Die aktuelle Klimadebatte innerhalb der säkularen Community ist zwar wichtig – wichtiger wäre es jedoch, dass sich alle Beteiligten endlich wieder auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen. Ein Kommentar von Marwin Nemitz.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich Teil der säkularen Szene geworden bin. Ich bin Zuhause ausgezogen, um in Kiel mein Abitur zu machen. 11. Klasse. Irgendwann zwischen 2015 und 2016 bin ich wie üblich – statt Hausaufgaben zu machen oder zu lernen – im Internet gewesen und dort zufällig auf das Video von Philipp Möller bei Disput Berlin gestoßen. Weitere YouTube- und Internetrecherche machte mich auch bekannt mit einem Mann, der mich auf eine ganz andere Art und Weise faszinierte als Philipp. Nämlich Michael Schmidt-Salomon. Auch er hat mich von Anfang an begeistert. Diese Begeisterung trieb mich dann in die Arme der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs). Meiner Oma, die aus unerfindlichen Gründen die gbs für eine Sekte hält, sage ich gern scherzhaft, Michael und Philipp hätten mich radikalisiert. Ich denke, vielen geht es wie mir, dass man zwar weiß, die gbs funktioniert auch ohne die beiden – aber so recht vorstellen will man es sich nicht. Denn das sind schon Persönlichkeiten, die hervorstechen. Womöglich säkulare Propheten?
Nun, rund 4 Jahre später, habe ich zwar noch nicht das Wissen und die Trittfestigkeit in den Thematiken, die ich gerne hätte, aber ich weiß mittlerweile, was ich so alles will. Ich will zum Beispiel, dass das Recht auf einen würdevollen Tod nicht von Kirchenmännern und ihren Politlakaien verhindert wird. Ich will, dass Steuergelder ausschließlich für die Allgemeinheit und nicht für Religionsgemeinschaften eingesetzt werden. Ich will, dass Kinder den Schutz bekommen, den sie verdienen – was auch bedeutet, dass man sie davor schützen muss, dass ihre Genitalien zerschnitten werden. Und ich will einen Planeten und eine Umwelt, in der mein kleines Geschwisterchen, was in sieben Monaten das Licht der Welt erblickt, noch gut leben kann und mir guten Gewissens Neffen und Nichten schenken kann.
Gegen all das zieht ein Bündnis religiöser Fundamentalisten, Rechtspopulisten und Rassisten ins Feld. Und was macht die säkulare Szene? Sie schlägt sich wegen Fridays for Future (FFF) die Köpfe ein. Nicht etwa, weil die FFF-Bewegung wie Konversionstherapeuten, Homöopathen und Prediger Dinge behauptet, die nachweislich jeder Wissenschaftlichkeit entbehren. Nein, wegen der Mär einer neuen Säkularreligion, der angeblichen Instrumentalisierung der armen, armen Kinder, wegen fehlender Lösungskonzepte, wegen Formfehlern und der subjektiven Wahrnehmung einiger weniger weißer Männer. Seid ihr Freak oder was?
Ich kann natürlich nicht für die gesamte Szene sprechen, aber innerhalb der gbs sollte eigentlich allen der Leitsatz "Pluralität ist eine Stärke" ein Begriff sein. Ich, und das sage ich deutlich, bin auf der Seite von Fridays for Future. Wenn jemand nicht auf deren Seite ist, weil er meint, es gebe bessere Wege, sich für den Klimaschutz einzusetzen, akzeptiere ich das. Ich bezweifle zwar stark, dass diese Wege bei der Partei für die oberen zehn Prozent zu finden sind, aber das ist auch nur meine subjektive Ansicht der Reiche-Leute- und Wannabe-Partei FDP. Ich bin weder Klimaforscher noch wirklich bewandert in dem Thema. Aber ich bezweifle, dass es sich beim Klimawandel um eine weltweite Verschwörung der Wissenschaft handelt.
Klimaschutz und Aktivismus sind kein säkularreligiöses Phänomen, sondern richtig und wichtig. Es sind immer Menschen emotional gewesen, wenn sie auf die Straße gegangen sind, und das ist auch gut so. Atomausstieg, FCKW-Verbot, Waldsterben, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Rechte für Homosexuelle. Oft waren es emotionale Menschen in Verbindung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die zusammen etwas erreicht haben. Nie war es Religion, die den Fortschritt brachte.
