Klimawandel

Keine verhinderte Kaltzeit. Nirgends.

Dass die Menschheit durch ihre Klimagasemissionen eine Kaltzeit verhindert habe, ist eine These, die seit einigen Wochen von den bekannten deutschen Atheisten Philipp Möller und Michael Schmidt-Salomon öffentlich promotet wird. Schmidt-Salomon wies als Beleg für seine These sogar jüngst einen wissenschaftlichen Artikel vor. Doch ausgerechnet der Autor jenes Artikels widerspricht Schmidt-Salomons These.

Seit der Veröffentlichung von Philipp Möllers Buch "Isch geh Bundestag" im September 2019 wabert eine These durch die humanistische Szene Deutschlands. Sie besagt, dass durch menschliche Kohlendioxid-Emissionen eine Kaltzeit verhindert wurde, die für die Menschheit eine wesentlich größere Katastrophe dargestellt hätte als die aktuell stattfindende Klimaerwärmung – welche bekanntlich tatsächlich auf vom Menschen verursachte Kohlendioxid-Emissionen zurückgeht. Möller hat diese These vom Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, der sie vergangene Woche in einem beim hpd erschienenen Kommentar nochmals öffentlich bekräftigte.

Schmidt-Salomon pirscht sich in diesem Kommentar mit begrifflicher Vorsicht und zahlreichen Konjunktiv-Formulierungen an die Herleitung seiner These heran. Kaum hat er sein Ziel erreicht, sind jedoch die denkerischen Vorsichtsmaßnahmen vergessen: Dass der Mensch eine Kaltzeit verhindert hat, steht für ihn fest. So fest, dass er der Klimastreikbewegung Fridays for Future gönnerhaft den Hinweis gibt, sie möge diesen Fakt doch bitte endlich anerkennen, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Tatsächlich kann der Klimastreikbewegung jedoch nur empfohlen werden, genau das nicht zu tun, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit behalten möchte. Denn Michael Schmidt-Salomons These von der durch den Menschen verhinderten Kaltzeit, ist unter Klimaforschern alles andere als allgemein anerkannt. 

Gehen wir ins Detail: Schmidt-Salomon beruft sich hinsichtlich seiner These der vom Menschen verhinderten Kaltzeit auf eine Untersuchung der Klimaforscher Ganopolski, Winkelmann und Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, deren Ergebnisse im Januar 2016 unter dem Titel "Critical insolation-CO2 relation for diagnosing past and future glacial inception" in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurden. Der vom hpd kontaktierte leitende Wissenschaftler der Untersuchung, Andrey Ganopolski, zeigte sich von Schmidt-Salomons Interpretation seiner Untersuchungsergebnisse höchst überrascht und erklärte, dass es "erstens definitiv KEIN Ergebnis" [Hervorhebung Ganopolski – d. Übers.] seiner Studie sei, dass der Mensch eine kurz bevorstehende Kaltzeit verhindert habe, und dass er zweitens auch nicht der Meinung sei, dass dies der Fall sei.

Doch worum genau geht es eigentlich in der Ganopolski-Untersuchung? Ganopolski und seine Kollegen haben versucht, ein Modell für die Vorhersage des Beginns von Kaltzeiten des Erdklimas, sogenannten Glazialen, zu ermitteln. Der Beginn von Kaltzeiten hängt von verschiedenen Faktoren ab. Unter anderem von Schwankungen der Erdbahn um die Sonne sowie Veränderungen der Erdachse, welche eine verminderte Sonneneinstrahlung in nördlichen Breiten zur Folge haben – die sogenannten Milankovic-Zyklen. Sinkt in nördlichen Breiten die Sonneneinstrahlung im Sommer unter ein bestimmtes Maß, so setzt dort verstärkte Bildung von Eis ein, die mit dem Beginn einer Kaltzeit einhergeht. Aktuell nähert sich die sommerliche Sonneneinstrahlung in nördlichen Breiten ihrem Minimum, doch für den Beginn einer Kaltzeit gibt es keinerlei Anzeichen. Ganopolski und seine Kollegen untersuchten daher die Rolle der Konzentration von Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre in Bezug auf den Beginn einer Kaltzeit. Sie warfen hierfür unter anderem einen Blick auf die Kohlendioxid-Konzentration in der Erdatmosphäre vor Beginn der industriellen Revolution, welche bei relativ hohen 280 ppm (parts per million) lag. Die Berechnungen der Forscher ergaben, dass trotz verminderter Sonneneinstrahlung bei einem durchgängigen Kohlendioxid-Level von 280 ppm die nächste Kaltzeit rund 50.000 Jahre entfernt ist. Selbst ohne die mit Beginn der industriellen Revolution einsetzenden Klimagasemissionen wäre unsere aktuelle Warmzeit (Interglazial), das Holozän, nach den vorliegenden Berechnungen damit relativ lang. Die Forscher überprüften ihre Berechnungen mit einem anderen, hypothetischen Kohlendioxid-Wert von 240 ppm und stellten fest, dass bei einer solchen Konzentration in vorindustrieller Zeit tatsächlich eine Kaltzeit begonnen hätte – allerdings bereits vor Tausenden von Jahren.

