Interview mit Lale Akgün

"Ein deutscher Islam ist möglich"

Ist der Islam mit der Demokratie vereinbar? Ja, sagt die türkischstämmige SPD-Politikern Lale Akgün. Im Interview mit dem hpd erklärt sie, wie ein liberaler Islam aussehen sollte und was die Islamverbände richtig gemacht haben.

hpd: Sie sagen, wenn der Islam sich nicht reformiert, dann ist er dem Untergang geweiht. Wie meinen Sie das?

Lale Akgün: Er wird nicht morgen oder nächste Woche untergehen, aber auf Dauer kann man die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht aufhalten. Es wird in Zukunft immer weniger Leute geben, die mitmachen wollen.

Schaut man sich in der Welt um, so begegnet man dennoch häufig einem orthodoxen Islam wie in Saudi-Arabien, in Zentralasien, in Teilen Indonesiens und auch in Brunei. Ist der liberale Islam eine Utopie?

Nein, man muss einen Blick in die Geschichte werfen, denken Sie an die Taliban in Afghanistan oder an den Wahhabismus in Saudi-Arabien. Dieser orthodoxe Islam hat sich hauptsächlich in den letzten hundert Jahren entwickelt. Das ist ein politischer Islam und er unterwirft die Menschen einem ideologischen System.

Sie können den politischen Islam auch mit anderen Ideologien vergleichen wie mit einem rigiden Kommunismus oder dem Faschismus. Ich denke, dass einseitige Ideologien irgendwann nicht mehr greifen. Der liberale Islam hingegen ist mit dem Alltag der Menschen kompatibel.

Lassen Sie uns auf Deutschland schauen. Hat der liberale Islam denn hier überhaupt eine Chance? Von außen betrachtet wirkt es so, als seien sogar die liberalen Muslime untereinander zerstritten.

Das liegt nicht am liberalen Islam, sondern an den handelnden Personen und der Rolle, die sie einnehmen. Auch Eitelkeit ist ein Grund.

Der liberale Islam wird in Deutschland von der Mehrheitsgesellschaft sehr positiv aufgenommen und vielleicht möchten diejenigen, die ihn propagieren, im Vordergrund stehen. Wenn dann aber Konkurrenz auftaucht, kann es passieren, dass man sich gegenseitig den Ruhm oder die Anerkennung neidet.

Es hat auch etwas mit den Migranten selbst zu tun, mit einer Minderheitsgesellschaft in einer Mehrheitsgesellschaft. Wer wird am meisten geliebt? Wer wird akzeptiert? Denn oft geht es bei den Diskussionen nicht um Inhalte, sondern um individuelle Befindlichkeiten. Es dreht sich dann nur um die Personen und wen die Deutschen mehr liebhaben. Aber das dient der Sache nicht.

Zudem sind es immer dieselben liberalen Muslime, die man wahrnimmt. Wo sind die anderen?

Das stimmt. Natürlich braucht man Leute, die einen ansprechen. Aber der Islam ist ja keine Partei, er ist eine Weltanschauung. Und deshalb brauchen wir viele Player, damit viele Menschen für einen liberalen Islam gewonnen werden. Wenn sich aber jeder nur selbst darstellen will, dann wird das nix.

Gibt es eigentlich eine muslimische Identität, zumindest behaupten das ja die Islamverbände?

Interessanterweise behaupten das ja nicht nur die Islamverbände, sondern auch die Rechten. Natürlich gibt es keine islamische Identität. Es gibt ja auch keine christliche, keine katholische Identität. Das ist Glaube, nicht Identität. Aber damit versuchen die Islamverbände ganz gezielt, die Menschen auf eine Linie zu bringen, weil hinter der sogenannten islamischen Identität ja auch Dinge stehen, die man machen muss, Regeln, die befolgt werden sollen. Und die rechten Kräfte benutzen dieses Bild ebenfalls, um alle Muslime ausgrenzen zu können. Nach dem Motto: Das sind Muslime, die kann man nicht ändern und deswegen gehören die nicht zu uns.

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Also rechte Fundamentalisten und muslimische Fundamentalisten sind Brüder im Geiste, zwei Seiten derselben Medaille?

Absolut. Am Ende sind Ideologien austauschbar.