Wenn man will, kann man natürlich überall religiöse Züge erkennen. Bei LGBTQ-Aktivisten, Feministen, den Autofahrern, die sich von Klimaschutz bedroht fühlen, und bei der Giordano-Bruno-Stiftung. Aber wieso sollte man notwendigen Aktivismus als religiöses Gehabe abtun? Natürlich stehe ich klar zur Aussage Voltaires "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst", möchte also kein Sprechverbot für FFF-Kritik. Aber ich käme niemals auf die Idee, eine Bewegung in ihrer Gesamtheit als religiös abzutun oder ihr religiöse Züge anzudichten, nur weil Einzelne darin auf eine Art und Weise argumentieren, die mir missfällt oder die aus meiner Sicht falsch, unvollständig oder unglaubwürdig ist. Zudem, finde ich, muss Kritik auch immer der Sache gerecht werden. Und sofern man die dringende Notwendigkeit von Klimaschutz anerkennt, sollte man sich überlegen, ob es hilfreich ist, von außen mit dem erhobenem Zeigefinger zu kommen oder ob man sich nicht lieber von innen an minimalen Kurskorrekturen, die sicherlich nötig sind, zu beteiligen.
Es stimmt mich nachdenklich bis enttäuscht, wenn Menschen, die prägend für mein heutiges Weltbild sind, über zuletzt 600.000 Menschen allein in Deutschland sprechen als wären es Spinner, Weltuntergangsverkünder, Schwarzmaler und Übertreiber. Die Aussage, Fridays for Future sei religiös, ist mindestens ebenso an den Haaren herbeigezogen wie die Aussage, die Giordano-Bruno-Stiftung sei religiös. Wir alle sollten uns vielleicht mal wieder ein paar Dinge ins Gedächtnis rufen. Meinungspluralität würde uns insbesondere bei der Klimadebatte gut tun. Wir werden hier nicht auf einen Nenner kommen und sollten uns vielleicht einfach darauf einigen, dass wir uns uneinig sind. Es gibt genug Religionen und Sekten auf der Welt, die eine ernsthafte Bedrohung für Kindeswohl, Gesellschaft und Frieden sind, da müssen wir uns nicht noch Religionen basteln, nur um sie dann als Religion kritisieren zu können – oder um uns mit Verbündeten und Freunden streiten zu müssen, ob es eine (Säkular-)Religion ist.
Dass das Wissen von 13-Jährigen nicht der Weisheit letzter Schluss ist, ist jedem klar. Dass es in der Wissenschaft einige Uneinigkeiten über die Einordnung einzelner Daten gibt, ist auch jedem klar. Aber hilft es uns, hilft es den Kids, hilft es dem Klima, wenn man durch Diskussionen über einzelne Details den Fokus verliert? Denn das Problem Klimawandel will denke ich keiner wirklich abstreiten.
"Schuster, bleib bei deinen Leisten", heißt es doch immer und gerade in der säkularen Szene. Und im Humanismus haben wir genügend, teils Jahrzehnte alte, dringliche Themen und Baustellen, derer Bearbeitung es bedarf – da muss man nicht noch ein weiteres Fass aufmachen. Das einzige, was wir hier tun, ist Ressourcen und Zeit mit einer meines Erachtens überflüssigen Debatte zu verschwenden. Ich für meinen Teil habe mich nicht vor vier Jahren entschieden, Teil der säkularen Szene zu werden, um heute Zuschauer eines Grabenkampfs von Freaks im eigenen Lager zu sein. Das ist mir, ganz offen gesagt, wirklich zu albern, weil ich finde, wir haben andere Sorgen, als uns in der Schlange derer anzustellen, die ums Verrecken Fridays for Future ans Bein pinkeln wollen.
26 Kommentare
Kommentare
Stefan Dewald am Permanenter Link
Da erlaube ich mir doch den Link zu "Pluralität ist eine Stärke" anzugeben: https://www.giordano-bruno-stiftung.de/leitbild/pluralitaet
Werner Kübler am Permanenter Link
Sehr richtig! Mehr kann ich aus praktischer Sicht nicht sagen. Ich stehe sehr oft direkt mit Erwachsenen jeden Alters, Jugendlichen, Gläubigen und Nichtgläubigen in Diskussionen vor Ort.
