"Das unzufriedene Volk"

Welchen politischen Einfluss hatten und haben die Ostdeutschen vom Ende der DDR bis zu den heutigen rechtspopulistischen Protesten? Dieser Frage geht Soziologe Prof. Dr. Detlef Pollack in einer neuen Studie nach.

In der Debatte um den Beitrag der ostdeutschen Bevölkerung zur friedlichen Revolution von 1989 und zur Gestaltung des wiedervereinigten Deutschland seit 1990 hat der Soziologe Prof. Dr. Detlef Pollack eine neue Studie vorgelegt. Darin untersucht er anhand von empirischem Material Stimmungslagen und Meinungsäußerungen der ostdeutschen Bevölkerung in den vergangenen 30 Jahren und deren Einfluss auf die Politik von den Demonstrationen im Herbst 1989 in Städten wie Leipzig, Plauen und Dresden über den Mauerfall und den Wiedervereinigungsprozess bis zu heutigen rechtspopulistischen Protestkundgebungen. "Auch wenn sie sich heute häufig als Opfer stilisieren: Die Ostdeutschen haben sich von der friedlichen Revolution bis heute als politisch einflussreicher Akteur erwiesen", schreibt der Soziologe vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) in seinem Buch "Das unzufriedene Volk. Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute", das in Kürze im transcript-Verlag erscheint.

Der Wissenschaftler zeigt in fünf mikrohistorischen Fallstudien für die Städte Plauen, Arnstadt, Dresden, Berlin und Leipzig detailgenau auf, wie es ab September 1989 zu Demonstrationen in ostdeutschen Städten kam. Sein Ergebnis: "Die Massenproteste gingen überall von der Bevölkerung und nicht von den oppositionellen Gruppen aus: In Plauen kamen die Protestaufrufe von isoliert handelnden Einzelpersonen, in Dresden von den Ausreisewilligen, in Leipzig von der Bevölkerung, die auf den Nikolaikirchhof drängte." Auch für die Zeit von der Öffnung der Mauer bis zur Wiedervereinigung seien, so der Autor, die entscheidenden Impulse aus der Bevölkerung gekommen, die die Wirtschafts- und Währungsunion noch vor der staatlichen Vereinigung mit der Bundesrepublik erzwungen habe.

Heute melde sich die ostdeutsche Bevölkerung "nach Jahren des Rückzugs ins Private, kraftraubenden Prozessen der Umstellung auf die westlichen Lebensverhältnisse und entbehrungsreichen Anstrengungen zur Sicherung der materiellen und beruflichen Existenz" zurück, indem sie zu beachtlichen Anteilen die rechtspopulistische Partei AfD unterstütze, führt der Soziologe aus. Mit ihrem Wahlverhalten schockiere sie die politische Elite des Westens und ziehe die öffentliche Aufmerksamkeit aus Politik und Medien auf sich.

"Mit Datenanalysen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2018 lässt sich zeigen, dass das Gefühl der Benachteiligung, das Ostdeutsche äußern, nicht auf persönliche ökonomische Not zurückzuführen ist. Vielmehr haben Erfahrungen der Nichtanerkennung, Gefühle der Unterlegenheit und Formen der Selbststigmatisierung in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung eine ressentimentgeladene Affektlage entstehen lassen, die in bestimmten Milieus einen fruchtbaren Boden gefunden hat." Umfragen zeigten, dass sich die Mehrheit der Ostdeutschen längst in die bundesrepublikanische Demokratie eingefädelt habe. Durch Pegida-Demonstrationen und die Wahl der AfD – 2019 bei den ostdeutschen Landtagswahlen wählten zwischen 23 und 28 Prozent die AfD – verstehe es jedoch eine Minderheit der Ostdeutschen, den Diskurs der Unterprivilegierung in die Öffentlichkeit zu tragen und sich zum Anwalt aller Ostdeutschen zu machen.

"Wir sind das Volk" – In Diktatur und Demokratie

Zur Debatte von Historikern und Soziologen über die Ursachen der Revolution 1989 führt der in Weimar geborene Soziologe in seinem Buch aus: "Die Fluchtwelle aus der DDR im Sommer und Herbst 1989 war der entscheidende Faktor, der zur Radikalisierung der vorhandenen Missstimmung in der Bevölkerung der DDR führte." Zwar habe es bereits in den 1980er Jahren eine wachsende Unzufriedenheit mit der politischen und wirtschaftlichen Lage in der DDR gegeben, wie sich durch nicht veröffentlichte Befragungen etwa des Zentralinstituts für Jugendforschung der DDR belegen lasse; doch habe diese nicht zu Protesten geführt. "Vielmehr lebten die Bürgerinnen und Bürger der DDR in unterschiedlichen, meist nur lose miteinander verbunden Netzwerken und hatten kaum verlässliche Informationen über die Gesamtgesellschaft. Es war die Fluchtbewegung, die die zuvor getrennten Kommunikationsräume verband", so Pollack. "Die Massenauswanderung veränderte das 'framing', die Rahmung, der Situation." Die vielen individuellen Entscheidungen, die DDR zu verlassen, seien so zu einem kommunikativen Ereignis geworden. "An die Stelle fragmentierter Wirklichkeitskonstruktionen trat ein einheitlicher Interpretationsrahmen: 'Die da oben sind am Ende'."

Damals wie heute hätten die Demonstranten "Wir sind das Volk" gerufen, so Pollack. "Schon 1989 ging der Ruf in mancher Hinsicht über das hinaus, was sich demokratisch rechtfertigen lässt. Aber damals bedeutete er die Zurückweisung einer anmaßenden kleinen politischen Clique von SED-Privilegierten." In der Demokratie läuft der Ruf nach Einschätzung des Forschers auf eine "gefährliche Selbstanmaßung und Verleugnung der Demokratie" hinaus. "Unsere liberale Demokratie hält anders als die DDR-Diktatur Verfahren bereit, um Volkes Willen in politische Entscheidungen umzusetzen." (sca/vvm)

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