Rezension

Selbstverbrennung – ist das zu schroff?

Das hier besprochene Buch ist bereits vor fünf Jahren erschienen, hat aber nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Der Autor, Hans Joachim Schellnhuber, ist ausgewiesener Experte in Sachen Klima-(folgen-)Forschung, ist er doch der Gründungsdirektor des angesehenen Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (kurz: PIK). Hans Trutnau gibt einen durchaus nicht unkritischen Überblick zu einem lesenswerten Werk.

Vorweg

Die 17 Prozent der Ein-Sterne-Bewertungen (Stand: 8. Oktober 2020) bei einem großen Onlinebuchhändler sollten nicht irritieren. Sie disqualifizieren sich schon dadurch, dass manche Bewertende freimütig zugeben, das Buch nicht oder nur teilweise gelesen zu haben. Der Rest ist schlicht oberflächlich oder gar persönlich herabwürdigend. Da hielte man sich besser an die 61 Prozent Fünf-Sterne-Besprechungen.

Das Buchcover zeigt übrigens Atlas, der den brennenden Planeten Erde (er-)trägt. Auch das wird mitunter moniert. Symbolisch hat es aber Aussagekraft.

Ein Vortrag des Autors zu derselben Thematik ist sehens- und hörenswert, stellt aber ihn in den Vordergrund und zeigt die erläuternden Bilder leider nur abgeschnitten am Rand. Mithin ersetzt dieser Vortrag nicht die Lektüre des Buches, sondern ist lediglich ein Einstieg. Einen Kommentar zu den meisten Kommentaren unter dem Video erspare ich mir hier zudem.

Das Buch ist des Autors "Lebenswerk" und "Vermächtnis" an die Menschheit – kurz, sein Magnum Opus.

Inhaltliches

Also anthropogener Klimawandel – dargestellt an Jahrzehnten entsprechender Forschung auf knapp 800 Seiten. Da muss man sich erst einmal durcharbeiten – aber es lohnt sich!

Das Buch ist in (fast) jeder Hinsicht eine absolute Fundgrube, nicht zuletzt durch den umfangreichen Quellennachweis und auch, weil der Autor das Geschehen immer wieder in einen größeren (prä-)historischen Zusammenhang stellt (das ist in der Tat "Systemintuition", S. 622 ff.); einschließlich diverser Anekdoten, die das Lesevergnügen steigern.

Das Buch ist in gut 30 Kapitel von im Schnitt knapp 30 Seiten gegliedert. Dies ließe sich (inklusive Quellenverfolgung) mit einem Kapitel pro Tag in einem Monat schaffen. Der Rezensent hat mit diversen Unterbrechungen länger gebraucht …

Statt einer Auflistung und Kurzbeschreibung der einzelnen Kapitel (was diese Rezension auf jeden Fall sprengen und womöglich auch das Lesevergnügen der Leserschaft schmälern würde) hier nur eine Hervorhebung wesentlich erscheinender Abschnitte.

Gleich in Kapitel sechs wird "Der Faktor Mensch" (S. 66 ff.) mit seinen CO2-Emissionen im jährlichen Gigatonnen-Maßstab abgehandelt – einschließlich "Keeling"-Kurve" und "Hockeyschläger-Krieg" – mit einer Vielzahl an Quellenverweisen. Vermutlich werden bereits hier viele Klimawandel-Leugner aufhören zu lesen.

Im Kapitel darauf ("Stühlerücken auf der Titanic", S. 94 ff.) wird, wie noch mehrfach, der Betrieb auf Klimagipfeln (Conference of the Parties, COP) beleuchtet – etwas ermüdend, aber auch erhellend, was dort (und vor allem wie) abgeht.

In der "Ultrakurzgeschichte der Um-Welt" (Kapitel 14, S. 278 ff.) wird ein Abriss der Geschichte unseres Planeten gegeben, der zeigt, wie sich immer wieder auch die Klima-Gegebenheiten dramatisch verändert haben, aber nie so abrupt wie in den letzten wenigen Jahrzehnten.