Die gravierend unterschiedlichen Ergebnisse des Ganopolski-Modells für 240 ppm und 280 ppm in vorindustrieller Zeit sind der Ausgangspunkt für die Ausführungen von Michael Schmidt-Salomon, der begeistert feststellt, dass wir kurz vor der industriellen Revolution offensichtlich gerade eben an einer Kaltzeit vorbeigeschlittert seien. Ohne dies explizit zu erwähnen, erweckt Schmidt-Salomon den Eindruck, dass es sich bei 240 ppm um einen wie auch immer gearteten Normalwert handle und dass das kurz vor Beginn des Industriezeitalters festgestellte Kohlendioxid-Level von 280 ppm ein unnatürlich erhöhter Wert sei, der einer Erklärung bedürfe. Das ist jedoch nicht der Fall. Berechnungen mit dem Wert 240 ppm haben die Forscher allein deshalb durchgeführt, weil dieser Wert dem Kohlendioxid-Level einer erdgeschichtlichen Zeit entspricht, in der die orbitalen Gegebenheiten der Erde den heutigen am meisten ähnelten. Klimaforscher nennen diese Periode MIS19 und sie liegt ungefähr 800.000 Jahre in der Vergangenheit. Eine Kohlendioxid-Konzentration von 280 ppm ist ferner keine außergewöhnliche Spezialität der vorindustriellen Zeit, sondern, wie es im Nature-Artikel heißt, "ein Level, das auch für viele frühere Interglaziale typisch ist".

Schmidt-Salomon jedoch scheint diese nicht unwesentliche Information übersehen zu haben und liest stattdessen Folgendes aus dem Ganopolski-Text heraus: "Bei der Frage, warum der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre damals um diese zwar marginal erscheinenden, aber höchst bedeutsamen 0,004 Prozentpunkte (40 ppm) höher lag, verwiesen die Forscher auch auf einen möglichen Einfluss des Menschen in der vorindustriellen Zeit, etwa auf die weitflächige Abholzung von Wäldern, welche die Reduzierung des überschüssigen Kohlendioxids im Zuge der Photosynthese verhindert hat." Schmidt-Salomon spricht hier zwar ganz vorsichtig von einem "möglichen Einfluss", doch in den folgenden Absätzen seines Kommentars schwindet diese denkerische Zurückhaltung zusehends zugunsten einer stark ausgeprägten Gewissheit, dass diese These eine unumstößliche Wahrheit darstellt.   

Tatsächlich steht im Ganopolski-Text jedoch lediglich das Folgende: "Ob es natürliche Ursachen hat, dass wir dem Beginn einer Kaltzeit knapp entronnen sind, ist Gegenstand der Diskussion. Es wurde vorgetragen, dass die vorindustrielle Landnutzung wenigstens teilweise zu dem hohen CO2-Level im Holozän beigetragen habe, doch die Höhe dieses Beitrags ist äußerst ungewiss".

Es handelt sich hierbei um die formale Erwähnung der sogenannten Ruddiman-Hypothese. Angesichts des dramatischen Einflusses des Menschen auf das Klima schlugen Forscher Anfang der 2000er Jahre vor, den gegenwärtigen Abschnitt des Holozäns in "Anthropozän" umzubenennen. Als Beginn des Anthropozäns schien ihnen das Industriezeitalter passend. 2003 stellte der US-amerikanische Geologe und Paläoklimatologe William F. Ruddiman den vorgeschlagenen Beginn für das Anthrophozän in Frage und entwickelte die Hypothese, dass der Mensch bereits wesentlich früher Einfluss auf das Klima hatte. Ruddiman vertritt die Auffassung, dass die Menschheit durch Ackerbau- und Viehzucht bereits vor circa 7.000 Jahren begann, für eine Erhöhung der Kohlendioxid- und Methan-Konzentration in der Erdatmosphäre zu sorgen. Dies bewirkte laut Ruddiman bereits vor Beginn der Industrialisierung eine leichte Erwärmung der Erde, welche ausreichte, um den Beginn der nächsten Kaltzeit zu verhindern.