Herbert Nebel am Permanenter Link
Lieber Marwin Nemitz, vielen Dank für Deinen klugen Kommentar!
Ingrid Schmall am Permanenter Link
Hier will ich gerne zustimmen. Begrenzung des Wachstums scheint mir die wichtigste zu diskutierende und zu lösende Aufgabe der Menschheit zu sein .!!!
Meine Bank schickte mir unlängst eine Investmemtempfehlung zu: Wasser als Ressource - ein Investment, das sich auch für die Umwelt auszahlt
...immer größeren Bedarf an Wasser, diese Ressource ist knapp,...profitieren Sie von einem attraktiven Risiko-Rendite-Profil..
CO2 ist sicher ein Maß für den Raubbau des Menschen an der Natur. Bedrohlich ist CO2 aber erst in hinterer Linie.
Unsere Wasserversorgung auf dem Kapitalmarkt zu finden, das ist eine Bedrohung an vorderster Front.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Frau Schmall, informieren Sie sich bitte einmal über die Klimawirksamkeit von CO2! Als Einstieg empfehle ich: https://de.wikipedia.org/wiki/Kohlenstoffdioxid_in_der_Erdatmosph%C3%A4re
René am Permanenter Link
Nice!
Rudolf Schulte am Permanenter Link
Sehr richtig! Schluss mit dieser unsinnigen Diskussion. Es gibt viele wichtigere Baustellen!
Christian M. am Permanenter Link
In meinen Augen ist das der erste glaubwürdige Versuch, die Diskussion von der "Megaebene" auf die Metaebene zu bringen.
opus am Permanenter Link
Lieber Marwin Nemitz, danke für Deine Vermittlungsbestrebungen; auch das Folgende ist ein Vermittlungsversuch:
Die heftigen Kontroversen über die Klimaproblematik unter den Säkularen( Daniela, Michael, Philipp u.a) sind bzgl. unserer säkularen Ziele nicht zielführend. Immerhin beweisen sie, dass
kritische Hinterfragungen und nicht Dogmatisierung akzeptiert werden.
Bzgl. langfristiger Vorhersagungen meinte Popper:
1. "Der Ablauf der menschlichen Geschichte wird stark beeinflusst durch das Anwachsen des menschlichen Wissens."
2. "Wir können mit rational-wissenschaftlichen Methoden das zukünftige Anwachsen unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vorhersagen."
3. "Daher können wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen."
4. "Das bedeutet, daß wir die Möglichkeit einer theoretischen Geschichtswissenschaft verneinen müssen, also die Möglichkeit einer historischen Sozialwissenschaft, die der theoretischen Physik oder der Astronomie des Sonnensystems entsprechen würde. Eine wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Entwicklung als Grundlage historischer Prognosen ist unmöglich."
5. "Das Hauptziel der historizistischen Methoden [...] ist daher falsch gewählt und damit ist der Historizismus widerlegt."
6. Im Zusammenhang mit der Klimadiskussion
Wenn nun sehr viele Klimatologen eine kritische Entwicklung befürchten, dann kann und sollte
man im Sinne von Popper gegensteuern, aber mit „piecemeal social engineering“ und nicht
mit quasireligiöser Aufgeregtheit.
Roland Weber am Permanenter Link
Ein schöner Kommentar. Schlusfolgerung: So ziemlich jeden Standpunkt kann man auch als "religiös" diffamieren. (Vielleicht fragt man mal Schalker oder Dortmunder; Wurstverkäufer Höness oder Veganer etc.
Manfred H. am Permanenter Link
"Ich kann beim Thema Klimawandel diese Streitereien und Klugscheissereien erst ernst nehmen, wenn auch mal überhaupt das Wort "Überbevölkerung" in den Debatten auftaucht."
Da sollten Sie aber schon genauer erklären, worin denn Ihrer Meinung nach der kausale Zusammenhang zwischen Klimawandel und Überbevölkerung besteht.