Herausragend ist das Kapitel 20 ("Zwei Grad Celsius", S. 446 ff.), wo das Zwei-Grad-Ziel (und dessen Entstehung) erläutert wird, einschließlich der hier reproduzierten Abbildung 60, womit der Autor in der Tat "Weltgeschichte" (S. 446) geschrieben hat:

Abb. 60 aus dem Buch (ohne Seitenzahl), worin das 2-Grad-Ziel erläutert wird, das wir tunlichst nicht überschreiten sollten. Foto Hans Trutnau
Abb. 60 aus dem Buch (ohne Seitenzahl), worin das Zwei-Grad-Ziel erläutert wird, das wir tunlichst nicht überschreiten sollten. Foto: Hans Trutnau

In den Kapiteln 22 (S. 505 ff.) und 23 (S. 525 ff.) rechnet Schellnhuber radikal mit den "Blendern der Seher" und den "Betäubern der (Zu-)Hörer" ab. Klimawandelforschung sei Alarmismus von Angstmachern (= die Seher), auf die man tunlichst nicht hören solle? "Da fasst man sich an den Kopf, doch davon lässt der Schmerz leider nicht nach" (S. 543). Diese Abschnitte sind verständlicherweise auch von sehr persönlichen negativen Erfahrungen des Autors geprägt.

Mit am wichtigsten fordert das Kapitel 27 ("Die Neuerfindung der Moderne", S. 608 ff.) einen "Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" und nennt unter den "Sieben Kardinalinnovationen" berechtigt an erster Stelle die "Integration erneuerbarer Energiequellen" – einschließlich der Stromkonversion in Wasserstoff beziehungsweise Erdgas und dessen Speicherung im vorhandenen (!) Gasnetz, um den "fossil-nuklearen Expansionskurs" zu überwinden.

Wir müssen selbst Verantwortung übernehmen, als Teil einer globalen sozialen Bewegung!

Hier und da klingt es, als hätte der Autor resigniert und nicht mehr viel Hoffnung. Aber aus Kapitel 28 ("Klimaschutz als Weltbürgerbewegung", S. 642 ff.) sei hier mit Nachdruck folgende abschließende Stelle von S. 667 zitiert:

"Vielleicht hat das Thema [Klimawandel, d. Verf.] aber inzwischen an anderen Orten eine zentrale Bedeutung erlangt und sich dadurch mit gesellschaftlicher Sprengkraft aufgeladen: im Internet, im Feuilleton, auf der Straße. Wenn die Bürgerin, der Student, die Konsumentin begreifen, dass die vertikale Komplizenschaft der Verantwortungsverweigerung, wo Volk und Regierung lediglich aufeinander deuten und verweisen, in die Katastrophe führen muss, dann muss die Bürgerin, der Student, die Konsumentin eben selbst Verantwortung übernehmen. Am besten als Teil einer globalen sozialen Bewegung, die sich horizontal organisiert – also eher innerhalb einer kulturell oder ökonomisch einigermaßen homogenen Schicht, jedoch über alle nationalen Grenzen hinweg. […] In dieser horizontalen Verantwortungsarchitektur wird Klimaschutz zur Weltbürgerbewegung auf der Grundlage eines kosmopolitischen Gesellschaftsvertrags für das 21. Jahrhundert. Das ist die letzte, aber auch die stärkste Hoffnung, die uns bleibt. Wir müssen uns die moralische Verantwortung für die Klimazukunft selbst zumuten, weil die Politik diese uns partout ersparen möchte!"

Diese Worte waren, 2015 erschienen, sicher nicht prophetisch insofern, als es dafür eines Gottes bedurft hätte (der der Autor ganz sicher nicht ist). Sie sind aber, mehrere Jahre vor Fridays for Future, einer "globalen sozialen Bewegung", erschienen, im allerbesten Sinne prognostisch!

