptungshumanismus", teils ein naiver, teils ein pragmatischer, manchmal unlogischer, teils ein apologetischer Gebrauch, der sich, den Umständen entsprechend, zu stark auf einige Arbeitsfelder beschränkt, um souverän im Konzert der Humanismen mitzuspielen.
Sie haben doch aber selbst geschrieben, dass humanistische Verbände keine akademischen Einrichtungen sind ...
Ja, es fehlen ihnen die entsprechenden akademischen Einrichtungen und Personen, so dass auch der Kontakt zu denen, die zum Humanismus forschen oder zu Aspekten davon, nicht oder nur unzureichend hergestellt werden kann. Umgekehrt stehen akademische Äußerungen zum Humanismus den Problemen der "Szene" fern gegenüber.
Das immer wieder gebetsmühlenartig vorzutragen, hilft aber auch nicht viel weiter ...
Doch, das tut es, weil die Erkenntnis der Schwächen des eigenen Humanismus offenzulegen sind. Wer sich zum Humanismus äußert, sollte seinen Platz im Reigen der Humanismen genauer bestimmen können, eine Ahnung davon haben – schon um Fettnäpfe, in die man treten kann, zu erkennen. Das wäre ein erster Schritt, um Überheblichkeiten zu mindern, Träume von der besonderen Originalität zu relativieren, Realismus hinsichtlich des gesellschaftlichen Einflusses zu gewinnen. Ich hoffe auf mehr Respekt beim Umgang mit "Humanismus".
Für die Nützlichkeit dieser Botschaft hätte ich jetzt aber gern mal ein Beispiel!
Ich sehe einen sehr oberflächlichen Gebrauch einiger Begriffe in der "säkularen Szene", auch wenn sie eigene Programmatik oder Abgrenzungen betreffen. Es finden sich im Buch einige Zitate und Hinweise, so zum "praktischen Humanismus" des HVD und dem "evolutionären Humanismus" der Giordano-Bruno-Stiftung, die über das, was diese Organisationen dazu sagen, hinausreicht; aber es werden auch Mitteilungen gemacht zu solchen tradierten Kernen wie zum "atheistischen", "realen", "naturalistischen", "sozialistischen" oder "wissenschaftlichen Humanismus". Es werden dazu die Gegensätze vorgestellt, etwa was den "biblischen", "christlichen", "religiösen", "theonomen Humanismus" betrifft, ganz zu schweigen von neuen Humanismen, wie etwa dem "veganen Humanismus" oder solchen, die als selbstverständlich gelten, wie "säkularer" und "organisierter Humanismus".
Bleiben wir kurz bei der Historie. Einige Begriffe wie der "byzantinische" oder der "rhetorische Humanismus" verweisen auf bisher "unterbelichtete" Seiten der Herausbildung des – sehr umfangreich belegten – "interkulturellen Humanismus", darunter auch der "chinesische". Was erfährt das Publikum über "Lehren aus der Geschichte"?
"Lehren" sind "Lektionen", die gelernt werden müssen, und "Geschichten" werden erzählt, wobei sich der Lernstoff nicht von selbst offenlegt und keine zweck-, bedingungs- oder gar praxisfreie Wissensaneigung darstellt. Humanismus, so wird berechtigt gesagt, sei eine "Menschheitserzählung". Die vorgelegte Begriffsliste stärkt diese Erkenntnis und verweist auf eine nahezu traumatische Erfahrung: Humanismus ist keine "Gesetzmäßigkeit", sondern umkehrbar. Es zeigt sich, dass Menschen Humanismus auch vergessen können, den Begriff und die Bewegung.
Eröffnen Sie jetzt eine neue Verschwörungstheorie?
Wenn Osmanen, die Konstatinopel eroberten und die letzten Reste des "arabischen Humanismus" vertrieben, oder die Reformatoren, die die Ausdehnung des "italienischen Humanismus" über die Alpen verhinderten, "Verschwörer" waren, bitte sehr. Zum einen kann Humanismus besiegt werden, zum anderen hatte er immer dann Konjunktur, wenn Humanität und Menschenwürde bedroht schienen oder tatsächlich verletzt wurden.
Das steht auch in ihrem Buch drin?
Ja, aber ich habe die Befunde nur Begriffen zugeordnet. Jedenfalls legt das Literaturstudium nahe, von Zeiten der "Wiederkehr des Humanismus" zu reden, was "Untergänge" voraussetzt, die mehr sind als eine "Krise". Eine solche "Wiederkehr des Humanismus" gab es in Osteuropa in den 1960er/1970er-Jahren vor den 1989er Revolutionen. Hier ist es im Nachhinein gelungen, die Vorgänge als eine "Wiederkehr" von Christentum und Kirchen zu interpretieren. Dabei wird außer Acht gelassen, wie einflussreich Humanismus auf die Kirchenleute im Osten war beziehungsweise innerhalb der herrschenden Staatsparteien der Humanismus sich Räume und Köpfe eroberte. Ich verweise hier auf mein Buch "Der ganze Mensch", in dem Humanismusdiskurse vor und in der DDR vorgestellt werden. Nicht nebenbei ist zu dieser "Wiederkehr des Humanismus" anzumerken, dass, wenn Humanismus auf "säkularen Humanismus" eingeengt wird, wie es in der "säkularen Szene" geschieht, diese epochale Geschichte gar nicht erzählt wird.