Aber wie kann es dann sein, dass die Islamverbände von der Politik mehr Unterstützung erfahren als die liberalen Muslime? Was haben die Verbände richtig gemacht?

Sie haben "hier" gerufen. Sie waren da, als in Deutschland die Zahl der Muslime anstieg und sie konnten sich organisieren. Und Deutschland ist ein Land der Organisationen.

Wer einen Verein gründet, wird gehört.

Genau. Wenn man organisiert ist und einen Vereinsvorsitzenden wählt, dann hat man sogleich einen Ansprechpartner für die Öffentlichkeit, der für die anderen mitredet.

Obendrein erhielten die großen Verbände Unterstützung aus dem Ausland wie zum Beispiel aus der Türkei. Ideologisch und logistisch. Und dadurch, dass sie Ansprechpartner der Politik wurden, konnten sie auch die Meinungsbildung im Land gestalten. Und wer die Meinung gestaltet, wird umso wichtiger für die Politik.

Sie fordern eine Reform des Islam. Aber wer soll reformieren?

Es wird niemand morgen auftauchen und sagen "Ich reformiere jetzt den Islam". Wer das behauptet, macht sich zu einer Lachnummer. Wer kann denn bitte für 1,6 Milliarden Muslime sprechen?

Nein, es braucht tausende Menschen für eine Reform, und viele Menschen haben ja auch gute Ideen und wollen etwas verändern. Nicht nur in Deutschland bewegt sich also einiges. Auch in Amerika oder in Frankreich.

Inwiefern ist der Islam eigentlich mit den Frauenrechten vereinbar?

Das kommt auf die Auslegung an, und es hängt von demjenigen ab, der die Religion interpretiert.

Schauen Sie, alle monotheistischen Religionen sind nicht sehr frauen-freundlich. Die großen Weltreligionen haben den Frauen nie irgendwelche Rechte zugestanden, weil es patriarchale Systeme sind. Aber es ändert sich etwas. Sogar aus konservativen Moscheevereinen treten plötzlich dutzende Frauen aus, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen.

Auch Traditionen und Kulturen sind einem Wandel unterworfen.

Ja, und deshalb glaube ich, dass ein deutscher Islam möglich ist. Wenn orthodoxe Muslime behaupten, es gebe nur einen Islam, so muss ich widersprechen, denn die Religion geht ja immer eine Symbiose mit der Kultur ein. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Muslime in Japan und Muslime in der Türkei leben ja völlig unterschiedlich.

Was sind für Sie die wichtigsten drei Punkte, die angegangen werden müssen?

Für mich ist die Schlüsselfrage die Frauenfrage. Wenn der Islam nicht mehr das Patriarchat bedienen würde, also wenn bestimmte Suren und Hadithe nicht mehr zur Anwendung kämen, weil sie einfach überholt sind – wie die Verhüllung der Frau – dann wäre viel gewonnen.

Vor 1400 Jahren mag das vielleicht sinnvoll gewesen sein, aber heute muss sich niemand mehr hinter einem Vorhang verstecken. Das ist nicht mehr zeitgemäß.

Auch ein Kopftuch ist nicht mehr nötig. Und wenn es doch nötig sein sollte, dann haben wir Frauen bei der Erziehung unserer Söhne etwas falsch gemacht. Wenn unsere Söhne nicht in der Lage sind, ihre Hose zuzulassen, haben wir sie falsch erzogen.

Der zweite Punkt wäre der Umgang mit Andersgläubigen. Der Islam ist keine lokale Religion mehr, sondern eine globale. Er trifft auf Juden, Christen, Hindus, Atheisten, und er muss lernen den anderen in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren. Denn tatsächlich ist der Islam ja eine sehr persönliche Religion. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Missionierung widerspricht dieser Eigenverantwortlichkeit.

Und drittens: Es kann nicht sein, dass es neben den Menschenrechten noch muslimische Rechte gibt.

Die Menschenrechte müssten also überall universell sein?

Ja. Man darf nicht alles dem Glauben unterordnen. Und das bedeutet zudem, dass der Islam von der Alltagsgestaltung getrennt sein sollte, sonst unterliegt das ganze Leben Regeln und Verboten. Der Islam muss sich auf seine Rolle der spirituellen Bereicherung besinnen und den Dogmatismus zurückfahren.

