Sitte & Anstand: Geschichten aus dem Prenzlauer Berg

Die Klagemauer

Die Corona-Klagemauer vom Prenzlauer Berg ist zuplakatiert worden. Vielleicht waren ihre Botschaften zu unerträglich, zu hart. Es standen dort, schön groß aufplakatiert, handgeschrieben, Nachrichten aus der gefühlten Isolationsfolter.

"Papi wird im Homeoffice immer so aggressiv", "Meine Familie hat nur einen Computer", "Wegen Corona kann ich meine Therapie nicht fortsetzen", derlei erschütternde Mitteilungen erreichten jeden, der die schabbige Fußgängerbrücke über den S-Bahn-Ring von der Kopenhagener Straße her betrat. Wer diese Plakate geklebt hatte, stand da nicht. Auch nicht, warum sie alle in derselben Schrift geschrieben waren. Aber ihre Botschaft war doch unverkennbar:

Opfer!

Wir sind Opfer. Es geht uns richtig schlecht.

Okay, es mag irgendwo weit jenseits von Prenzlauer Berg auch Menschen geben, die an diesem furchtbaren Einsperr-Virus vielleicht sogar gestorben sind, es mag Ärztinnen und Pfleger geben, die wegen Arbeitsüberlastung und Angst am Rande des Zusammenbruchs stehen, es mag – hört man immer mal wieder – sogar auch Menschen da draußen in der Welt geben, die schon lange vor Corona so ihre Probleme hatten: Krieg, Hunger, Folter, all dieses ekelhafte Zeug. Aber die können ja, wenn sie wollen, auch ein paar Plakate irgendwo hinkleben, vielleicht jetzt nicht genau hier, an dieser schönen Stelle an dieser hübschen Brücke, wo wirklich jeder es sieht, der sich im Café auf der Dänenstraße, wo man sonst immer supernett sitzen konnte, seinen persönlichen To Go holen will. Aber sollen wir schweigen mit all unserem Leid, nur weil wir nicht das Privileg haben, aus einem Bürgerkriegsland zu kommen?

Nun ist der Aufschrei also überplakatiert worden. Mit einer Blumenwiese. Nicht mal Werbung. Einfach nur Blumen und Gras, einfach so. Nun ja. Für die vielen Prenzlbergkinder, die in diesen schweren Lockdownzeiten täglich auf dem Laufrad vorbeirollern, sind die Blumen und das Gras sicher viel besser zu verkraften, diese armen zarten Seelen.

Mit diesem Artikel beginnt eine neue Kolumne von Klaus Ungerer über das Leben nicht nur im Prenzlauer Berg.

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