Bericht einer Lehrerin aus dem Homeoffice

Alleinerziehend und nicht systemrelevant

Die Corona-Krise ist für viele Menschen eine enorme Belastung. Vor allem Eltern haben es schwer, die ihren Job von zu Hause aus erledigen müssen, während sie gleichzeitig noch ihre Kinder ganztägig zu versorgen haben, da die Kitas geschlossen sind. Besonders hart trifft es Lehrer, die zusätzlich mit mangelnder technischer Ausstattung auf allen Seiten zu kämpfen haben, während sie die Gesellschaft nicht zu den ehrfürchtig bewunderten "systemrelevanten Berufen" zählt und es auch mit dem entgegengebrachten Wohlwollen hapert. Ein Erfahrungsbericht einer Lehrerin, die gerne ein paar Dinge klarstellen möchte.

"Weitermachen wie bisher – bitte nicht!" Das ist die Botschaft, die in einem ZEIT-Artikel zum Thema Homeschooling in den Medien verbreitet wird. Richtet sie sich an die Regierung, die seit Jahren versäumt hat, den Missständen an Schulen im Bereich Digitalisierung entgegenzuwirken? Oder behandelt man endlich das Problem, dass die Schüler, die aus finanziell schlechter gestellten Familien kommen und jetzt durchs Raster fallen, irgendwie aufgefangen werden?  Dass man nun endlich die Zeit nutzen könnte, die heruntergekommenen Schulen zu renovieren und aufzurüsten, jetzt, wo endlich Raum und Zeit dafür ist, statt sie leer stehen zu lassen?

Aber nein, es ist natürlich ein anderer Schuldiger, den man jetzt offen anklagt: Der Lehrer. Sie wissen schon – der faule Sack, der morgens recht hat und nachmittags frei, und immer nur Ferien. Das darf man heute zwar nicht mehr ganz so zufrieden in den gesellschaftlichen Raum reinrufen wie zuvor, aber dass es viele im Stillen immer noch denken, zeigt sich dann doch wieder, wenn ein Artikel wie "Homeschooling – Ruf mich an!" bei der ZEIT veröffentlicht wird.

"Der Homeschool-Lehrer bleibt für viele Eltern deutlich unter ihren ohnehin nicht sehr hohen Erwartungen", verkündet da Judith Luig ihren Lesern. Diese "nicht sehr hohen Erwartungen" werden dann im Folgenden aufgeschlüsselt: "Aber etwas mehr Einsatz als 'Danke für deine Aufgabe, kontrolliere sie doch selbst, mir ist das zu viel' sollte doch möglich sein."

Dass Lehrer auch Menschen sind mit Familien in der Krise, und nicht Maschinen, das wird dann gerne vergessen.

Ihre nicht sehr hohen Erwartungen sind also, dass nicht nur für jede Klasse Material für die Woche hochgeladen wird (welches im Vorfeld so überarbeitet werden muss, dass es auch eigenverantwortlich bearbeitet werden kann, man also vieles zeitintensiv mit zusätzlichen Anleitungen versehen muss) und man das dann am Ende der Woche einsammelt, sondern am besten noch für den Schüler kontrolliert und ihm die Lösungen dann mit persönlicher Botschaft durchgibt. Das sind die "nicht hohen" Erwartungen. Da fragt man sich schon, ob sich die Autorin ein einziges Mal hingesetzt und das rechnerisch überschlagen hat.

Ich darf es Ihnen mal vorrechnen: Alleine die E-Mail zu öffnen, zu schauen, ob der Anhang lesbar ist und vollständig, zu antworten: "Vielen Dank fürs Einreichen und liebe Grüße", das Kreuz in der Liste für "Eingereicht" zu machen, kostet dann doch mehrere Minuten pro Schüler. Rechnen wir mal 25 Schüler pro Klasse. Wenn Sie als Nebenfachlehrer Vollzeit arbeiten, dann haben Sie eventuell bis zu zwölf verschiedene Klassen zu unterrichten. Da kommen Sie auf 25 Zeitstunden die Woche (25 Schüler mal 12 Klassen mal 5 Minuten). Und hier ist noch nicht mal die Zeit eingerechnet, die ich brauche, um herauszufinden, wer hinter der E-Mail-Adresse "Crazygirl666" steckt oder welche meiner fünf Leonies, die ich unterrichte, diese E-Mail "von Leonie" verfasst hat.