Das Gleiche haben wir bei den orthodoxen Juden. In Tel Aviv gibt es sogar ein McDonald's extra für ultraorthodoxe Juden. Am Ende kann der Alltag ja kaum bewältigt werden, weil man weder essen noch trinken darf, was man möchte und es verboten ist, sich irgendwo hinzusetzen.

Lale Akgün sprach beim "Düsseldorfer Aufklärungsdienst" über ihr aktuelles Buch. Foto: © Saskia Zeller
Lale Akgün sprach beim "Düsseldorfer Aufklärungsdienst" über ihr aktuelles Buch. Foto: © Saskia Zeller

Trennung von Alltag und Religion ist wichtig, aber Sie setzen sich ja auch für Säkularität ein, also Trennung von Staat und Religion. Leider sieht Ihre Partei, die SPD, das anders. Sie gehören der Gruppe "Säkulare Sozialdemokraten" an, doch es ist Ihnen nicht erlaubt, einen offiziellen Arbeitskreis zu bilden, im Gegensatz zu Muslimen, Juden und Christen. Das muss Sie doch schrecklich ärgern. Erschwert das nicht Ihr Anliegen?

Wir brauchen in Deutschland mehr Säkularität. Über vierzig Prozent der Gesellschaft gehört gar keinem Glauben mehr an, übrigens auch bei den sogenannten Muslimen. Die Moscheen sind genauso leer wie die Kirchen, außer vielleicht freitags.

Die SPD kann diese Entwicklung nicht ignorieren, insbesondere nicht bei Fragen wie die Ablösung der Altlasten, die Kirchensteuer, die rituelle Beschneidung von Jungen, Sterbehilfe und vieles mehr. Da muss die SPD die säkulare Sicht miteinbeziehen. Deswegen erwarten wir, dass die Partei unseren Arbeitskreis akzeptiert und etabliert. Und was die Beschneidung betrifft, es kann doch nicht sein, dass in der Türkei darüber diskutiert wird, in Israel ebenfalls, aber in Deutschland ist es ein Tabuthema. Wenn ich hier den Mund aufmache, kriege ich eins über den Deckel.

Ich kann in der Türkei oder im Iran mit aufgeklärten Menschen viel offener über das Kopftuch diskutieren als hier in Deutschland.

Stellen Sie sich vor, da unterschreiben hier neulich über hundert Professoren aus den Bereichen Pädagogik und Psychologie eine Erklärung, dass sie gegen ein Kopftuchverbot sind bei Mädchen unter vierzehn Jahren.

Deutschland hat ein orthodoxeres Islamverständnis als die Menschen in der Türkei oder im Iran.

Das Positionspapier ist eine Antwort auf die Aktion "Den Kopf frei haben" von Terres des Femmes. Die 110 Damen und Herren, die das unterschrieben haben, lehren an deutschen und österreichischen Universitäten und Hochschulen. Auch fünfzehn Verbände und Vereine haben sich angeschlossen. Mit welcher Begründung stellen sich die Pädagogen denn gegen ein Kopftuchverbot für Kinder?

Angeblich müsse man die Leute da abholen, wo sie sind. So ein Unsinn! Denn das Kopftuch sexualisiert minderjährige Mädchen! Ich bin richtig empört!

Was wünschen Sie sich also von der deutschen Gesellschaft?

Dass wir diskutieren können. Ohne Tabus. Ich wünsche mir eine wirklich offene, demokratische Gesellschaft. Das einzige, was uns alle am Ende des Tages verbindet, ist der Rechtsstaat. Viele sagen, das Grundgesetz, aber es ist der Rechtsstaat, der uns verbindet. Das ist der Rahmen. Und in diesem Rahmen soll jeder frei leben können. Ob muslimisch, jüdisch, christlich, buddhistisch oder atheistisch.

Nadine Pungs, Lale Akgün und Eva Witten nach der Veranstaltung, Foto: © Saskia Zeller
Nadine Pungs, Lale Akgün und Eva Witten nach der Veranstaltung, Foto: © Saskia Zeller

Lale Akgün, Platz da! Hier kommen die die aufgeklärten Muslime, Alibri-Verlag 2018, 18,00 Euro