"Macht Glaube glücklich?" Diese Kardinalsfrage stellte Mona Vetsch ins Zentrum ihrer 75-minütigen Fernseh-Reportage auf SRF1 vergangene Woche. Für ihr ambitioniertes Projekt suchte die Moderatorin mehrere Schauplätze auf. Hugo Stamm zieht sein Fazit: Eher nicht.
Eine aufschlussreiche Station war die Grotte Maria Lourdes in Zürich-Seebach. Richtig: Im reformierten Zürich gibt es eine Pilgerstätte. Erste Erkenntnis: Es ist erstaunlich, wer sich dort alles religiöse Erbauung oder Erweckung erhofft.
In der Grotte berichtet eine Schweizerin von ihrem Erweckungserlebnis. Es sei "eine Wäsche aus Licht und Liebe" gewesen. Sie habe eine "Sehnsucht nach Liebe zum himmlischen Vater" gehabt. Es sei "eine Autobahn zu Jesus Christus, eine Autobahn zum himmlischen Vater. Es geht einfach viel schneller". Man denkt als Zuschauer an Autosuggestion, Selbstindoktrination. Und an eine mögliche Wäsche des Gehirns.
Es gibt in der Grotte außerdem die Euphorischen und Überschwänglichen. Unter ihnen auch Muslime, Hindus und Buddhisten, die Trost, Halt und Erlösung suchen. Vielleicht müsste die Seelsorgerin der Grotte auch Therapeutin sein.
Täglich Botschaften von Maria
In der Reportage tritt auch der Walliser Adelbert Imboden auf, der Pilgerreisen zum Wallfahrtsort Medjugorje in Bosnien-Herzegowina durchführt. Dort erscheint seit vielen Jahren täglich Maria einer Seherin und übermittelt der braven Frau angeblich authentische Botschaften aus dem Himmel, die den Pilgern übersetzt werden.
Das erinnert in fataler Weise an das unsägliche Channeling von esoterischen Meistern, die behaupten, auf medialem Weg Botschaften von den göttlichen Instanzen zu empfangen.
Adelbert Imboden wirkt mit seiner dünnen Stimme und dem verschüchterten Gesichtsausdruck nicht wie jemand, der im Glauben glücklich geworden ist und deshalb viel Freude und Lebenskraft gewonnen hat. Es scheint vielmehr, dass er in den Glauben geflüchtet ist.
Imboden erzählt Vetsch offenherzig von seiner Erweckung: "Ohne Glaube könnte ich nicht mehr sein. (…) Glaube macht glücklich, nicht aber das Wissen. Dies ist das Problem der heutigen Zeit, weil man meint, alles diskutieren und zerreden zu müssen. Wenn ich alles hinterfrage, komme ich nie zu einem tiefen Glauben."
Glauben als Therapieersatz
Dann ist da noch ein munterer junger Katholik, der mit psychischen Belastungen kämpft und die innere Ruhe nicht findet. Die Kamera begleitet ihn auf seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Er hofft, bei diesem religiösen Ritual zu sich zu finden. Auch hier: Die Suche nach dem Glauben als Therapieersatz.
Und was sagt der Glücksforscher Mathias Binswanger? Er bestätigt, dass laut Untersuchungen und Umfragen der Glaube glücklich machen kann. Gleichzeitig relativiert er: "Glaube ist nicht gleich Glaube. Glaube kann sich positiv, aber auch schlimm auswirken für Menschen. Es kann zu einem Herrschaftsinstrument werden."
Zum Schluss setzt Mona Vetsch einen Kontrapunkt. Sie interviewt Ella de Groot, die reformierte Pfarrerin von Gümligen. "Ich habe einen starken Glauben, aber nicht an einen personalen Gott im Himmel. Wir müssen aufhören zu glauben, dass es Wahrheiten gibt. Ich bin nicht eine Autoritätsperson, die sagt, so ist es. Ich glaube ans Leben, und das macht glücklich. Ich glaube, dass das Leben einen Sinn hat."
Keine gottfreie Zone
Fazit: Umfragen mögen ergeben, dass Glauben glücklich macht. Dass also gläubige Menschen glücklicher sind als ungläubige. Doch die Gläubigen, die im Film mit Mona Vetsch Zeugnis von ihrem Glauben ablegten, wirkten fast durchweg melancholisch bis depressiv. Oder sie zelebrierten ihr Glück derart euphorisch, dass man als Zuschauer den Eindruck erhielt, sie müssten ihre Zweifel übertönen.
Ich misstraue den Umfragen zu Glück und Glauben aber auch grundsätzlich. Denn wer einen tiefen Glauben pflegt, fühlt sich von Gott und Jesus geführt, getragen und beschützt. Er glaubt an ein Leben nach dem Tod, ein Leben in totalem Glück im Himmel. Also ist er ein Kind Gottes und muss per se der glücklichste Mensch auf Erden sein. Das muss er auch nach außen demonstrieren. Ob er wirklich restlos glücklich ist oder einfach nur Ängste und Zweifel verdrängt, ist eine andere Frage.
Ich behaupte sogar, dass das Glück, das sich auf einen tiefen Glauben stützt, bei vielen Gläubigen eine Illusion ist. Ein strenger Glaube grenzt nämlich die geistige Freiheit und die Selbstbestimmung erheblich ein. Er beinhaltet, dass Gott und Jesus die Gläubigen dauernd überwachen. Sie kontrollieren unsere Taten und sogar unsere Gedanken. Es gibt keine gottfreie Zone.