Cover

In Kapitel 31 ("Wissenschaft, Gewissenschaft", S. 709 ff.) beschreibt der Autor zunächst, wie und unter welchen Bedingungen die Klimawissenschaftler (aber auch deren Gegenspieler, die Leugner) an die drei Forschungsfragen Was? Wie? und Wozu? herangehen, um dann nach einem eleganten Schlenker mit zwei Thesen und einer Prise Statistik in seinem aus nur zwei Akteuren (Wissenschaft und Politik) bestehenden Welttheater eine (ja, richtig gelesen) Klimaoper aufzuführen, in der zukünftig mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit genau vier Stücke aufgeführt werden könnten: Farce, Schande, Triumph und Tragödie. Letztere mit 81 Prozent Wahrscheinlichkeit am ehesten, weil zwar die Wissenschaft gute Arbeit geleistet, die Politik jedoch die Weichen "für die rechtzeitige Überwindung des fossil-nuklearen Systems" nicht gestellt hat. Übersehen werden sollte nicht, dass wir uns nicht in einer Oper befinden, sondern nach Verlassen des Theaters auf der wirklichen Weltbühne. Traurig, aber realistisch? "Vielleicht doch nicht …" (S. 719).

Die geneigte Leserschaft verzeihe mir, dass ich hier mehrere Seiten, die vor Gedankensprüngen sprühen, in wenige Zeilen kondensiert habe.

Das Buch schließt ab mit über 25 Seiten ausführlicher Bibliografie (inklusive nachverfolgbarer Quellennachweise), Personenregister, Orts- und Sachregister sowie Bildnachweis. Alles sehr akribisch und sauber lektoriert; überhaupt fallen kaum Druckfehler auf. Nur wäre statt "Kristallität" (S. 185) Kristallinität passender gewesen.

Fazit

Wahrlich ein Magnum Opus! Die Thematik ist außerordentlich komplex, was sich auch an den sehr häufigen (sowohl Rück- als auch Vor-) Querverweisen im Text ablesen lässt. Da den Überblick zu behalten war sicher nicht nur für den Autor eine Herausforderung, sondern ist es vor allem auch für die Leserschaft. Mir sind da aber keine Unstimmigkeiten aufgefallen.

Das Werk ist meines Erachtens ein absolutes Muss für alle, die sich in Sachen Klimawandel-Ursachen und -Folgen ein fundiertes Urteil bilden wollen.

Etwas irritierend fand ich nur zwei Punkte:

  • Dass sich der Autor eine Bewältigung der Krise in Verbindung von Glaube und Vernunft (S. 5 f.) vorstellen kann. Das mag Schellnhubers Beteiligung an Papst Franziskus' Enzyklika geschuldet sein, ist für mich aber schlicht unvorstellbar – irrationaler Glaube und rationale Vernunft sind meines Erachtens absolut inkompatibel.
  • Dass er für den Niedergang Roms zwar klimatische Faktoren geltend macht (S. 253 ff.), aber die Einführung des Katholizismus als nur mehr einzig erlaubte Staatsreligion im Jahr 380 (worauf binnen kurzer Zeit öffentliche Schulen und Bibliotheken geschlossen wurden und daraufhin ein auf Ausbildung angewiesener Staat notwendigerweise kollabieren musste!) mit keinem Wort erwähnt (Letzteres hat Rolf Bergmeier, zum Beispiel in "Machtkampf", besser herausgearbeitet; vergleiche auch "Dreikaiseredikt" und "Bücherverluste in der Spätantike" bei Wikipedia).

Ich hatte am 8. Januar 2020 hier im hpd einen Beitrag veröffentlicht, der wesentliche Aspekte des Buches (das ich erst einige Tage nach der Veröffentlichung erhielt) thematisiert. Speziell meine drei Szenarien treffen die vier Stücke der Schellnhuber-Klimaoper in frappierender Weise – was bei einer ähnlichen Analyse des Sachverhalts aber auch nicht verwundert ...

Hans Joachim Schellnhuber: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, Verlag C. Bertelsmann, München 2015 (3. Auflage), ISBN: 978-3-570-10262-6, 784 Seiten, 29,99 Euro

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