Anerkennung der Verdienste um den Evolutionären Humanismus

Ehrendoktor für Michael Schmidt-Salomon

Für seine Arbeiten zum Evolutionären Humanismus und zur Verteidigung der offenen Gesellschaft ist dem Philosophen und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung am vergangenen Montag der Ehrendoktor der TU Liberec (Tschechien) verliehen worden. Die Auszeichnung erfolgte im Rahmen einer feierlichen Zeremonie zum Gedenken an die "Samtene Revolution", die vor  30 Jahren in der Tschechoslowakei stattgefunden hat.

Zusammen mit Michael Schmidt-Salomon wurde die Ehrendoktorwürde auch dem Architekten Professor Miroslav Masák verliehen, der als enger Wegbegleiter Vaclav Havels wesentlich zur Demokratisierung Tschechiens beigetragen hat. In seiner Dankesrede gestand Schmidt-Salomon, dass er sich anfangs gescheut habe, den Ehrendoktortitel anzunehmen, da er im Gegensatz zu Professor Masák "nicht einmal einen bescheidenen Beitrag zu den Umwälzungen des Jahres 1989 geleistet" habe. Er betrachte die Verleihung des Ehrendoktortitels daher nicht als Würdigung seiner Person, sondern als Auszeichnung der philosophischen und gesellschaftspolitischen Konzepte, mit denen er sich in den letzten 20 Jahren beschäftigt habe.

Dass er die Ehrendoktorwürde ausgerechnet in Tschechien, einem "der säkularsten Länder der Welt", erhalte, sei aber wohl kein Zufall, meinte Schmidt-Salomon:  "In Polen oder Ungarn wäre dies wohl nicht möglich gewesen, geschweige denn in der Türkei oder einem anderen islamischen Land." Der hpd dokumentiert nachfolgend die Dankesrede von Michael Schmidt-Salomon im Originalwortlaut.

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Sehr geehrter Dr. Brzezina, sehr geehrter Prof. Masák, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich danke Ihnen herzlich für die große Ehre, die Sie mir heute zuteilwerden lassen. Dass mir eine tschechische Universität anlässlich des 30. Jubiläums der "Samtenen Revolution" einen Ehrendoktortitel verleihen würde, zählte ganz gewiss nicht zu den Ereignissen, mit denen ich in diesem Jahr gerechnet habe. 

Daher habe ich mich zunächst auch ein wenig gescheut, diese ehrenvolle Auszeichnung anzunehmen. Schließlich habe ich (im Gegensatz zu Prof. Masák, der als Wegbegleiter Vaclav Havels die Verleihung dieses Ehrendoktortitels wahrlich verdient hat) nicht einmal einen bescheidenen Beitrag zu den Umwälzungen des Jahres 1989 geleistet. Rektor Brzezina versicherte mir aber, dass es bei der heutigen Veranstaltung nicht nur um eine Würdigung der Ereignisse vor 30 Jahren gehen soll, sondern auch um eine Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung, die wir heute tragen. Und in diesem Zusammenhang seien die Prinzipien der offenen Gesellschaft und des Evolutionären Humanismus, die ich in meinen Büchern herausgearbeitet habe, von besonderer Bedeutung.

Ich betrachte die heutige Verleihung des Ehrendoktortitels daher nicht unbedingt als Würdigung meiner Person, sondern als Auszeichnung der philosophischen und gesellschaftspolitischen Konzepte, mit denen ich mich in den letzten 20 Jahren beschäftigt habe. Ohnehin meine ich, dass wir die Originalität von Einzelpersonen nicht überbewerten sollten. Dies war offenkundig schon Isaac Newton bewusst, der 1676 eine Formulierung verwendete, die seither immer wieder gerne zitiert wird: "Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe." Interessant dabei ist: Selbst diese Abwehr von Originalität durch Newton war wenig originell. Robert Merton, der ein ganzes Buch über die Formulierung "auf der Schulter von Riesen" verfasst hat, konnte aufzeigen, dass sie mindestens 27 mal zuvor von anderen Autoren benutzt wurde, bevor Newton sie in seinen berühmten Brief an Hooke einfügte.