Die göttlichen Anforderungen an ein möglichst sündenfreies Leben sind übermenschlich. Gläubige fühlen sich oft schuldig und unwürdig. Sie haben auch Angst, einer Versuchung zu erliegen und von Gott fallengelassen zu werden. Denn für Strenggläubige sind der Satan und sein Höllenrevier keine Metapher, sondern schiere Realität.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.
11 Kommentare
Kommentare
Arndt Bröder am Permanenter Link
Das "tatsächlich" im Titel lässt vermuten, dass in diesem Artikel eine differenzierte Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Evidenz stattfindet, die solche Ergebnisse nahelegt.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Der Glaube an einen realen Gott ist vergleichbar mit den Glauben, dass es kein Corvid 19
gibt. Dies zeigt nur die Angst vor der Wahrheit, dass es keinen Gott gibt und dass Corona
gehen Hand in Hand, wie ich in Gesprächen mit Gläubigen und Pandemie-leugnern erfahren habe.
Enrice am Permanenter Link
Ob es sich nicht vielmehr so verhält, dass jemand, der unglücklich ist, sich ein wenig Glück (ich nenne es eher Trost oder Hoffnung) via Glauben holen kann, dass aber jemand, der ohnehin schon glücklich ist, den Glau
Roland Fakler am Permanenter Link
Glaube macht vordergründig so glücklich wie jedes Rauschmittel und hat dieselben Nebenwirkungen wie jedes Rauschmittel: Es vernebelt die Wirklichkeit und macht letztlich unfähig in der realen Welt zu leben.
Tom Brandenburg am Permanenter Link
@ Roland Fakler
Hier passt gut ein Zitat von Meister Heine:
In dunklen Zeiten wurden die Völker am besten durch die Religion geleitet, wie in stockfinstrer Nacht ein Blinder unser bester Wegweiser ist; er kennt dann die Wege und Stege besser als ein Sehender. Es ist aber töricht, sobald es Tag ist, noch immer die alten Blinden als Wegweiser zu gebrauchen.
Heinrich Heine
(1797 - 1856), Christian Johann Heinrich Heine (Harry Heine), deutscher Dichter und Romancier, ein Hauptvertreter des Jungen Deutschland, Begründer des modernen Feuilletons
arnulf am Permanenter Link
. Er beinhaltet, dass Gott und Jesus die Gläubigen dauernd überwachen. Sie kontrollieren unsere Taten und sogar unsere Gedanken. Es gibt keine gottfreie Zone.
Die göttlichen Anforderungen an ein möglichst sündenfreies Leben sind übermenschlich. Gläubige fühlen sich oft schuldig und unwürdig. Sie haben auch Angst, einer Versuchung zu erliegen und von Gott fallengelassen zu werden. Denn für Strenggläubige sind der Satan und sein Höllenrevier keine Metapher, sondern schiere Realität "- diese Zusammenfassung meint den Glaubensinhalt nur eines einzelnen (kathol.) Gottesmodells.
Geglaubt werden kann aber auch an ein anderes Modell, einem salutogenetischen, optimistischen und mit humanistischen Werten operierenden Modell von "Gott".
Wer es schafft(!) daran zu glauben, hat wohl die Chance "glücklicher" zu leben.
Ulrich Körner am Permanenter Link
Wenn einer mit normaler Intelligenz in einem hoch entwickelten Land, mit Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, lebt und immer noch an einen Gott glaubt, dann weist das auf ein Defizit hin: Gestörter Zugang zur R
Han Leushuis am Permanenter Link
Von eine Humanistische Pressedienst kann mann nur antichristlichen artikeln erwartern, und so ist es auch mit dieses artikel. Medjugorje wird genannt.
Paul München am Permanenter Link
Dann klären Sie uns doch bitte auf, wie man sich zu verhalten hat, damit es keine weiteren Infektionen durch Corona gibt.
Warum Gott Corona zulässt, vermutlich aus dem selben Grund, warum er Blinddarmentzündungen zulässt, an denen früher die Menschen qualvoll gestorben sind. Und jetzt beobachtet Gott vermutlich die Wissenschaftler bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen Corona, und wenn er dann mal gut aufgelegt ist, gibt er einem Wissenschaftler einen entscheidenden Tipp zur Lösung, nachdem viele Menschen gestorben sind, jaja seine unergründlichen Wege ...
Paul München am Permanenter Link
Ist Maria eigentlich jemals von der göttlichen Dreifaltigkeit gefragt worden, ob sie diesen anstrengenden Job überhaupt machen möchte?
Bin mal gespannt, ob zu meiner gestrigen Frage noch eine Reaktion kommt, vermutlich nicht.
Rainer Kümpel am Permanenter Link
Wer in der Lage ist, die humanistischen Aspekte von Religionen vom Religiösen und verherrlichenden Gottesbegriffen zu trennen, konzentriert sich auf Menschen. Damit braucht man keinen Gott, um glücklich zu sein.
Auch wenn der Satz "Religion ist Opium fürs Volk" durch Zwangsherrschaften diskreditiert wurde, wird seine Richtigkeit fortwährend unter Beweis gestellt.