Sie können aber natürlich ohne weiteres behaupten, dass Deutschland in Relation zum CO2-Ausstoß pro Person völlig überbevölkert ist. Da würde ich Ihnen glatt zustimmen.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Noch nie war es auch nur eine einzige Religion die Fortschritt brachte, dieser Satz hat sich mir am tiefsten eingeprägt aus diesem Artikel der insgesamt stimmig ist und auch meine Meinung widerspiegelt.
pi am Permanenter Link
Ich gebe dir Recht. Im Kern fordern FFF die Einhaltung des Pariser Abkommens, daran ist nichts radikal oder sektiererisch. Etwas Pathos und Empörung – geschenkt!
pi am Permanenter Link
Noch mal was philosophisches:
Nachdem ich hier die doch z.T. recht sachlichem Kommentare aus den vorangegangenen Artikeln gelesen habe, fällt mir auf, dass es doch um mehr geht. Michael Schmidt-Salomon kritisiert in seinen Beiträgen den christlichen Gedanken der „Bewahrung der Schöpfung“, der implizit in der Umweltbewegung eine Rolle spielt. Der Mensch wird quasi als Störenfried im Paradies empfunden, es ginge aber darum, ihn durch sorgfältige Steuerung zum „Nützling“ zu machen. Dieser „Cradle-to-cradle"-Gedanke eines durch-und-durch nachhaltigen Wirtschaftens ist verlockend. Technologie muss nur smart genug sein, dann klappt es auch mit dem Klima. Ich halte das nicht für falsch, in diese Richtung muss es gehen.
Zwei Aspekte drohen hier aber vergessen zu werden:
1. Die Einbeziehung von hoher Nachhaltigkeit in die Wirtschaft wird mit einem Kaufkraft-Verlust einhergehen, der etwa mit dem eines Demeter-Produkts zu Aldi vergleichbar ist, teilweise auch mal höher. Die Frage, ob die Menschen das schlucken werden, macht vielen Ökologen Sorge. Denn wie leicht fällt es Populisten zu sagen: „Papperlapapp – Nachhaltigkeit. Wenn ihr Eliten hier das Benzin verteuert, dann brennt hier die Hütte!“ Diese Haltung ist völlig irrational, aber leider sehr wirksam.
2. Der „Glaube“ an die Überlegenheit überkommener Lebensweisen ist nicht ohne Grund. Wer im großen Maßstab Geo-Engineering betreiben will (und wir sind drauf und dran das zu tun) ist entweder sehr verzweifelt oder er/sie hält sich so langsam für allwissend. Kann sein, dass wir die wichtigsten Grundzüge des Klimasystems auf der Erde so langsam verstehen. Geforscht wird ja zu recht viel daran. Aber bei 10, 12 Mrd. Menschen und dem derzeitigen Tempo der Entwicklung wird es langsam kippelig. Einmal den Knopf zu weit in die falsche Richtung gedreht, einen Zusammenhang nicht erkannt oder falsch kommuniziert, und schon geht die Sache nach hinten los.
Mein Lieblingsbeispiel ist Maos Spatzenkampagne. Man hatte ja damals in China noch keinen Schimmer vom Wert eines intakten Ökosystems und wenn man ehrlich ist, sind wir heute auch nur ein paar Schritte weiter. Wenn Leute davon träumen, den Mars zu kultivieren muss ich immer grinsen: Man schafft es ja noch nicht mal auf der Erde, ein paar Monate lang ein funktionierendes Ökosystem künstlich nachzubauen. Wenn wir wissen, wie wenig wir wissen, so ist das auch schon was.
Ich halte daher den Gedanken eines bescheidenen Menschen, eines Wachstums in Qualität statt Quantität – was im Effekt nichts anderes heißen wird als ein Verzicht – für richtig. Auch wenn dieser Gedanke einer Naturmystik, einer idealisierten Schöpfung oder eines protestantischen Schuldgefühls in manchen Aspekten nahekommen mag. Es ist richtig, auf Irrationalität hinzuweisen, es ist aber auch richtig, religiösen Spinnern oder Amish-People darin Recht zu geben worin sie Recht haben: Einer gewissen Demut gegenüber der Natur gegenüber, wie wir sie vorfinden.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Hallo pi, nur zu Punkt 1 Ihrer Einlassungen möchte ich bemerken, dass dieser Punkt leicht zu regulieren währe wenn die Menschen weltweit für ihre Arbeit gerecht bezahlt würden, d.h. in
Thomas Spickmann am Permanenter Link
Die traditionelle Ӧkologie sieht den Menschen als Schädling, also als Sünder, der grundsätzlich einen negativen Fußabdruck hinterlässt, den es zu verringern gilt.