Jetzt befindet aber Frau Luig, dass das deutlich hinter ihren Erwartungen zurückfällt. Dass die Kinder ihre Fehler selbst korrigieren sollen (was pädagogisch sehr viel sinnvoller ist, als fertige Lösungen durchzulesen), findet sie anmaßend, und hätte gerne die Einzelkorrektur des Lehrers, am liebsten noch mit personalisiertem Kommentar zum Schüler.  Rechnen wir also: Für Datei öffnen, Fehler raussuchen und in die E-Mail schreiben und rückmelden 15 Minuten pro Schüler (wahrscheinlich dauert es deutlich länger). Damit werden also aus 5 Minuten pro Schüler nun 15 Minuten pro Schüler, was in unserer Rechnung von oben nun 75 Zeitstunden pro Woche macht. Die soll ich natürlich zu meinem normalen Arbeitspensum obendrauf leisten. Damit hätte ich dann zumindest die "nicht sehr hohen Erwartungen", die an mich gestellt werden, erfüllt.

Lehrer können keine Kurzarbeit anmelden

Aber zufrieden ist man immer noch nicht. Am besten sollte ich morgens meine Schüler per Zoom-Videokonferenz in den Tag einstimmen. Sie meinen also den Morgen, an dem ich kurz vor fünf aufstehe, damit ich, während meine drei Kinder noch schlafen, noch die letzten Wochenpläne fertiggestellt und auf die Moodle-Lernplattform hochgeladen bekomme? Und dann soll ich eine Videokonferenz mit den privilegierten Schülern, die die Möglichkeiten haben (an dieser Stelle bitte wieder die Schüler aus sozial benachteiligten Schichten vergessen, denen das nicht möglich ist) in meiner dreckigen, vernachlässigten Wohnung führen, während im Hintergrund mein Kind brüllt: "Mama, ich bin fertig mit Kaka!!"?

Seit Schließung der Schulen und Kitas, alleinerziehend mit Kindern und nicht systemrelevant, habe ich in der Regel nicht mehr als fünf Stunden pro Nacht geschlafen, anders ist dieses Pensum nicht zu schaffen. Als Lehrer kann ich keine Kurzarbeit anmelden, von mir wird die volle Leistung auch im Homeoffice erwartet.

Und ich habe Glück, dass ich zu der noch "jüngeren" Generation der Lehrer gehöre, die schon Erfahrung mit digitalen Plattformen im Vorfeld hatte. Das ist leider, bei der Vernachlässigung der Digitalisierung der Schulen, bei vielen Kollegen nicht der Fall. Gerade die älteren Generationen, die viel haptisch und mit Büchern arbeiten, werden jetzt erst mal viel Zeit brauchen, sich in neue Systeme einzuarbeiten. Und dann müssen diese Systeme funktionieren, was auch nicht immer der Fall ist, weil die Server des Landes den plötzlichen Hochbetrieb nicht bedienen konnten und in der ersten Homeschoolingwoche die offizielle Lernplattform erst mal ausfiel und man dann auf E-Mail-Verteiler oder Schulcloud umsteigen musste, um die Aufgaben überhaupt zu den Schülern zu bekommen. Auch dazu findet Frau Luig ein Urteil: "Haben sie an gemeinsamen Strategien gearbeitet, wie es in den nächsten Wochen weitergehen soll, damit die Schülerinnen nicht über fünf verschiedene Kanäle zu Hause unterrichtet werden müssen?" Das sollen die Lehrer nämlich auch extra machen, bitte noch so nebenbei.