Dass Schmidt-Salomon die Ruddiman-Hypothese übernimmt, indem er sich dabei ausgerechnet auf Ganopolskis Untersuchung beruft, ist bemerkenswert, da Ganopolski und seine Kollegen – wie viele andere Klimaforscher – die Ruddiman-Hypothese nicht für zutreffend halten. Auf Anfrage des hpd erklärte Andrey Ganopolski hierzu: "Wir haben [in unserem Text – d. Übers.] nicht behauptet, dass die relativ hohe CO2-Konzentration vor Beginn der industriellen Revolution von der Menschheit durch vorindustrielle Landnutzung verursacht wurde, da wir nicht der Meinung sind, dass Ruddimans Hypothese zutreffend ist. Wir haben lediglich erwähnt, dass diese Hypothese existiert, sie ist aber keinesfalls allgemein akzeptiert. (…) Sie ist beliebt bei einigen Paläoklimatologen, aber jene, die sich mit Klimamodellen beschäftigen, sind da doch wesentlich skeptischer."

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Ruddimans Hypothese von einem frühen, spürbaren Einfluss des Menschen auf das Klima, sieht sich laut Ganopolski vor allem mit zwei Hauptkritikpunkten konfrontiert:

"Erstens: Ruddiman schließt auf eine 'natürliche' Entwicklung des CO2 während der Interglaziale, indem er den Durchschnitt aller Interglaziale während der vergangenen 800.000 Jahre nimmt. Es ist jedoch bekannt, dass sich die frühen Interglaziale vor MIS11 (vor circa 400.000 Jahren) sehr von den jüngeren unterscheiden. Insbesondere waren sie kälter und hatten ein viel geringeres CO2-Level. Wenn wir allein die letzten fünf jüngeren Interglaziale betrachten, sehen wir, dass vier von ihnen sehr vergleichbare CO2-Level hatten (270–280 ppm). Zweitens: Modellberechnungen [des Klimas – d. Übers.], die bio-geo-chemische Modelle einbeziehen, zeigen, dass vorindustrielle Landnutzung keinen Anstieg von 40 ppm CO2 verursachen kann. Ein möglicher Beitrag [zum CO2-Anstieg in der Atmosphäre – d. Übers.] ist wahrscheinlich also wesentlich geringer."

Hinzu kommt, dass sich im Holozän bereits vor dem von Ruddiman vermuteten Einfluss des Menschen auf das Klima eine Erhöhung der Kohlendioxid-Konzentration in der Erdatmosphäre zeigte. Während die Kohlendioxid-Konzentration bei Beginn des Holozän vor 11.700 Jahren bei 240 ppm lag, lag sie innerhalb der letzten 10.000 Jahre weit über 240 ppm, "während der meisten Zeit sogar über 260 ppm", erklärt Ganopolski.

Es ist also festzuhalten, dass sich Schmidt-Salomon mit seiner angeblich vom Menschen verhinderten Kaltzeit auf eine Hypothese bezieht, die unter Klimaforschern höchst umstritten und keinesfalls allgemein anerkannt ist. Auf seiner naturwissenschaftlich wackeligen Grundthese erbaut Schmidt-Salomon ein prachtvolles Gebäude geisteswissenschaftlicher Schlüsse: Die Tatsache, dass der Eingriff des Menschen in das Klima durch das Abholzen der Wälder die Menschheit vor der großen Katastrophe einer Kaltzeit bewahrt habe, solle doch bitte jeden dazu bringen, über seine aus religiösen Vorstellungen gespeiste Naturromantik zu reflektieren, durch die das Abholzen von Wäldern negativ belegt ist. Vor allem die For Future-Bewegung fordert Schmidt-Salomon auf, "moralisch ab[zu]rüsten" und "den menschlichen Beitrag zum Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre nicht mehr per se als 'klimaschädlich' [zu] verteufeln". Dadurch würde sie an Glaubwürdigkeit gewinnen. Es folgen Ausführungen darüber, dass der Mensch der Gestalter seiner eigenen Welt sei und mit dem heutigen Wissen zukünftig das Klima zu seinem Wohl beinflussen könne – was in späteren Zeiten unter Umständen eben auch eine gezielte Erhöhung des Kohlendioxid notwendig mache, um die angenehme Warmzeit zu erhalten.

Schmidt-Salomons im Ton der Überzeugung vorgetragen Ausführungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf Sand gebaut sind. Wer vom hohen Ross der Rationalität anderen ans Bein pinkelt, sollte vor dem Wasserlassen sicherstellen, dass sein Ross kein Pony ist – weil er sonst selbst nasse Füße kriegt. Genau das ist in diesem Fall geschehen. Die nassen Füße einzugestehen, würde die Glaubwürdigkeit von Michael Schmidt-Salomon deutlich erhöhen.