Außerdem ist es wahr, dass es Klimawandel immer gegeben hat und das man es in die gegenwärtige Diskussion einbeziehen sollte. Deswegen halte ich den Ansatz von Schmidt-Salomon für richtig. Vielleicht sollte man noch einige Jahrhunderte weiter zurückblicken, z.B. vor 1000 Jahren, als es ziemlich warm gewesen sein soll, und das ins richtige Verhältnis zu heute setzen. Deswegen bin ich aber noch kein Klimaskeptiker wie Alexander Gauland.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Die der 'traditionellen' (was ist das?) Ӧkologie unterstellte Gleichsetzung Schädling = Sünder scheint mir im besten Fall konstruiert, im schlechtesten Fall religionitisch bedingt.
David Z am Permanenter Link
"Ich, und das sage ich deutlich, bin auf der Seite von Fridays for Future."
Bist du Freak oder was? Dieses Statement verdeutlicht in aller Klarheit das Problem: Schwarz- und Weiss-Denken, wir gegen die, richtig oder falsch, kurzum: Polarisierung. Lieber Marwin, so erzielt man keine Einigkeit, man begibt sich damit noch nicht einmal in die Nähe der Vorteile, die Pluralität bieten kann: Mit Gesprächsbereitschaft unvoreingenommen Kritik aufzunehmen, andere Gedanken zu reflektieren, Kursrichtungen zu korrigeren oder nachzujustieren.
Pluralität ist nicht per se von Vorteil. Wenn mit ihr nicht richtig umgegangen wird, bietet sie auch den Hang zur destruktiven Entzweiung und Polarisierung. Und genau das erleben wir grade. Dein Text ist leider Teil davon.
"Aber wieso sollte man notwendigen Aktivismus als religiöses Gehabe abtun?"
Weil darin ähnliche Wirkmuster erkennbar und damit ähnliche Gefahren verbunden sind.
Eckhardt Fritsche am Permanenter Link
Also heißt das, dass ich ohne einen eigenen klar erkennbaren Standpunkt in eine Diskussion gehen soll? Was gibt es dann zu diskutieren?
David Z am Permanenter Link
Nein, das heisst es nicht. Es heisst, dass der eigene Standpunkt nicht absolut gesetzt und die Bereitschaft gezeigt werden sollte, die eigene wie auch andere Positionen zu reflektieren.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich habe jetzt einen langen Moment überlegt, ob ich hier einen Kommentar hinterlassen sollte. Schließlich ist der Bericht ebenfalls ein Kommentar.
Denn worum geht es? Um Recht zu behalten? Und dann? Wir könnten die "Klimadebatte" völlig entgiften, wenn man das Wort "Klima" einfach mal wegließe. Denn darum geht es nicht. Damit würde man auch jeglicher Diskussion entgehen, ob der Wandel nun menschengemacht ist oder natürliche Ursachen hat oder eine Mischung aus beidem.
Das Hauptaugenmerk würde ich auf den überfälligen Umbau der Technik und die internationale Zusammenarbeit legen. Vor allem die Energieproduktion muss einen neuen Schub bekommen, der schon vor über 100 Jahren angedacht wurde, den aber (bisher) die Öl-Lobby (und eine Zeitlang die Atomlobby) verhindert hat.
In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder radikale Umbauten der Energiegewinnung: Menschenkraft -> Tierkraft -> Wasser- und Windkraft -> Feuer (Dampfkraft) -> fossile Brennstoffe -> Atom -> Solar-, Wind-, Gezeitenkraft, Geothermie.
Letztere sind zwar weniger umweltschädlich, jedoch in Europa wenig effizient, bzw. von der dicht lebenden Bevölkerung in Teilen unerwünscht. Also muss ein neuer (alter) Energieträger her, der in einem natürlichen Kreislauf in riesigen Mengen auf der Erde existiert: Wasserstoff. Dieser könnte in gewaltigen "Solarfarmen" in Nordafrika produziert werden und mittels Pipelines ins südliche Afrika und nach Europa exportiert werden. Auch in Asien gibt es große Gebiete, in denen derartige Anlagen gebaut werden könnten, wie das z. B. in Marokko schon geschieht.