Zwischendurch fällt dann aber doch auf: "Manche Lehrer haben immer noch nicht verstanden, dass es in den allermeisten Familien einfach keine Drucker gibt." Was leider nicht auffällt, ist, dass es noch viel mehr Familien gibt, die nicht mal einen Rechner besitzen. Oder gescheites WLAN. Die werden hier aber wieder vergessen, weil Justins Familie nicht rechtschutzversichert ist und sie gerade ihr Überleben sichern müssen, während Thorben-Leanders Papa wütende E-Mails an Schulleitungen schreibt: "Die Fachlehrerin in Englisch hat am dritten Tag der Schulschließung noch keine fertigen Wochenpläne mit individualisierten Anleitungen hochgeladen und sollte, wenn sie das nicht hinbekommt, durch eine Vertretungslehrerin ersetzt werden!"

Nachsicht und Verständnis statt Empörung und Anklage

Für diese Schüler schmerzt mein Herz, sie werden mal wieder vergessen. Sie haben keine empörten Empörer, die in ZEIT-Artikeln überzogene Missstände anprangern. Sie sind mal wieder alleingelassen von der Gesellschaft, die mit Fingerzeigen statt Solidarität beschäftigt zu sein scheint. Und ich würde gerne an sie denken, für die vergessenen Kinder Möglichkeiten finden, aber leider bleibt mir, dank Thorben-Leanders Vater im Elternbeirat, nicht die Zeit dafür. Mir bleibt eigentlich keine Zeit für gar nichts, denn ich muss morgens um fünf an den Rechner, um das übermächtige Pensum zu schaffen. Denn auch wenn ich weiß, dass meine Schulleitung hinter mir steht – eine weitere E-Mail von Thorben-Leanders Vater möchte ich nicht erhalten. Ich träume davon, wie schön es wäre, wieder in der Schule zu arbeiten. Wie erleichternd und arbeitsarm im Vergleich.

Illustration: © Nadia Menze

Aber von außen sieht man nur, was noch alles gemacht werden sollte und vom Lehrer so nebenher erwartet wird: "Es ist also ein wunderbarer Moment für die Lehrerinnen und Lehrer, Eigenverantwortlichkeit zu entwickeln." Und zusätzlich zu den 75 Stunden extra, bitte in den "Ferien" noch neue Konzepte zum Homeschooling entwickeln! Alles so nebenbei, das kennt man ja von den Lehrern, so läuft an der Schule ja auch Digitalisierung und Datenschutz. Das macht der Lehrer so mit links, in der Freizeit. Dass Lehrer auch Menschen sind mit Familien in der Krise, und nicht Maschinen, das wird dann gerne vergessen.

Irgendwo in dem ZEIT-Artikel findet sich auch der Satz: "Da ist auch eine neue Wertschätzung gegenüber den Lehrerinnen." Tatsächlich? Wo? Bei mir ist sie noch nicht angekommen. Wer bei mir ankommt, sind die Nachbarn, die an der Türe klingeln und sich beschweren, dass ihr Urlaubsfeeling durch meine im Garten spielenden Kinder getrübt wird. Sie bräuchten auch mal ihre Ruhe. Da fehlen einem dann die Worte.

"Weitermachen wie bisher – bitte nicht!" Genau, Frau Luig. Bitte nicht. Bitte Nachsicht und Verständnis statt Empörung und Anklage. Empathie ist heutzutage wichtiger als je zuvor. Ich leide mit den überforderten Eltern mit, finde die Situation auch schrecklich und wünschte mir, es ginge anders. Natürlich gibt es, wie in jedem Beruf, auch unter den Lehrern schwarze Schafe, die die Situation ausnutzen und nicht das leisten, was man erwarten könnte. Aber glauben Sie mir: Über diese Kollegen ärgern wir engagierten Lehrer uns mindestens genauso wie Sie. Denn was die vernachlässigen, muss dann der Rest des Kollegiums auffangen und zusätzlich leisten.

Daher: Können wir nicht bitte zusammenhalten, statt aufeinander loszugehen? Wir versuchen momentan alle unser Bestes.

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