Polizeigewalt in den USA

"Qualified Immunity": Wenn der Griff zur Waffe keine Konsequenzen hat

"Qualified Immunity" – Diesen Begriff liest man seit dem Tod George Floyds immer häufiger in US-amerikanischen Zeitungen. Manche beteuern, dies sei das Fundament einer funktionierenden Polizeistruktur. Manch andere behaupten, es sei ein Freifahrtschein zur Menschenjagd. Werfen wir einen Blick auf diesen Rechtsgegenstand, seine Geschichte und die aktuelle Datenlage.

Am 25. Mai dieses Jahres kniete der Polizist Derek Chauvin geschlagene acht Minuten auf dem Hals eines am Boden fixierten Verdächtigen. Drei umstehende Beamte beobachteten, wie das Leben aus dem Festgenommenen wich. George Floyd starb, und hätte nicht eine mutige 17-Jährige die Videoaufnahmen des Vorfalls veröffentlicht, wir wüssten wahrscheinlich nicht einmal davon.

Breonna Taylor, Tamir Rice, Eric Garner: Unter dem Hashtag SayTheirNames findet man zahllose Menschen, die ihr Leben durch die US-amerikanische Polizei verloren haben. Manche durch Kugeln, manche durch Pfefferspray. Erschreckend viele durch ein Knie auf dem Hals. Über 5.000 Menschen starben auf diese Weise seit dem 1. Januar 2015. Zum Vergleich: Durch Polizeikugeln starben in Deutschland zwischen 2015 und 2019 60 Menschen.

Man muss sich fragen, warum die Verbreitung solcher Aufnahmen in sozialen Medien nicht in einem vorsichtigeren Vorgehen der Polizei mündet. Eine mögliche Antwort: Weil es selten Konsequenzen zu befürchten gibt, Kamera hin oder her. Grund hierfür ist die "Qualified Immunity" genannte Eigenheit des US-amerikanischen Justizsystems.

Das Konzept der "Qualified Immunity" (zu Deutsch: "qualifizierte Immunität") führte der US-Supreme Court im Jahr 1967 ein, um Polizeibeamte vor Schadensersatzansprüchen zu schützen. Ohne Immunität bestünde das Risiko, dass die Polizei durch eine Welle an haltlosen Klagen handlungsunfähig würde. Der Supreme Court drückte sich laut The Yale Law Journal wie folgt aus:

"Polizeibeamte dürfen nicht gezwungen sein, sich zwischen einer Anzeige wegen Befehlsverweigerung, wenn sie eine gut begründete Festnahme verweigern, und einer Anzeige wegen Körperverletzung, wenn sie die Festnahme durchführen, entscheiden zu müssen."

Im Jahr 1986 stellten die Verfassungsrichter*innen klar, dass das Konzept der "Qualified Immunity" all jene Beamte schütze, die nicht "offensichtlich inkompetent" seien oder "willentlich das Gesetz brechen". Im Jahr 2001 legte der Supreme Court dann ein verbindliches Vorgehen zur Gewährung qualifizierter Immunität fest:

Zunächst muss eine Verletzung des vierten Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten festgestellt werden. Dieser schützt die Bürger vor unverhältnismäßiger Gewaltanwendung bei einer Festnahme, Personenkontrolle oder in Polizeigewahrsam. Wenn eine Grundrechtsverletzung festgestellt wurde, hat das Gericht die Frage zu klären, ob gegen "eindeutig etabliertes Recht" (Original: "clearly established law") verstoßen wurde. In der Praxis bedeutet dies, dass geprüft wird, ob bereits jemand wegen des exakt gleichen Vorgehens verurteilt wurde. Ist dies nicht der Fall, geht der angeklagte Polizeibeamte straffrei aus.

Diese Vorgehensweise treibt bisweilen seltsame Blüten: 2019 sprach ein Gericht einem Polizeibeamten, der einen Hund auf eine sitzende Person losgelassen hatte, qualifizierte Immunität zu. Der Geschädigte zitierte einen Fall, bei dem ein Hund auf eine liegende Person losgelassen wurde, das Gericht jedoch erkannte keine hinreichende Vergleichbarkeit.

Vor elf Jahren stufte der Supreme Court das 2001 festgelegte Vorgehen dann zur Empfehlung herab. Dies bedeutet, dass Gerichte seitdem nicht mehr verpflichtet sind, zu klären, ob Grundrechte und die Verfassung verletzt wurden – sondern lediglich, ob gegen bereits "eindeutig etabliertes Recht" verstoßen wurde. Anwälte von Opfern sprechen von einer "Endlosschleife" in der Gesetzgebung, da keine neuen Präzedenzfälle mehr geschaffen würden, die in zukünftigen Gerichtsverhandlungen als "clearly established law" dienen können.

Eine im Mai 2020 von Reuters veröffentlichte Studie kommt nach Auswertung von über 500 Fällen von Polizeigewalt zwischen 2005 und 2019 zu dem Ergebnis, dass der US-Supreme-Court immer häufiger Entscheidungen rangniederer Gerichte, die Polizeibeamte wegen der Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt verurteilt hatten, widerruft. Der gegenteilige Fall, eine Widerrufung von gewährter qualifizierter Immunität, findet sich nur selten in den Daten. Dieser Kritik schließt sich auch Sonia Sotomayor an. Die Verfassungsrichterin moniert die "einseitige Herangehensweise", die ihr zufolge zu einem "vollkommenen Schild für die Bediensteten der Exekutive" geworden ist.

Zahlreiche Petitionen sind seit dem Tod George Floyds und dem Wiederaufleben der BlackLivesMatter-Proteste beim Supreme Court und im Weißen Haus eingegangen, darunter einige von Prominenten, Sportler*innen und Künstler*innen. Am 15. Juni jedoch lehnte der Supreme Court eine neuerliche Prüfung des Qualified-Immunity-Prinzips ab.

Die von Reuters wie auch von Joanna Schwartz im The Yale Law Journal festgestellte Tendenz des Supreme Court, immer häufiger zum Schutz von Polizeibeamten einzugreifen, muss als kritisch betrachtet werden. Von Staatsdiener*innen der Exekutive ist ein Höchstmaß an Integrität, Weitsicht und Verfassungstreue zu fordern, wie sonst sollten sie deeskalierend wirken können, wie sonst soll das Volk das Vertrauen in diese Instanzen behalten, denen es das Gewaltmonopol anvertraut hat? Diese Fragen hat der Supreme Court in seiner Erklärung leider nicht beantwortet.

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