Voraussetzung ist ein neuer Geist in der internationalen Zusammenarbeit. Die Menschheit muss endlich lernen, ernsthaft zusammenzuarbeiten, weil dann jeder mehr hat. Gegenseitige staatliche Erpressungen (wie sie gerade wieder in Mode kommen - dank der autokratischen Herrscher, zu denen tragischerweise inzwischen auch der amerikanische Präsident zählt) nutzen niemandem, sondern bremsen den für alle lukrativen Umbau der weltweiten Energiewirtschaft.
Gleiches gilt für die Mobilität, die auf Basis von Wasserstoff (ob als Brennstoffzelle oder Direkteinspritzung) absolut umweltunschädlich wäre (Wasserdampf als Abgas). Containerschiffe, die weltweit zehnmal mehr schädliche Abgase produzieren als der weltweite Autoverkehr, müssten sogar vordringlich auf diese Technik umgerüstet werden. Die ersten Kreuzfahrtschiffe werden schon auf Wasserstoff umgerüstet und in spätestens zehn Jahren soll das erste Wasserstoff-Flugzeug für ca. 80 Passagiere serienreif sein.
Hier könnte die Politik durch mutigere Regeln und Lenkungen beschleunigend eingreifen. Und dann - ohne das Wort "Klima" in den Mund zu nehmen (unter Vermeidung all der teilweise grotesken Diskussionen) - wäre die Welt auf einmal sauberer, ein lebenswerterer Ort, der Teilhabe für Länder ermöglicht, die sich jetzt noch abgehängt fühlen. Dann kriegen wir auch das Problem der dramatischen Überbevölkerung in den Griff - und hoffentlich auch das Problem der heute völlig sinnlos gewordenen Kriege. Früher mag es um die Vergrößerung von Reichen gegangen sein, aber eine Menschheit, die sich als Menschheit begreift und die Erde als ihre Heimat betrachtet, muss keine Kriege mehr führen.
Daher würde ich die Diskussion gerne auf den überfälligen Umbau der Energiewirtschaft lenken und ansonsten weiterhin für eine Säkularisierung aller Gesellschaften eintreten, da Ideologien jeglicher Art einer inneren Vereinigung der Menschheit im Wege stehen. Ob das klassische Religionen sind, politische Dualismen oder abgrenzender Nationalismus spielt keine Rolle. Diese vormodernen Konzepte haben ausgedient, waren sicher wichtig in der Zivilisationsevolution, doch heute sollten wir es besser können. Nein, nicht sollten - wir müssen es besser können.
Ich bin optimistisch, dass wir es besser können. Da mag sogar die Angstmache in der aktuellen Klimadebatte helfen, doch die Denkfabriken müssen sich der Panik enthalten und an der Sache orientiert die nächste Technikrevolution befördern. Und - wie gesagt - weiterhin tapfer und geeint gegen Ideologien jeglicher Couleur ankämpfen...
Hans Trutnau am Permanenter Link
Bernd,
Zu den Solarfarmen in Afrika oder Asien (Saudi-Arabien?) nur so viel: Das entsprechende Projekt DESERTEC ist tot. Schon lange - und das aus guten Gründen.
1. Warum sollte man von einer Abhängigkeit (Öl) in die nächste stolpern, zumal in denselben politisch unsicheren Staaten?
2. Eine DE-zentrale Solarenergienutzung ist auch in unseren Breiten möglich (ggb. senkrechtem Sonneneinfall ist selbst bei einem Einfallswinkel von nur 30 ° die Energieeinstrahlung lediglich halbiert). [Der leider viel zu früh verstorbene (und immer wieder als 'Spinner' bezeichnete!) Hermann Scheer hat das bis zum Erbrechen gepredigt.]
