China: Totale Überwachung für alle

Kontrolle ist uns nicht fremd. Wenn wir einen Kredit beantragen, müssen wir unsere finanzielle Situation offenlegen, als angehende PyrotechnikerInnen müssen wir eine Unbedenklichkeitsbescheinigung einbringen. In vielen weiteren Situationen lassen wir Aspekte unseres Lebens durchleuchten und legen private Belange frei. In China soll die Durchleuchtung noch viel weiter gehen und ein Punktesystem sogar die Erziehung der Menschen verstärken. Mittels intelligenter Schule macht die Totalüberwachung auch vor Kindern nicht halt.

Bereits 2014 begann die chinesische Stadt Rongcheng damit, ein Konto für die Sozialpunkte ihrer BewohnerInnen einzurichten. Seitdem sind weitere Regionen gefolgt. Von der Regierung erwünschtes Verhalten gibt Pluspunkte, unerwünschtes Verhalten gibt Minuspunkte auf diesem Konto.

Dabei ist das Punktekonto jedoch kein Papiertiger, über den bei jedem (vermeintlichen) Fehlverhalten nur müde gelächelt werden kann, sondern eine starke Waffe, um menschliches Verhalten in gewünschte Bahnen zu lenken. Ohne ausreichenden Kontostand gibt es keinen Kredit, keine Beförderung im Job, keine Zulassung der Kinder zur Wunschschule und sogar Kürzungen bei Sozialversicherungen oder die Ablehnung bei einem Antrag auf Versicherung. Besonders unliebsame Regierungskritiker verlieren sogar die Möglichkeit, Tickets für öffentliche Verkehrsmittel zu erwerben.

Ins Punkteregister fließen Dinge ein, die auch in Deutschland Einfluss auf zukünftige Entscheidungen haben, wie z. B. Verhalten im Verkehr oder die Zahlungsmoral. Doch während bei uns ein Radunfall im betrunkenen Zustand womöglich zum Verlust der Fahrerlaubnis für einen gewissen Zeitraum führt, kann in China schon das überqueren einer roten Ampel zu Fuß zum Punkteabzug führen. Das chinesische Punktekonto sieht aber noch viel weitreichendere Untersuchungen des Verhaltens vor. So bringt Blutspenden, die Verwandtschaft zu pflegen und in der Nachbarschaft aushelfen Pluspunkte. Die Regierung zu kritisieren, "falsch" Einzukaufen oder sich im Straßenverkehr nicht den Vorschriften entsprechend verhalten gibt Abzüge.

Um die Punktekonten führen zu können, müssen Unmengen an Daten gesammelt werden. Dies geschieht mittels massiver Überwachung. Durch Gesichtserkennung, die Verfolgung und Auswertung der Internetverwendung und natürlich das Zusammenführen aller Dokumente inklusive Zeugnissen.

Obwohl die Überwachung das Leben so einschränkt oder vielleicht gerade wegen der erdrückenden Bewachung, die ein Abweichen von der erwünschten Linie mit Punkteabzug und somit Sanktionen bestraft, haben bei einer Umfrage unter etwa 2.000 Personen rund 49 Prozent der befragten Personen das Punktesystem positiv bewertet.

Da scheinbar die große Auflehnung gegen die Komplettüberwachung bei der Erziehung ausbleibt, werden auch Kinder und Jugendliche überwacht. Im Mai 2018 begann die Oberschule Nummer Elf in Hangzhou, sich zur "intelligenten" Schule zu entwickeln. Gesichtserkennung am Schultor, bei der Buchausleihe, im Klassenzimmer, in der Mensa und sogar am Getränkeautomat lässt umfassende Rückschlüsse auf das Verhalten der Jugendlichen zu. Wer zu spät am Schultor erscheint, wird erkannt, das Lehrpersonal erhält eine Nachricht auf das Smartphone. Die konsumierten Gerichte und Getränke werden gesammelt und ausgewertet. Die Eltern erhalten Meldungen darüber, ob ihr Nachwuchs sich gesund ernährt oder womöglich zu viel frittiertes Essen konsumiert.

Die Gesichtserkennung im Unterrichtsraum ist besonders perfide. Zeichnet sie doch auf, wer womöglich abwesend schaut, schläfrig wirkt oder mit etwas anderem beschäftigt ist. Wer den falschen Gesichtsausdruck zeigt, erhält Hinweise zum Lernverhalten mit Tipps zur besseren Unterrichtsteilnahme.

Schmackhaft gemacht wird die "intelligente" Schule als einfaches System, bei dem es nicht mehr notwendig ist, Mensa- oder Bibliotheksausweis mitzunehmen, bei dem Gesundheit und Schulerfolg der Kinder und Jugendlichen für die Eltern leicht erkenn- und lenkbar sind.

Obwohl die Schulüberwachung in China für ein wenig Empörung sorgte, scheint die Rechnung des Staates aufzugehen. Der Protest reichte nicht: Bis 2020 soll die Überwachung mittels Sozialpunktekonto Standard in China sein. Dabei spielt der Nachwuchs natürlich die größte Rolle.

Wer schon in der Jugend Überwachung und weitreichende staatliche Erziehung gewohnt ist, wird sich schwerer damit tun, auszubrechen und andere Lebensmodelle einzufordern.

In Deutschland gibt es auch immer wieder Vorstöße, die Überwachung und Lenkung der Menschen auszuweiten. Mittels Gesichtserkennung, neuen Polizeiaufgabengesetzen oder auch dem Versuch, die Aufdeckung von Missständen zu kriminalisieren.