Wir lernen daraus: "Originalität" ist in der Regel bloß Ausdruck mangelnder Literaturkenntnis. Aber wie könnte es auch anders sein? In den letzten Jahrtausenden haben wir Menschen so viel über die Welt nachgedacht, dass sich inzwischen schon die Wiederholungen von Wiederholungen wiederholen. Dennoch hat die Menschheit im Verlauf der kulturellen Evolution unbestritten erstaunliche Fortschritte sowohl in der Wissenschaft, der Technik, der Medizin, den Künsten als auch in der Ethik und Politik erzielt. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Innovationsprozess noch einmal extrem beschleunigt. Deshalb übersehen wir leicht, dass manche wegweisende Ideen schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte aufgetaucht sind – auch wenn sie auf dieser früheren Entwicklungsstufe kaum eine Chance hatten, breite Anerkennung zu finden.

Ein markantes Beispiel dafür ist das Weltbild des altgriechischen Philosophen Epikur, der vor rund 2.300 Jahren in Athen wirkte. Bei Epikur finden wir bereits wesentliche Elemente des modernen Weltbildes, u. a. den atomaren Aufbau der Welt, die evolutionäre Veränderung der Arten oder die Vorstellung eines unendlichen Universums. Der altgriechische Philosoph nahm den Menschen sogar die Angst vor dem Tod, da dieser absolute Empfindungslosigkeit bedeute, sowie vor den Göttern, da diese nicht in die Naturgesetze eingreifen würden. Zudem entwickelte Epikur bereits die Idee des Gesellschaftsvertrags – ausgehend von der Überzeugung, dass die Werte des Zusammenlebens von keiner "höheren Instanz" vorgegeben sind, sondern vielmehr unter allen Beteiligten im gegenseitigen Nutzen ausgehandelt werden müssen.

Bei alledem war Epikur klug genug, zu erkennen, dass seine Ideen unter den Bedingungen einer antiken Sklavenhaltergesellschaft kaum allgemeine Anerkennung finden würden, weshalb er seinen Anhängern riet, im Verborgenen zu leben, um einer möglichen Verfolgung zu entgehen. Spätestens mit der Machtübernahme des Christentums wurde Epikur vollends zu einer Persona non grata, seine Werke wurden fast vollständig vernichtet, der Begriff "Epikureer" avancierte sogar zu einem beliebten Schimpfwort. Es dauerte zwei Jahrtausende, bis Thomas Jefferson, der gleich mehrere Ausgaben des Lehrgedichts "De rerum natura" besaß, die epikureische Formel vom individuellen Streben nach Glück in die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung einbaute. 

Jeffersons Wegbegleiter Thomas Paine sorgte wenig später dafür, dass die Idee der Menschenrechte international bekannt wurde. Und doch dauerte es von da an noch einmal eineinhalb Jahrhunderte, bis die UN-Menschenrechtserklärung verabschiedet wurde. Dass es dazu 1948 überhaupt gekommen ist, verdanken wir in erster Linie übrigens keinem Staatsmann, Philosophen oder gar Theologen, sondern dem Science-Fiction-Autor H.G. Wells, den viele wohl nur als Verfasser berühmter Romane wie "Die Zeitmaschine" oder "Krieg der Welten" kennen. 

1939, etwa zu dem Zeitpunkt, als tschechische Studenten in Prag gegen die Schließung der Hochschulen durch die deutsche Besatzungsmacht demonstrierten, veröffentlichte Wells zwei aufsehenerregende Beiträge in der Londoner Times, in denen er klarstellte, dass das Ziel der Alliierten im Krieg nicht allein in der Zerschlagung der Nazi-Diktatur bestehen sollte, sondern vielmehr in der internationalen Verankerung universeller Menschenrechte. Glücklicherweise gelang es Wells, einflussreiche Zeitgenossen von dieser Idee zu überzeugen, insbesondere den damaligen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und seine Gattin Eleanor, die später auch den Vorsitz der UN-Menschenrechtskommission übernahm.

Die Verabschiedung der UN-Menschenrechtserklärung am 10. Dezember 1948 war zweifellos ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, die bis dahin meist in den beschränkten Kategorien der eigenen Sippe, der eigenen Ethnie, der eigenen Religion oder Nation gedacht hatte. Wir alle kennen heute den Wortlaut des ersten Artikels der UN-Erklärung: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Ein Satz, wie in Stein gemeißelt, und doch ist wohl nur wenigen bewusst, dass dieser prägnante Satz bereits alle zentralen Prinzipien der offenen Gesellschaft enthält, die es heute unbedingt zu verteidigen gilt. Lassen Sie mich dies kurz erläutern:

Das Wort "frei" in Artikel 1 der Erklärung verweist auf das Prinzip der Liberalität. Dieses besagt, dass mündige Bürgerinnen und Bürger tun und lassen dürfen, was immer sie wollen – solange sie nicht die Rechte Dritter verletzen. In einer offenen Gesellschaft ist also nicht die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger begründungsbedürftig, sondern jegliche Einschränkung ihrer Freiheit.