Je nach Quelle sind Werte zu finden, dass die auf der Erde eingestrahlte Sonnenenergie 5.000 bis 15.000 mal so hoch ist wie der globale Energieverbrauch; sagen wir, gemittelt 10.000 x. Das ist schon fast nicht mehr vorstellbar. Ich vergleiche das immer anschaulich so: Im globalen Durchschnitt entsprach vor wenigen Jahren der Energieverbrauch pro Kopf einem Äquivalent von 4 t CO2 - anschaulich als 4 cm ausgedrückt. Wir bekommen aber 10.000 x mehr Energie; das entspricht 40.000 cm = 400m. 4 cm im Vergleich zur Höhe der eingestürzten WTC-Türme; das macht klar, dass wir praktisch in Energie *schwimmen*! Sie muss 'nur' eingefangen und gespeichert werden. Letzteres geht probat durch Konvertierung in synthetisches Erdgas ("power-to-gas"), das im vorhandenen Gasnetz problemloser als Wasserstoff gespeichert werden kann und wieder verstromt werden kann; selbst das dabei entstehende CO2 kann wieder re-methanisiert werden. - All diese Zwischenschritte kosten zwar Effizienz, sind aber bei den besagten 10.000 x mehr absolut irrelevant.
Zu Wasserstoff mit Direkteinspritzung (also in herkömmlichen Verbrennern):
Da entstehen nicht nur Wasserdampf als Abgas, sondern wie bei jeder Verbrennung mit Luft auch Stickstoffoxide. Also Brennstoffzelle. Optimiert und global; und mit Akku als Zwischenspeicher. Das geht! Wird aber gewichtsmäßig richtig schwer und richtig teuer. Und dauert insgesamt inkl. Kosten optimistisch 1-2 Generationen.
Nun hat UvdLeyen gerade ihren etwas lückenhaften 'Green Deal' vorgestellt (immerhin ein guter Anfang!) und dafür € 1.000.000.000.000 (1 Billion) veranschlagt, was m.E. um den Faktor > 10 zu niedrig ist.
Und wir müssen dazu die ernsthafte internationale Zusammenarbeit (nicht nur mit Ungarn, Tschechien und Polen...) wuppen. - Bei wieviel Klimaflüchtlingen?
Und dann noch die nächsten 2 Generationen überstehen.
Wie ich darüber denke, kommentiere ich hier und jetzt lieber nicht weiter. Zumindest denke ich, dass dies *nicht* die 3. bequeme Unwahrheit von 'John' Schellnhuber (2013) ist...
Hans Trutnau am Permanenter Link
EDIT, Bernd:
Hans Trutnau am Permanenter Link
EDIT EDIT, Bernd:
Zumindest als Mischung kann Wasserstoff (H2) auch im vorhandenen Gasnetz gespeichert werden - wie das ehemalige (synthetische) Stadtgas, das zu ca. 50 % aus H2 bestand.
Da gibt's noch technische "Herausforderungen, die jedoch grundsätzlich beherrschbar und lösbar sind". Quelle: https://www.dvgw.de/medien/dvgw/gas/infrastruktur/ptg_werkstofffragen_1409.pdf
Hans Trutnau am Permanenter Link
Oh, lieber Marvin, es tut saugut, so etwas Reflektiertes von einem jungen Mitmenschen (der zudem noch Mitglied in der gbs-'Sekte' ist...) zu lesen!
Wenn kapitalistisch lobbyierte und religionitisch infizierte ('seid-fruchtbar-und-mehret-euch!'-) Parteien nur gebetsmühlenhaft 'Wachstum!' predigen*, aber es nicht gebacken kriegen, auf wissenschaftliche (neudeutsch 'evidenzbasierte') Klima-Erkenntnisse entsprechend mit Verzicht (und zwar für mind. 1-2 Generationen, selbst noch nicht einmal für nur 1 Legislaturperiode!) zu reagieren, dann ist der durch Tausende Wissenschaftler unterstützte Widerstand durch Aktivismus selbstverständlich *Pflicht*.
"Die Grenzen des Wachstums" (vom hier schon erwähnten Club of Rome) sind seit fast 50 Jahren bekannt, werden aber nicht nur von der Politik (fast) geflissentlich ignoriert; und die Klimadaten liegen seit 40 Jahren auf dem Tisch, aber passiert ist (mit meinem Zusatz: fast) nichts, beklagt der renommierte Klimatologe Mojib Latif, der offenbar schon resigniert hat ("Ich bin gescheitert.") Das ist alles nicht gerade ermutigend.