In ihrem jetzigen Buch wird die Leserschaft vom "abendländischen" bis zum "zweiten Humanismus" geführt, wobei Sie die konzeptionelle Pointe des jeweiligen Wortgebrauchs vorstellen. Die Publikation enthält ein umfängliches Vorwort, das auch die Arbeitsmethode und die wesentlichen Befunde erörtert. Eine Bibliographie und ein Personenverzeichnis ergänzen die Ausgabe. Quellen sind wesentlich wissenschaftliche Veröffentlichungen, nur hin und wieder wird aus Medien zitiert. Warum nicht öfter?
Das wäre ein ganz anderes Buch geworden. Wenn bei Google News täglich "Humanismus" eingegeben wird, ist das Ergebnis ein sehr erhellender öffentlicher Wortgebrauch, der auch eine Analyse nötig hätte, weil sich die "säkulare Szene" zwangsweise dort drin bewegt. Ich habe aus dieser Quelle nur einzelne Beispiele herausgepickt, so etwa den "effektiven Humanismus" – das klingt besser als "eingeschränkte Humanität" bei der Vertreibung von Geflüchteten aus Europa.
Jetzt mal zur Verbandspolitik. Ihr Buch ist eine Art Hohelied auf die Pluralität im Humanismus. Sehen Sie hier irgendwelche Hinweise für den HVD, den Verband, den Sie einmal politisch und konzeptionell geführt haben?
Oh, da muss ich etwas ausholen. Zum einen ist der HVD organisatorisch auf dem Weg zu einer wirklich föderalistischen Struktur. Das war bei der Gründung nicht so konsequent vorgesehen. Die Folgen sind unklar. Zum anderen ist er, aus meiner Warte, zu unentschieden in seiner Strategie, immer wieder hin- und hergerissen zwischen einem kirchen- und religionskritischen Säkularismus und einer ("konfessionellen") Partizipation in der Pluralität der organisierten Religionen und Weltanschauungen. Ich sehe im HVD einen "humanistischen Länderwettbewerb" wachsen. Dann soll es eben so sein nach dem Rat eines berühmten Anti-Atheisten, Dante: Gehe deinen Weg und lass die Leute reden.
Schauen wir mal, wer "schöpferisch" ist, also konzeptionell, weltanschaulich erfolgreich. Warum soll es nur einen einzigen humanistischen Verband geben? Das Einende ist doch sowieso Definitionssache. Wer sagt denn, dass Pluralität nicht auch im HVD gelten soll (oder was daraus in der kommenden Zeit wird)? Das gilt doch nur nicht, wenn man anderen den "wahren Humanismus" abspricht. Eine grundsätzliche Humanismusdebatte täte dem HVD gut, auch um sich nachvollziehbar weltanschaulich zu positionieren, gerade hinsichtlich des real existierenden evolutionären Humanismus – Ethik/Lebenskunde, hpd, KORSO, Interessenvertretung Konfressionsfreier … alles "Oberflächenprobleme", Folgen, nicht Ursachen.
Abschließend die Frage, woran arbeiten Sie jetzt?
Ich möchte zunächst auf eine parallel erschienene Publikation verweisen, die Memoiren von Lotte Rayß, einer Freundin von Friedrich Wolf und späterem Opfer des sowjetischen Gulag- und Verbannungssystems, für das ich ein längeres kulturwissenschaftliches Nachwort verfasst habe, das nun ein weiter ausgebauter Text für die "Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung" wird. Dann ist Band 5 der Reihe "Humanismusperspektiven" dran, eine Sammlung von Texten von Johannes Neumann über "Humanismus und Kirchenkritik". Darauf folgt Band 6, ein Sammelband mit Texten von Ursula Neumann. Weiteres schauen wir mal.
Wir danken für das Interview.
Horst Groschopp: Konzeptionen des Humanismus. Alphabetische Sammlung zur Wortverwendung in deutschsprachigen Texten. Mit einer Bibliographie. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2018, 313 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86569-284-9, Euro 24.- (Humanismusperspektiven, Band 4).
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Günter Stadler am Permanenter Link
Der Humanismus ist eine dem Menschen angeborene Eigenschaft! Diese Eigenschaft dient vor allem der Arterhaltung.