Mit dem Wort "gleich" im ersten Artikel der Menschenrechtserklärung wird ein weiteres fundamentales Prinzip der offenen Gesellschaft angesprochen, nämlich das Prinzip der Egalität. Es verbietet jegliche Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Gleichheit bedeutet hier natürlich nicht "Gleichmacherei" oder gar "Gleichschaltung". Wir Menschen sind gleich vor dem Gesetz, aber eben nicht gleich vor dem Spiegel – und das ist auch gut so, denn gerade in unserer Unterschiedlichkeit liegt eine der wichtigsten Ressourcen unserer Spezies.

Auch das Wort "Würde" kommt nicht ohne Grund im ersten Menschenrechtsartikel vor, denn es verweist auf das nicht minder wichtige Prinzip der Individualität, auf das schon Karl Popper in seinem berühmten Buch über die offene Gesellschaft aufmerksam gemacht hat. Entscheidend dabei ist: Der Staat darf die Menschenwürde nicht über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg definieren. Vielmehr gilt: Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat, die Familie oder eine wie auch immer geartete Religionsgemeinschaft.

Damit verbunden ist ein letztes Prinzip, das zwar bereits im Ideal der Gleichheit enthalten ist, das man aber in Zeiten, in denen die "Internationale der Nationalisten" in so vielen Ländern triumphiert, besonders betonen muss, nämlich das Prinzip der Säkularität. Im Unterschied zur Politik der Herren Trump, Putin, Erdogan, Orban oder Kaczyński, deren Herrschaft nicht zuletzt auf dem gefährlichen Mix von nationalen Chauvinismus und reaktionären religiösen Dogmen gründet, beruht die Kultur der Menschenrechte auf einem universellen, weltanschaulich neutralen Fundament, das verhindert, dass Menschen aufgrund ihrer Glaubensüberzeugungen privilegiert oder diskriminiert werden. 

Mit diesem Prinzip der Säkularität trage ich heute gewissermaßen "Eulen nach Athen", denn Tschechien ist heute eines der säkularsten Länder der Welt. Zum Teil erklärt dies sicherlich auch den besonders liberalen Geist, der hier vorherrscht und der Tschechien so wohltuend etwa vom Nachbarland Polen unterscheidet. Diese tief in der tschechischen Kultur verankerte Liberalität und Humanität fand nicht nur Ausdruck im "Prager Frühling" oder in der "Samtenen Revolution", sondern auch in der tschechischen Kunst und Literatur, nicht zuletzt auch in den großartigen tschechischen Märchenfilmen, die ich als Kind so sehr liebte. Vermutlich ist diese Liberalität auch der Grund dafür, warum ich heute als dezidiert säkular-humanistischer Philosoph ausgerechnet von einer tschechischen Universität den Ehrendoktortitel erhalte. In Polen oder Ungarn wäre dies wohl nicht möglich gewesen, geschweige denn in der Türkei oder einem anderen islamischen Land.

Ich hoffe sehr, dass sich die tschechische Gesellschaft in den kommenden Jahren nicht anstecken lässt von dem brandgefährlichen Trend hin zur identitären Abgrenzung der eigenen Gruppe von "den Anderen", die angeblich der falschen Nation, Ethnie oder Religion angehören. Hier sind meines Erachtens insbesondere die Schulen und Universitäten gefordert. Denn ebenso wie "Originalität" Ausdruck mangelnder Literaturkenntnis ist, sind Nationalismus, Ethnozentrismus und Fundamentalismus Ausdruck fehlender Sachkenntnis. 

Deshalb müssen wir die Früchte der wissenschaftlichen Forschung noch sehr viel stärker als bisher in die Gesellschaft hineintragen. Genau hier liegt nämlich der entscheidende Schlüssel zur Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen wir als Weltgesellschaft stehen: Je besser die Menschen die evolutionäre Perspektive begreifen, die dem wissenschaftlichen Weltbild zugrunde liegt, desto eher werden sie auch erkennen, dass "Völker", "Nationen", "Religionen" nur vorübergehende soziale Konstrukte sind, die eine fundamentale Tatsache des Lebens leider allzu oft verdecken, nämlich, dass uns Menschen untereinander sehr viel mehr verbindet als trennt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.