Aber lass dich nicht entmutigen, Marvin; du hast ja viele Mitstreiter. Und lass dich nur nicht durch den hier bis jetzt einzigen negativen Kommentar ins Bockshorn jagen!
Die gegenwärtigen klimatischen _unprecedented events_ benötigen _unprecedented actions_ - und das gelingt nur geeint, nicht gespalten; das ist in der Tat beispiellos.
*Die Parteien können aber zugegebenermaßen auch gar nicht anders; sonst würden sie nicht gewählt werden. Denn der entsprechend konditionierte, typische Wahlbürger (den und dessen Motive müsste ich bei Gelegenheit einmal näher ausführen...) *will* Wachstum.
Ein wirkliches Dilemma - da liegt m.E. der Hase im Klima-Pfeffer!
Anmerkungen:
*abc* heißt bei mir zur Hervorhebung gefettet.
_xyz_ heißt kursiv ( dito ).
"ist" zitiert.
Die hpd-Kommentarfunktion kann das (noch) nicht.
Und (...) ist in Hoffnung oder zur Erläuterung eingefügt.
Guido W. Reichert am Permanenter Link
Irgendwie ist das Ganze doch ein vertrautes Problem: Eine konservative Haltung ist viel einfacher zu artikulieren, als eine progressive (neutraler verändernde) Haltung, die - weil die Zukunft halt unsicher ist und noc
Irgendwo hier lese ich gar von einem Befehl: “Diskussion einstellen und sich Wichtigerem zuwenden!” Das ist ein typischer Fehlschluss, der meint, es sei gut, wenn wir schon abstimmen, was überhaupt diskutiert werden darf. Wer entscheidet also, was “wirklich wichtig ist”?
Ich selbst oute mich als (politischer) Pirat, weil mir die Grundidee eine liquid democracy gefällt und ich eigentlich die bedingungslose Diskussion aller Themen (hart in der Sache, aber weich im gegenseitigen, respektvollen Umgang miteinander) für enorm wichtig halte. Echte, totale Beteiligung aller (hoffentlich) mündigen Bürger.
Doch, gerade die Piratenpartei zeigt auch, dass das im politischen System unserer Gesellschaft - und vielleicht im Diskurs generell? - nicht funktioniert; möglicherweise nicht funktionieren kann. Die Bündelung und Pointierung von Meinung ist notwendig für politische Herrschaft und Aufstieg eine Bewegung - nicht die Meinungsvielfalt. Das ist m.E. ein eklatanter Systemfehler, den paradoxerweise wohl nur diejenigen ändern können, die Teil des alten System geworden sind (siehe die Grünen bspw.).
In unserem System ist alles auf Repräsentation ausgelegt auf “Lichtgestalten”, wo wir dann bei den “religiösen Zügen” sind. So wird Meinungsvielfalt stets in zig Ebenen (Kleingruppen -> Vereine -> Parteien -> Parteifunktionäre -> Fraktionen...) gefilter, bis nur noch Schützengräben um Positionen (und menschliche Eitelkeiten) übriggeblieben sind.
Ist Anarchie im positivsten Sinne eines Noam Chomsky und breiter rationaler Diskurs (liquid democracy) gar nicht mögllich im bestehenden System?
Grundsätzlich bin ich spätestens seit Walter Kaufmanns ‘beyond Guilt and Justice” mit seinen herrlichen 10 Rezepten zur Vermeidung wichtiger Selbstentscheidung (decidophobia) skeptisch, wenn es um Bewegungen jeder Art ist (selbst wenn es die gbs oder die Piraten sind ;-)) - aber vermutlich wird es wohl ohne nicht gehen.
Meiner Meinung nach benötigen wir umfassende, bedingungslose, aufrichtige Diskussion aller Themen. Allerdings - und hier sind die digitalen Tools noch nicht so weit in der Masse - muss dieser Dialog zu nachvollziehbaren, transparenten Ergebnissen führen können bzw. zumindest müssen alle Argumente und Belege nachvollzogen werden können, um dann informiert abstimmen zu können.
So lange dies nicht geschieht, haben Greta, MSS, oder der Papst stets das Problem, Ikonen einer immer noch irgendwie tief-religiösen Menschheit zu sein, die sich nach Erlösern, Fürsprechern und Autoritäten sehnt.