Auch in einem weiteren Punkt täte Reflexion gut: Sowohl Philipp Möller als auch Michael Schmidt-Salomon werfen der Klimabewegung das Verbreiten von apokalyptischen Vorstellungen vor. Doch in seinem jüngsten Kommentar macht Michael Schmidt-Salomon nichts anderes, indem er die vermeintlich durch den Menschen verhinderte Kaltzeit zu einer weit größeren Katastrophe aufbauscht als die Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels. "Die Menschheit muss ihre Wirtschaftsweise ändern, um die globale Erwärmung zu begrenzen", heißt es in der Einleitung seines Textes. "Wahr ist aber auch, dass der menschliche Einfluss auf das Klima eine nicht minder gefährliche ökologische Katastrophe verhindert", schreibt Schmidt-Salomon weiter und meint damit die Kaltzeit. Zwar müssten wir nun unsere Treibhausgasemissionen in den Griff kriegen, weil aus unserer Warmzeit sonst ein Warmzeitalter werden könne. Doch die menschliche Zivilisation würde, so Schmidt-Salomon, "in einer solchen Warmzeit vermutlich sehr viel eher noch überleben können als in einer glazialen Kaltzeit".

Die Aussage, dass eine Kaltzeit für die Menschheit wesentlich katastrophaler sei als die aktuelle Klimaerwärmung, hält Klimaforscher Andrey Ganopolski für "komplett haltlos". "Der Beginn einer Kaltzeit kommt in der Realität nicht über Nacht, so wie im Film 'The Day After Tomorrow'. Es dauert Tausende von Jahren, bis das Überschreiten von Schwellenwerten bei der Eisbildung globale Auswirkungen hat. Und die Änderungen von Klimacharakteristiken (Temperatur, CO2, Meeresspiegel) während des Beginns einer Kaltzeit gehen viel langsamer vor sich (…) als das, was wir noch in diesem Jahrhundert als Worst-Case-Szenarios der Klimaerwärmung erwarten. Deshalb gibt es nicht den geringsten Grund für die Annahme, dass der 'natürliche' Beginn einer Kaltzeit viel schlimmer sei als 'ein paar Grad mehr' durch die menschengemachte Klimaerwärmung."

Halten wir fest: Dass der Mensch eine Kaltzeit verhindert habe, ist unter Klimaforschern keineswegs Konsens, sondern eine umstrittene Minderheitenmeinung. Dass die Menschheit durch die vermeintliche Verhinderung der Kaltzeit einer größeren Katastrophe entgangen sei als es jene darstellt, die voraussichtlich durch die aktuelle Klimaerwärmung verursacht wird, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Die Anerkennung dieser Hypothesen zur Bedingung für die Glaubwürdigkeit der Klimastreikbewegung zu machen, ist deshalb mehr als absurd. Umso mehr, als dies für die zentrale Forderung der Bewegung nach einer drastischen Reduzierung der aktuellen Kohlendioxid-Emissionen keinerlei Relevanz hätte.  

Inzwischen liegt die Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre übrigens bei über 400 ppm. Tendenz: steigend. Selbst wenn es der Menschheit gelingen sollte, ihre Kohlendioxid-Emissionen und den Temperaturanstieg endlich so weit zu drosseln, dass die schlimmsten Katastrophen vermieden werden können, rechnen Andrey Ganopolski und seine Kollegen dank der menschlichen Klimagasemissionen innerhalb der nächsten 100.000 Jahre nicht mit dem Beginn einer Kaltzeit – zu der es, wie bereits ausgeführt, auch ohne menschlichen Einfluss in den nächsten 50.000 Jahren nicht gekommen wäre. Sollte eine neue Kaltzeit in 100.000 Jahren tatsächlich vor der Tür stehen, dann jedoch, da wäre Michael Schmidt-Salomon völlig Recht zu geben, sollte sich die Menschheit Gedanken darüber machen, ob sie die Kaltzeit durch gezielte Erhöhung der Kohlendioxid-Konzentration verhindern möchte. Falls es die Menschheit dann überhaupt noch gibt. Ob das der Fall ist, hängt entscheidend davon ab, ob wir es in der Gegenwart schaffen, uns auf die Diskussion dringlicher Probleme zu konzentrieren oder ob wir uns lieber weiter unnützen Strohmännern hingeben.

[Das Interview mit Andrey Ganopolski wurde auf Englisch geführt. Übersetzung der Zitate aus dem Interview sowie der Zitate aus dem englischen Nature-Artikel: Daniela Wakonigg.]